Nimm wahr, was du unter dem Winde versäumst

Autor:Margit Hanselmann
Erscheinungsjahr:2019
Verlag:Klaus Isele Editor


Vorgestellt von Mario Andreotti
Zu Margit Hanselmanns lyrischen Impressionen

Wenn die lyrische Postmoderne, von der man seit Anfang der 1980er Jahre spricht, unter anderem ein Spiel mit den verschiedensten Formen des Gedichts bedeutet, dann ist die Autorin Margit Hanselmann aus Schwäbisch Hall ohne Zweifel eine postmoderne Lyrikerin. Was diese Autorin in ihrem Gedichtband "Nimm wahr, was du unter dem Winde versäumst" für eine Vielfalt an lyrischen Formen und Themen vorlegt, ist beeindruckend: Da findet sich von gereimten Gedichten im Volksliedton über Sonettformen, epigrammatischen Gedichten und der Prosalyrik mit ihren freien Rhythmen bis hin zu Gedichtformen, die in die Nähe der hermetischen Lyrik weisen, fast alles. Selbst Gedichte, in denen die Autorin Zitate aus andern, bekannten Gedichten verwendet, in denen Sie also ein intertextuelles Spiel veranstaltet, fehlen nicht. Wir haben es hier beinahe mit einer Art Gesamtschau älterer und neuerer deutscher Gedichtformen zu tun.
Und nicht nur das. Margit Hanselmann meistert all diese Formen auf eine geradezu virtuose Weise. Sie beherrscht traditionelle Formen genauso wie moderne, reimt die Verse genauso, wie sie diese an anderer Stelle frei gestaltet, verwendet den Zeilenstil genauso gekonnt, wie sie sich im Gebrauch des seit Rainer Maria Rilke verbreiteten Enjambements auskennt. Dass diese Vielfalt an Formen kein Zufall ist, liegt auf der Hand: Abgesehen davon, dass die Autorin über eine profunde akademische Bildung verfügt, befasst sie sich seit Jahren mit den verschiedensten Gedichtformen, liest darüber Werke aus der Sekundärliteratur und besucht literarische Seminare. Auch in einer Schreibgruppe in ihrer Stadt hat sie mitgearbeitet und sich regelmässig mit eigenen Texten eingebracht.
Doch nicht nur die Formen sind vielfältig, ebenso vielfältig sind die Themen, die Margit Hanselmann in ihrem Lyrik­band aufgreift. Sie reichen von existentiellen Themen, die, wie etwa das Gedicht »Die Leichtigkeit des Seins«, an den Vanitas-Topos eines Andreas Gryphius erinnern, über Themen aus Natur, Heimat und Freundschaft, ja, selbst über »Märchenhaftes« in der Tradition der Grimm’schen Volksmärchen bis hin zur modernen Ideologie- und Gesellschaftskritik und zum Problem der Umweltzerstörung. Dabei werden verschiedene Konstanten sichtbar: so etwa die Idee einer letztlich gesichtslosen Welt, in der dem Menschen das »Woher« und das »Wohin«, fast im Sinne der Existenzphilosophie Martin Heideggers, verborgen bleiben; so etwa auch die Hinwendung zur Natur, wobei nicht die Natur als herkömm­licher Zufluchtsort vor dem Weltgetümmel gemeint ist, sondern vielmehr jene Natur, in der die Lyrikerin den bedroh­lichen Eingriff des Menschen registriert. Ein besonders eindrückliches epigrammatisches Gedicht, das die Bedrohung des tropischen Regenwaldes durch den Menschen mit ihren verheerenden Folgen für das gesamte Erdklima zum Thema hat, mag dies illustrieren. Das Gedicht mit den pointiert zugespitzten Zeilen und dem ironischen Unterton trägt den Titel »Globale Chance«:

Die Viren im tropischen Regenwald
tanzen Samba
zum Lärm
näher rückender Motoren

Sie wissen:
die Zukunft
liegt im Tourismus

Nicht zuletzt wird in einigen Gedichten auch die Sprache thematisiert: Neben der Huldigung an ihre verborgenen Tiefen, ihre ursprüngliche Bestimmung findet sich auch die Kritik an einer zu Floskeln reduzierten Sprache, in der die Worte ihre Bedeutung verlieren, wie das folgende, extrem verknappte Gedicht mit dem metaphorischen Titel »Rundgeschliffen« zeigt:

Gestern
hatte sein Stammeln
noch Hand und Fuß

Heute
kullert es
gliedmaßenlos

rundgeschliffen
von Floskel zu Floskel
ins Morgen

In der traditionellen Lyrik, etwa in Gedichten in der Tradi­tion von Klassik und Romantik, besitzt das lyrische Ich bekanntlich eine feste, dominierende Stellung. In der modernen Lyrik tritt dieses Ich hingegen zurück, teilt es sich häufig nur noch indirekt mit oder verschwindet im Sprechvorgang ganz, wie das in einer Reihe von Margit Hanselmanns Gedichten der Fall ist. Im Gedicht »Reiseempfehlung« beispielsweise, das in seiner Schönheit – man beachte die kunstvoll gestaltete Klimax der drei »Strophen« – an frühe Gedichte Ingeborg Bachmanns erinnert, spiegelt sich das lyrische Ich nur noch in der verdeckten Du-Anrede:

Kappe die Taue, nimm die Segel vom Wind,
das Ziel ist das Ende der Reise.

Verweile, nimm mehr auf
als flüchtige Farben von Himmel und Meer
im tränenden Auge.

Ankere, durchstreife die Küsten,
nimm wahr, was du unter dem Winde versäumst.

Schon seit der Romantik wird der Lyrik eine deutliche Affinität zur bildenden Kunst, zur Malerei, nachgesagt. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert, seit den Symbolisten und den Dadaisten, vor allem aber seit Rainer Maria Rilkes Begegnung mit den Gemälden Paul Cézannes treten Lyrik und Malerei zunehmend in eine Wechselbeziehung. Etwas von dieser Wechselbeziehung tritt auch im vorliegenden Lyrikband zutage, wenn sich die Autorin im sechsten der sieben Kapitel in ihren Gedichten unter anderem von Bildern bekannter Künstler, wie Max Beckmann, Anselm Kiefer und Max Ernst, inspirieren lässt. Ihr Lyrikband wird so gewissermaßen zu dem, was Gedichtbände seit Guillaume Apollinaires berühmter Rede »L’esprit nouveau et les poètes« aus dem Jahr 1917 grundsätzlich sein sollten: zu einer Synthese der Künste.
So zeigt sich denn in Margit Hanselmanns Lyrikband "Nimm wahr, was du unter dem Winde versäumst" der weite ly­rische Spannungsbogen dieser Autorin; der Band schließt im fünften Kapitel sogar Aphorismen zu Themen wie Liebe, Zeit und Endlichkeit mit ein, jene pointiert formulierten, geistreichen Äußerungen in Prosa, die im deutschsprachigen Raum eine lange, bis zu Georg Christoph Lichtenberg im 18. Jahrhundert zurückreichende Tradition hat. Bei all dem geht es Margit Hanselmann letztlich aber immer um die in aller Dichtung im Grunde zentrale Frage nach dem Menschen, um sein Selbstverständnis in einer Welt, in der nicht der Logiker, nicht der Metaphysiker, ja, nicht einmal der Dichter, sondern einzig der Menschenfreund das letzte Wort behalten darf.