Und unsere Gesichter, mein Herz, vergänglich wie Fotos

Autor:John Berger
Erscheinungsjahr:1986
Genre:Roman
Verlag:Hanser Verlag


Gelesen von Katrin Züger
Ergreifender Einstieg. Herzbewegend die Geschichte vom Hasen. Wenn die Hetzjagd nicht wäre. Der Hase läuft um sein Leben. Auf zweitausend Meter Höhe, an einer Grenzstation in den Bergen. Grenzwächter versäumen ihre Pflicht, wegen eines ausgehungerten Hasen, dem sie hinterherlaufen. Was dem Erzähler zugute kommt, der jetzt unbehelligt die Grenze überqueren kann. Man hofft, dass sie den Hasen nicht erwischen. Oder die Geschichte vom Glühwürmchen. Auf einem nächtlichen Spaziergang auf dem Land zwischen Grashalmen gefunden, ein einzelnes Glühwürmchen, das sein ambragrünes Licht verströmt. «Ich nahm es hoch und trug es auf dem Finger, wo es glühte wie ein elektrischer Opal an einem Ring. Als ich mich dem Haus näherte, war die Konkurrenz der anderen Lichter zu stark, und es machte seins aus.» Sie geht noch weiter, die Geschichte, man lese selbst. Von einem Kätzchen ist zudem die Rede, weiss, zu einer Küche gehörend, kommt aus den weissen Wänden hervor und verschwindet wieder dorthin.
Vernachlässigte Birnbäume, auf einer Anhöhe, wo gerade Heu gerecht wird, zwei vollbelaubt, einer blattlos und tot. Dahinter blauer Himmel mit grossen weissen Wolken. Nord- und Südwinde, die sich ins Gehege kommen. Ein Fleckchen Erde, bisher unauffällig, nimmt plötzlich Gestalt an, fängt den Blick. Das Gefühl, beobachtet zu werden. Der Blick wird schärfer, die Landschaft verändert sich, alles verschiebt sich, die Birnbäume, die Anhöhe, die andere Seite des Tals, die Wälder, die Berge, die abgeernteten Felder, die Millionen Bäume. Die Natur als Geburtshelferin von ich weiss nicht was – metaphysischer Erweckung, universeller Erkenntnis, weltumspannenden Gefühlen? «Liebesverschmelzung» nennt es der Autor, im Nachhinein, im Gedenken an die Geliebte. Der Birnbaum kommt später wieder, im Zusammenhang mit Vincent van Gogh: «Wenn er einen in Blüte stehenden kleinen Birnbaum malte, dann waren ihm der Akt des steigenden Safts, der sich bildenden Knospe, der aufbrechenden Blüte, der hervorbrechenden Blattspitzen, der klebrig werdenden Wunden, all diese Vorgänge waren ihm beim Akt des Malens gegenwärtig.»
Bäume bieten Gesellschaft räumlicher Art. Lange bevor die menschliche Sprache anfing, die Welt zu benennen, boten sie sich als Masse an – der Entfernung, der Höhe, des Durchmessers, des Raums –, sie waren ja höher als sonst etwas Lebendiges. Und dann werden sie gefällt. Die plötzliche Reglosigkeit eines gefällten Baums ruft Erinnerungen ans eigene Ende wach. «Die Stille, nachdem ein gefällter Baum gefallen ist, ist wie die Stille unmittelbar nach einem Tod.» Das ficht niemanden an, denn der Augenblick ist kurz, weil sogleich Arbeit und Erschöpfung überhandnehmen, die Routineaufgabe des Baumschälens.
Von Bienen ist kurz die Rede, in einem einzigen Satz, doch geht es nicht um ihr Leben, sondern um ihr «Gehaltenwerden».
Dann ist da noch der Flieder, der im Frühling im Bergland zusammen mit dem Kuckuck seinen Auftritt hat, der eine blühend, der andere singend. Ein Zweig wird abgebrochen, in eine Vase gesteckt, steht auf der Fensterbank, noch blasslila blühend. Sieht im schwindenden Licht aus wie ein ferner Hügel voller blühender Bäume, der in die Abenddämmerung eintaucht, im Verschwinden begriffen. Natürlich, ohne Verbindung zum Stamm und zu den Wurzeln ist er ohne Zukunft. Flieder, eine slawische Blume, im 16. Jahrhundert aus Osteuropa in den Westen gelangt. Warum lässt man sie nicht weiterblühen?
Nach Hase, Glühwürmchen, Kätzchen, Birnbäumen und Flieder bleibe ich an den Highlands hängen. Berührende Landschaft. «Die Katen der Kleinpächter ducken sich nieder wie Tiere, die zur Nacht am Boden Schutz suchen. Alles ist in Bewegung, die Lärchen, die Adlerfarne, die kaledonischen Fichten, das Heidekraut, der Wacholder, das Gras. Und dann, landeinwärts, Wasser: die Flüsse, die ins Meer fliessen, das Meer mit seinen Gezeiten, das Seen füllt. Und übers Land wie übers Wasser hinweg der Wind. Und vor allem der Nordwestwind. Das Geschrei der Wildgänse am Himmel ist wie ein flüchtiges Mass dieser ganzen Bewegtheit, ein Zählen in einer anderen Algebra.» Ich denke an die Schneegänse, denen ich im Herbst in Kanada begegnet bin, auf ihrer Reise vom arktischen Norden in den milderen Süden an der Chesapeake Bay, kleiner Zwischenhalt zur Stärkung, dank nahrhaften Rohrkolbenschilfs, das an den Ufern des Sankt-Lorenz-Stroms üppig zur Verfügung steht. Schneeweiss sind sie, stehen auf einer Sandbank, blicken in die Weite, wandern herum, picken etwas aus dem Untergrund, fliegen auf, zuerst eine, dann weitere, fliegen im Formationsflug ein Stück, als würden sie üben für die lange Reise, kehren wieder zurück und suchen sich flatternd ihr Plätzchen auf der dicht gedrängten Landzunge.
Doch die Highlands sind nicht nur romantisch. Menschen kommen ins Spiel. «Die Highlands beklagen diejenigen, die verschwunden sind, besonders die, die gezwungenermassen verschwanden.» Heimat. Ursprünglich der Mittelpunkt der Welt. Noch nie sind so viele Menschen entwurzelt worden wie heute. Emigration, erzwungene oder gewählte, über nationale Grenzen hinweg oder vom Dorf zur Stadt – die fundamentale Erfahrung unserer Zeit. «Dass die Industrialisierung und der Kapitalismus einen solchen Transport von Menschen in nie gekanntem Ausmass und mit einer neuen Art von Gewalt erforderlich machen würden, war schon durch die Eröffnung des Sklavenhandels im 16. Jahrhundert prophezeit worden.» Was die Sache nicht besser macht.
Auch sonst viel Bedeutungsschweres, Tiefgründiges, Komplexes. Keine Hasen und Glühwürmchen mehr, die die natürliche Freiheit geniessen. Grosse Themen, Zeit und Raum, Einst und Hier, Liebe und Kunst. Wie passen Hase und Glühwürmchen dazu? Der Mensch tritt auf, begibt sich ins Zentrum der Betrachtungen, denn der Mensch hat dem Tier etwas voraus – das Ereignis seines Bewusstseins, neben dem Ereignis seines biologischen Organismus, das auch dem Tier eigen ist, das aus diesem Mangel heraus keine philosophischen Probleme kennt. Gut oder schlecht? Es geht um Arbeiter, Gewerkschafter, Revolutionäre, Folterung, Verschleppung, Tod. Wie entledigt man sich unschöner Bilder? Indem man ein Tuch über das Bild hängt, das Hässliche durch das Idyllische ersetzt – Hase und Glühwürmchen zum Beispiel.