Krieg im Frieden

Vor dem Menetekel an der Wand



Von Peter Frömmig
Die wirtschaftliche und strategische Expansion der Europäischen Union, was vor allem die Nato-Osterweiterung betrifft, wurde zu einer Herausforderung für den russischen Präsidenten Wladimir Putin. Der Ukraine-Konflikt, längst ein Territorialkrieg, hängt damit zusammen. Der Kalte Krieg schien überwunden. Aber nach der Annexion der Krim und weiterer imperialer Ambitionen ist Russland kein strategischer Partner der europäischen Gemeinschaft mehr, droht eine neue Ost-West-Spaltung, ein neuer Kalter Krieg. Zwischen dem einstigen Reformer und Hoffnungsträger Michail Gorbatschow und dem Autokraten Wladimir Putin, der das große Land bei allen Konflikten mit harter Hand und um jeden Preis zusammenzuhalten versucht, liegen Welten.
Die Zeiten haben sich mal wieder unübersehbar geändert, und der globale Wandel geht an keinem schadlos vorüber. Durch die aktuelle weltpolitische Entwicklung wird auch Deutschland, führende Wirtschaftsmacht und lange ein Hort des Wohlstands und der Sicherheit, von ihren Partnern zunehmend in die Pflicht genommen werden, sich militärisch an Konfliktlösungen zu beteiligen. Und mit den zunehmenden großen Flüchtlingsströmen, ausgelöst durch Not und Hunger, Krieg und Terror, ist es nicht mehr möglich, den Blick abzuwenden.
Lange hallte bei uns in der Nachkriegszeit der Ruf „Nie wieder Krieg!“durch das kollektive Gewissen. Vor dem Hintergrund des vergangenen Desasters hat bei der Bewaffnung der Bundeswehr die öffentliche Diskussion eine große Rolle gespielt. Die Deutschen hatten Lehren aus ihrer unheilvollen Geschichte gezogen. Pazifistische Forderungen und Kriegsdienstverweigerung wurden in unserer ersten Länderverfassung festgeschrieben. Heinrich Böll bertrat Anfang der 1980er Jahre noch die Auffassung, selbst ein Verteidigungsminister müsse ein Pazifist sein, das Grundgesetz verpflichte ihn dazu. Das Recht, aus Gewissensgründen den Wehrdienst zu verweigern, wurde ins Grundgesetz aufgenommen. Die Friedensbewegung wurde zu einer großen öffentlichen Kraft, die sich zunächst gegen Remilitarisierung, dann gegen die atomare Bewaffnung richtet. Mit der Forderung, Atomenergie nur für zivile Zwecke zu nutzen entstand die breite Bewegung der Ostermärsche. Es kam zu Streiks, Boykotts, zivilem Ungehorsam, Sitzblockaden. Das Ausmaß eines solchen Widerstandes ist zwar heute kaum mehr denkbar, doch ist ein Großteil unserer Bevölkerung allem Militärischen gegenüber skeptisch geblieben.
Angesichts der derzeit verheerenden Kriege, tagtäglichen Verletzungen des Menschenrechts, der Unüberschaubarkeit der Konflikte und Kampfhandlungen, ist es für Pazifisten schwerer geworden, sich zu positionieren. Die Bundeswehr blieb lange verschont von Auslandseinsätzen. Erst nachdem Deutschland wieder vereint war, kam es durch die Beteiligung am Nato-Krieg gegen Jugoslawien, gegen das Völkerrecht und ohne UN-Mandat geführt: ein erster Sündenfall der Bundeswehr. Was diese Schwellenüberschreitung bedeutete, ist inzwischen klar. Bei aller humanitärer Begründung, Leib und Leben von Menschen zu schützen, Vertreibungen zu verhindern, Ursachen der Flüchtlichtbewegungen zu bekämpfen, kann ein Krieg nie ein „guter Krieg“ sein, das gehört zu seinem Wesen. Keine Seite bleibt in einem Krieg ohne Schuld, so ist es seit Menschengedenken. „Wer das Schwert nimmt, wird durch das Schwert umkommen“, lautet ein Bibelwort (Matthäus 26,52).
Die Verteidigungsstrategie des NATO-Bündnisses im Kalten Krieg stellte sich auf eine etwaige massive Vergeltung ein und machte in der Konsequenz einen deutschen Beitrag zur Verteidigung des Westens unumgänglich. Obwohl die Bundesrepublik auf Herstellung und Besitz atomarer, chemischer und biologischer Waffen verzichtete, erhielt die Bundeswehr auf Drängen der NATO-Partner Trägersysteme für Atomsprengkörper. Aus strategischer Sicht schien dies zum Erhalt des Friedens absolut notwendig. Und so lebte man in einem mit Waffen gespickten Mitteleuropa in einem relativen Gleichgewicht der Kräfte und relativer Stabilität, bis diese „Weltordnung der Blöcke“ sich auflöste. Danach wurde die deutsche Sicherheitspolitik immer mehr darauf ausgerichtet, Bedrohungen gleich dort zu bekämpfen, wo sie entstehen. Grundlage hierfür wurde das Konzept der vernetzten Sicherheit. Militärische und zivile Mittel sollten Hand in Hand gehen, weiterhin für Frieden und Sicherheit sorgen. Als es dann hieß, unsere Demokratie müsse schon am Hindukusch verteidigt werden, wurden stärkere Zweifel wach, die sich bald als begründet erwiesen.
Spätestens mit dem Afghanistaneinsatz begann ein neuer Abschnitt für deutsche Truppenverbände. Einmal so weit vorgedrungen, führte kein Weg mehr zurück. Immer häufiger folgten verstärkte Auslandseinsätzen. Aufrüstung erhielt wieder eine Begründung. Dass die Mehrheit der Deutschen bis dato laut Statistik gegen Kriegseinsätze ist, dass das Unbehagen darüber sogar wächst, ändert nichts daran. Die Verpflichtung gegenüber den Bündnispartern der NATO und immer mehr schwelende und ausufernde Kriegsherde machen häufigere Auslandseinsätze unumgänglich. Wie das International Institute for Strategic Studies vor Jahren bekannt gab, von einundvierzig Konflikten gesprochen wurde, steigert sich die Zahl, in immer kürzeren Abständen zunehmend. Siehe Ukraine, Syrien, Irak, Jemen, Lybien, Nigeria und so weiter, und so fort.
Die UNO erscheint immer machtloser, seit Gründung der Vereinten Nationen sind es die schwersten Prüfungen für die Blauhelme ihrer Friedenstruppen, der kaum noch Chancen bleiben, zur Schlichtung von Konflikten beizutragen oder Kriegsausbrüche zu verhindern. Zusehends scheint die Welt aus den Fugen zu geraten. Völlig gesetzlose Kriege gegen Zivilbevölkerungen, ethnische und religiöse Minderheiten, mit unfassbarer Brutalität und Grausamkeit geführt, nehmen zu. Tagtäglich huschen Schreckensbilder von Kriegsschauplätzen über die Bildschirme. Tod, Schrecken und Zerstörung bleiben auch wegen ihres gezeigten Ausmaßes, unfasslich. Dazu kommt die Geschwindigkeit der Berichterstattungen von wechselnden Krisenherden, unüberschaubaren Ereignissen.
Der Philosoph Rüdiger Safranski sieht „tiefgreifende Veränderung unserer gesamten Lebenssituation“ durch die Auswirkungen der digitalen Revolution. „Dass man fast ständig in Echtzeit in das, was weltweit geschieht, hineingezogen wird, ist menschheitsgeschichtlich neu.“ Bis vor hundert Jahren habe jede Region wie unter einer eigenen Zeitglocke gelebt. Denn: „Was in raumfernen Orte vor sich ging, war, wenn man es erfuhr, immer schon Vergangenheit.“ Erstmals erleben wir durch die elektronische Vermittlung ein derartiges Übermaß an Gewalt und Elend. Positiv sei lediglich, so Safranski, dass dadurch Menschenrechtsverletzungen angeprangert werden könnten. Aber „diese riesige soziale Reizmenge“ könne kaum mehr angemessen verarbeitet werden. Unsere Welt würde zwar durch „Wahrnehmungsprothesen wie Fernsehen und Internet“ vergrößert, doch unser realer Handlungsteil bleibe gleich. Das sei auch ein Grund für die Zunahme von Stresskrankheiten. Zu vieles rausche durch uns hindurch - wenn wir es zulassen. Daher sei es unerlässlich geworden, „eine Art kulturelles Immunsystem“ zu entwickeln.
Erich Fried ließ mit seinem Gedicht „Im Verteidigungsfall“ mit einfachen Mitteln keinerlei Illusionen aufgekommen. Er fragte: „ Was werden / die letzten Worte / der Völker sein? // ‚Ihr seid schuld gewesen’ / ‚Nein, ihr’ / ‚Nein, nur ihr allein’“. Was an einen Sandkastenstreit zwischen Kleinkindern denken lässt. Die politischen und religiösen Führer müssten doch angesichts der Lage - und verschärft durch die derzeitige Pandemie, die weltweit für die Menschen zu einer Bedrohung geworden ist -, endlich zu der Einsicht kommen, dass der ganze Schlamassel nur gemeinsam zu lösen ist. Wenn die Pest im Anmarsch ist und um sich greift, bleibt keine Zeit mehr zur Ursachenforschung, muss gehandelt werden.
Der Astronaut John Bohrman blickte aus dem Weltraum auf unseren schönen blauen Planeten hinab, sah alle Unterschiede verschwimmen und fragte sich: „Warum können wir, zum Teufel noch mal, nicht lernen, wie anständige Menschen zusammenzuleben!“