Nie mehr schlafen

Autor:Willem Frederik Hermans
Erscheinungsjahr:2002
Genre:Roman
Verlag:Gustav Kiepenheuer Verlag


Gelesen von Katrin Züger
Alfred Issendorff reist von Amsterdam nach Oslo, zu Professor Nummedal, auf Empfehlung von Professor Sibbelee. Professor Nummedal, 84, fast blind, spricht viel, aber nicht das, was Alfred hören will. So viele gescheiterte Forschungsarbeiten, Lagerräume voller Sammlungen, um die sich niemand mehr kümmert, Theorien, die entstanden und wieder verschwanden wie Wildgänse und Schwalben. Ob er schon gebratene Lerchen gegessen habe? Schwärmt von Gravlaks (roher Lachs, der eine Zeitlang in der Erde vergraben wird), den es hier in einem Restaurant gebe. Die Niederlande, ein kleines Land, seit Jahrhunderten dicht bevölkert und mit einem wissenschaftlichen Standard, der zu den höchsten der Welt gehört. Aber ohne Berge, Hochebenen, Gletscher, Wasserfälle. Irgendwann werden die Niederländer auf die Idee kommen, die Sandkörner zu zählen, die so herumliegen. Wo bleibt die natürliche Vertrautheit mit den grossen Fragen und deren tiefe Durchdringung, wenn jemand in einem flachen Ländchen aus Schlamm und Lehm, ohne einen einzigen Berg, ausgebildet wird? Von den Luftaufnahmen, um derentwillen Alfred hier ist, weiss Nummedal nichts. Schickt ihn zum Geologischen Dienst in Trondheim.
Flötist wollte er werden, Berufsflötist in einem grossen Orchester. Doch er übte mit der falschen Flöte. Mit der neuen Flöte hätte er wieder von vorn beginnen müssen. Die schlagenden Argumente kamen von seiner Mutter: Ein Flötenspieler wird nie weltberühmt, er darf meist nur in einem grossen Orchester mitspielen, und selbst im günstigsten Fall tut er nie etwas anderes als nachspielen, was sich andere ausgedacht haben. Jetzt hört er im Radio, dass zum Flötespielen ein Luftstrom mit einer Geschwindigkeit von hundertfünfundzwanzig Stundenkilometer nötig ist. Nie ist er während der Jahre des Flötenspielens auf die Idee gekommen, dass die Luft mit einer bestimmten Geschwindigkeit durch eine Flöte strömt, geschweige denn, dass er sich gefragt hat, wie man diese Geschwindigkeit messen kann. Ein anderer ist auf die Idee gekommen, nicht er. Forschen heisst Messen.
Alfred macht es sich zur Gewohnheit, seine Schritte zu zählen. Und fängt an, Steine zu sammeln. Will Gelehrter werden. Möchte einen Meteoriten finden, den Stein der Weisen, ein Mineral, das nach ihm benannt wird. Issendorfit. Fliegt nach Trondheim. Der Geologische Dienst ist eine Baustelle, das meiste Material noch in Oslo, und Professor Hvalbiff (Walfisch), den Professor Nummedal avisieren wollte, ist nicht da. Trifft dafür Direktør Oftedahl, der auch gern redet. Sie finden Luftaufnahmen, dicht gedrängt in einer Schachtel, aber ohne Liste mit den Nummern, um die Aufnahmen Gegenden zuzuordnen. Alfred fliegt ohne Luftaufnahmen nach Tromsø, von dort weiter nach Alta. Bei der Ankunft die ersten Mücken, setzen sich auf Stirn, Nase und Hände, krabbeln über Wangen, Augenlider, Lippen. Was für eine Schöpfung, die so eingerichtet ist, dass Milliarden Lebewesen nur existieren können, wenn sie das Blut anderer Lebewesen saugen. Begegnung mit Arne. Kaufen Leinenhüte mit Moskitonetz und Anti-Mücken-Spray. Fahren mit dem Bus. Die Strasse ist festgewalzte Erde. Jeder Strassenbelag würde im Winter vom Frost zerstört. Notieren sich interessante Gegebenheiten des Geländes, Hügel, Seen, Stromschnellen, Schluchten.
Was er eigentlich genau erforschen wolle, fragt Arne abends im Zelt bei Knäckebrot, Margarine und Hackfleisch aus der Dose. Meteoritenkrater, sagt Alfred, nach einem neueren Erklärungsansatz könnte es in der Gegend solche geben. Arne glaubt nicht daran. Das Gebiet bestehe aus Material, vom Eis der Eiszeit hertransportiert. Als das Klima milder wurde und das Eis grösstenteils schmolz, war das hier ein Brei aus Steinen, Sand und Lehm, in dem mitunter ein Eisbrocken zurückblieb. Später schmolzen auch diese Brocken, und an den Stellen gibt es heute Löcher, meist mit Wasser gefüllt. Alfred will alles daransetzen, zu beweisen, dass einige dieser Löcher Meteoritenkrater sind.
Es ist heiss im Zelt. Alfred kann nicht schlafen. Das ewige Licht. Nie wird es richtig dunkel. Am Morgen treffen sie Qvigstad und Mikkelsen. Ziehen in brütender Hitze, bei wolkenlosem Himmel, in diesiger Luft die Strasse entlang. Über den Fluss, lassen die letzten Bäume hinter sich, wo nichts wächst ausser Krähenbeeren, kniehohen Polarweiden und Zwergbirken, die nicht höher als Heidekraut sind, aber sonst wie richtige Birken aussehen. Der Rucksack ist schwer. Alfred folgt tief gebückt den anderen, sinkt bis zu den Knöcheln im Schlamm ein, Fotoapparat und Kartentasche, um den Hals gehängt. Sieht die Landschaft wegen des Moskitonetzes durch einen grünen Nebelschleier. Die Schläfen schwellen an, hämmernder Kopfschmerz breitet sich aus. Fünfundzwanzig Kilometer an einem Tag. Jeder Schritt ist wie der letzte, zu dem er noch fähig ist. Mehr Flüsse, Tümpel, Sumpf, Torfmoos, Steine, Polarweiden, Zwergbirken, manchmal ein Knochen. Mücken und Fliegen regnen wie Hagelkörner auf den Hut. Setzen weiter einen Fuss vor den anderen, Schritt für Schritt. Ist das nicht ein Wunder? Ein einziger Schritt, und der Abstand zum Gipfel ist schon wieder kürzer geworden. Eine einfache Handlung. Kaum schwieriger als stehenbleiben. Alfred denkt an die Menschen der Megalithkultur, die für ein Hünengrab fünftausend Kilo schwere Steine ohne Pferde, Flaschenzüge oder Räder über die Heide gewälzt haben. Alles ist zu schaffen für den, der nicht auf die Zeit achtet, der an seine Enkel und an die Enkel seiner Enkel denkt, für den, der glaubt, dass die Menschheit eine Aufgabe hat, die Errichtung eines Hünengrabs. Kathedralen zu bauen dauerte noch viel länger und war auch zu nichts gut. Aber ist es nicht zum Heulen, dass niemand weiss, wie die Männer hiessen, die die Steine an ihren Ort schleppten? Oder die Kathedralen bauten? Niemand wird es jemals herausfinden. Die Kopfschmerzen sind weg, weil er nicht mehr daran denkt.
Wieder ein Fluss, ein breiter, braust wie ein Wasserfall. Alfred steht im Schlamm und weiss nicht weiter. Arne hilft ihm. Sind nun von Bergen umschlossen. Der Boden federt nicht mehr unter den Schritten. Morast, Polarweiden, Zwergbirken. Dann keine Zwergbirken mehr, nur noch Stein. Der Hang scheint kein Ende zu nehmen. Arne hilft ihm noch einmal, als er ins Wasser rutscht, sich die Knie blutig schlägt. Gibt ihm trockene Socken, weil er sich sonst die Füsse wund läuft. Die anderen haben schon Dutzende solcher Touren unternommen, für Alfred ist es die erste. Nicht, dass er aufgeben will. Trotzdem geht ihm durch den Kopf, dass zwischen den Strapazen, die er auf sich nehmen muss, und der wissenschaftlichen Arbeit ein gewaltiges Missverhältnis besteht. Aber wenn die Dissertation fertig ist, werden wundgeriebene Schultern, aufgeschürfte Knie, hämmernde Kopfschmerzen, Stechmücken und fleischfressende Fliegen kein Thema mehr sein.
Regen. Das Zelt ist undicht. Das Wasser bildet Pfützen in den Mulden der Plastikbahnen, auf denen sie liegen. Eigentlich nicht weiter tragisch: ein bisschen Wasser. Aber in der Gebrauchsanweisung des Daunenschlafsacks steht, er dürfe unter keinen Umständen mit Wasser in Berührung kommen. Alfred rollt ihn zusammen, hockt sich in eine Ecke des Zelts. Kaltes Wasser rinnt ihm über den Rücken. Auch in den Stiefeln und Schuhen steht das Wasser. Zusammen stopfen sie alles, was nicht nass werden darf, in die Rucksäcke, ziehen sich an und legen sich im Regenmantel wieder hin. Das Geprassel des Regens deckt sie zu. Arne ist sparsam, um das Schicksal zu erweichen. Fühlt sich schlecht mit allem, was Geld gekostet hat. Gönnt sich nichts. Glaubt, dass wenn er auf mehr Dinge verzichte als andere Menschen, er irgendwann einmal etwas Grosses erreichen werde. Von daher das löchrige Zelt. Arne entschuldigt sich. Er hätte längst ein neues kaufen sollen. Aber glaub mir, mit einem neuen Zelt loszuziehen und dann nicht mit einer bahnbrechenden Entdeckung zurückzukommen, das könnte ich nicht ertragen. In der Nacht kühlt es ab, bis fast auf den Nullpunkt.
Weiter im Regen. Durchs kalte Wasser. Ebenes Gelände. Die oberste Schicht besteht aus gelben Stücken eines schiefrigen, vermutlich präkambrischen Sedimentgesteins. Der Laie, der nicht weiss, was das ist, kann es ja nachschlagen oder muss es einfach zur Kenntnis nehmen. Eine der Ursachen dafür, dass die meisten Bücher immer von den gleichen Dingen handeln, ist das fürsorgliche Bemühen der Autoren, so zu schreiben, dass jeder es verstehen kann. Fachausdrücke sind verpönt. Ganze Kategorien von Tätigkeiten und Berufen wurden noch nie in einem Roman beschrieben, weil es ohne Fachausdrücke unmöglich wäre, sich der Wirklichkeit anzunähern. Von anderen Berufen – Polizist, Arzt, Cowboy, Seemann, Spion – existieren nur Karikaturen, die den Wahnvorstellungen der Laien entsprechen, für die diese Lektüre bestimmt ist.
Alfred sieht Mikkelsen, wie er durch das Stereoskop etwas betrachtet. Luftaufnahmen! Hat sie von Nummedal erhalten, von Hvalbiff ausgeliehen. Ist Alfred Opfer einer Verschwörung? Möchte Mikkelsen das Gesicht eintreten und weiss, dass er es nicht tun wird. Mikkelsen überlässt ihm die Bilder. Doch sie helfen nicht weiter. Enthalten nichts, was auf eine aussergewöhnliche Entdeckung hoffen liesse. Plötzlich grosses Misstrauen. Warum hat Sibbelee ihn gehen lassen? Hat es etwas mit der Feindschaft zwischen ihm und Nummedal zu tun? Er lässt den Blick über den spiegelglatten See schweifen, über die Berghänge, auf denen sich nichts bewegt. Hier waren so gut wie nie Menschen. Irgend etwas muss doch zu finden sein. Etwas, das noch keiner zuvor gefunden hat. Es gibt so wenig Orte auf der Welt, wo noch nie ein Mensch war.
Qvigstad und Mikkelsen brechen früh auf, als Alfred noch schläft, Richtung Norden, ohne sich zu verabschieden. Warum hatten sie es so eilig? Ist Mikkelsen auf der richtigen Spur und steht vor einer bedeutenden Entdeckung? Hat er auf den Luftaufnahmen etwas entdeckt, was ihm entgangen ist? Der Gedanke quält ihn wie ein Geschwür. Mit Arne geht er südwärts. Gelangen zu einer furchterregenden Schlucht. Schmale Bäche schlängeln sich in der Tiefe über hellgrünen Boden, ziellos, wie zufällig hingekleckert, glitzernd wie flüssiger Stahl. Wieder wird alles nass, die Kleider, die Karten, das Notizbuch, die Kamera, die Zigaretten, die Streichhölzer, das Knäckebrot, der Schlafsack sowieso, Alfred ist in den Morast geraten. Uneinig über den weiteren Weg, geht er in die Richtung, in die er glaubt, gehen zu müssen, Arne wird schon nachkommen. Aber Arne kommt nicht. Arne hatte recht. Alfred verliert den Kompass, die Uhr bleibt stehen, er kehrt um, versucht die Schlucht wieder zu finden. Fühlt sich jetzt, wo er allein ist, plötzlich sehr euphorisch, trotz der Missgeschicke, kann sich aufs Neue einreden, dass eine verblüffende Entdeckung die ganze Schinderei rechtfertigen wird, hat das Gefühl, dass ihm heute alles gelingen wird. Sogar die Wolken lassen sich von seinem Eifer beeindrucken und verziehen sich. Besteigt einen Berg, gelangt ins Reich der Wolken, die grossen, runden Steine sind mit weissem Raureif überzogen. Nichts zu sehen ausser weissen Schwaden und einem Polarfuchs.
Steigt im Nebel ab zum See, nimmt ein Bad, nachdem er ganz unerwartet ein Stück Seife aus den Tiefen des Rucksacks ans mitternächtliche Sonnenlicht befördert hat. Die Mücken finden ihn danach umso appetitlicher. Dann fängt er auch noch Forellen im Netz. Findet den Weg zurück zur Schlucht, ohne Kompass, dank seiner Fähigkeit, die Schritte zu zählen. Findet Arne. Sieht aus wie schlafend, aber er schläft nicht, schläft nie mehr. Arne ist tot. Abgestürzt. Sein Freund. All die schönen Zeichnungen umsonst gemacht. Alfred deckt ihn mit dem Zelt zu, geht weiter, mit Arnes Notizbuch. Die Euphorie ist weg. Seit zwei Tagen regnet es ununterbrochen. Womit kehrt er zurück? Keine Entdeckung. Nur mit der Nachricht, dass jemand bei einem Sturz ums Leben gekommen ist. In Ravnastua gibt es Essen und ein Bett, vierundzwanzig Stunden schlafen. Arne wird mit dem Helikopter gesucht.
Aus dem Jahr 1966 stammt der Roman, war jahrelang mit einem Übersetzungsverbot seitens des Autors belegt, ist 1982 zum ersten Mal und 2002 als Neuübersetzung auf Deutsch erschienen. Eine Besprechung in der "Neuen Zürcher Zeitung" muss meinen Mitbewohner bewogen haben, es zu kaufen, denn die Zeitungsseite steckt vierfach zusammengefaltet als Buchzeichen im Buch.