Über Jan Wagners »Etüden«



Von Martha Götz
„Es ist immer wieder ein Wunder, wie es diesem Lyriker gelingt, Bilder zu schaffen, die in einem Halbvers Stimmungen heraufbeschwören – bis längst Vergessenes oder nie Gesehenes plastisch vor Augen stehen“, so der Hanser Verlag über den Gedichtband „Regentonnenvariationen“. Jan Wagner nähme das Objekt, das Thema „ins poetische Visier, zoomt ganz nah ran, überblendet assioziativ, bis der Blick sich weitet und sich das beglückende Gefühl einstellt, für einen Augenblick zum Wesen der Dinge vorgedrungen zu sein“.
Ja, so ist es – und diese dichterische Technik beherrscht Jan Wagner traumwandlerisch; auch nach dem x-ten Lesen seiner Gedichte können wir sie noch genießen und Neues darin entdecken. Doch wie genau gelingt ihm das? Exemplarisch soll das am Gedicht „die etüden“ gezeigt werden.
Beim ersten flüchtigen Anlesen oder Überfliegen des ausschließlich in Kleinschrift geschriebenen Gedichts registrieren wir sogleich, dass er mit Begriffen aus dem Themenbereich Musik spielt: tastatur, etüde, partitur, tonleitern, akkorde, takt, metronom… und sie mit bestimmten anderen Begriffen und Zusammenhängen verknüpft, sozusagen verkettelt, indem er z.B. ein Adjektiv aus dem einen Sachbereich mit einem Substantiv aus dem anderen zusammenstellt: Musik und Zähne: die gebleckte tastatur oder mit vokalveränderten Wortbruchstücken zu Bildern macht, z.B. aus dem Verb klapper(n) wird klepper(n): die falben klepper- / zähne, unser Gehirn ergänzt den Rest, so wird die Tastatur zu Zähnen…
Mit wenigen Worten eines lyrischen Ichs findet eine Art Beschreibung durch stellvertretende Bilder vorrangig in Wortkombinationen statt, der Umgebung, des Zimmers, des Hauseingangs, des Klaviers und seinen Utensilien und auch der Lehrerin. Darin evoziert der Autor die Stimmung des Klavierunterrichts bei einer wohl etwas älteren Musikpädagogin in ihrem altmodisch eingerichteten Zimmer – und lässt die Bilder so stark werden, dass es für all diese Art Unterricht präsent und stellvertretend wirkt. Eine ehemalige Konzertpianistin, vielleicht eine, deren Karriere nicht wirklich erfolgreich war, eine vielleicht gescheiterte, ist jedenfalls in der Evokation untrennbar mit ihrem Klavier verbunden (zähne – tastatur), die für Klavierschüler aufbereiteten Musikstücke mit dem Titel „boogie woogie für anfänger“ beschwören schon die Unlust des Schülers auf das Notenbuch herauf…
Die Einrichtung des Zimmers mit Pendeluhr, Fotos an der Wand, die lampe tee auf dem tisch lässt uns das Mobiliar, Geschirr und Gegenstände vorstellen als immer da stehend, als ins Verstaubt-Abgestanden-Abgehalfterte herunter gezogen – oder geadelt: das metronom in seinem eichensarg, aus dem ein dürrer totenfinger kam: totlangweilig, aber auch bedrohlich. Die Lehrerin respektiert, geachtet, aber auch pejorativ dargestellt, wird gleich zu Beginn direkt angesprochen: vergeben sie mir, maestra, aber / ich haßte sie und ihr klavier, über bis sie, madame, erschienen, / perfekt und streng wie eine fuge / auf mich hinuntersahen, sich erbarm- / ten und mir öffneten, wie auch in weiteren Strophen, versöhnlicher: wie gut ich heute ihre ungeduld / verstehen kann in dem sie etwas hören konnten, was ich nicht verstand. In der Mitte des Gedichts findet ein „Szenenwechsel“ (vgl. Heinz Schlaffer s. u. S.127) statt: Der Schatten des Klavierunterrichts und der Lehrerin verfolgt den ehemaligen Schüler bis heute ins Erwachsenensein: im gespenst / ihres parfums, schwer wie ein letzter akt, stellvertretend für das leidige, mühsame Üben-Müssen dieser unerbittliche takt (Takt der Musik, Takt des wöchentlichen Unterrichts).
Außer in der letzten Strophe wird im Gedicht Vergangenheitsform verwendet. Doch in dieser heißt es: ich verwechsle / noch immer schubert und schumann. Das suggeriert, dass der Ich-Autor offensichtlich doch noch Klavier spielt, was als Versöhnung mit dem jahrelangen Klavierunterricht interpretiert werden könnte, den er als Kind über sich hat ergehen lassen müssen, aber auch implizit dessen zumindest teilweise Erfolglosigkeit, in dem das Fehlen von Begeisterung, Begabung und Virtuosität suggeriert wird. Diese Ambivalenz mündet hier in das Ergebnis im Heute, zieht sich aber bereits von der ersten Strophe bis zur letzten hin.
Das Gedicht ruft mit seinen einzigartigen so nachvollziehbaren Bildern durch den Blick eines Kindes die kindliche Wahrnehmung hervor, die sich Jan Wagner offensichtlich bewahren konnte. Der Blick ‚von unten‘ während zäh sich hinziehender Zeit, der Blick der kindlichen Fantasie mit ihren Wesen, Bedrohlichkeiten, Ungeheuern, hier besonders im Figurativen: so wird der Metronom-Pendel-Zeiger zum dürren totenfinger. So wird das Klavier zum ungetüm. Kindliche Assoziationen, Assoziationsketten… (das licht (…) zu bündeln schien, zu schwimmen (…) brunnenschacht des hausflurs (…) schwarzlackiertes ungetüm (…) metronoms mit seinem eichensarg, / aus dem ein dürrer totenfinger kam), es verschwimmen Lampe und Tee in der ewig gleichen langweiligen Ansicht zur schimmern- / de lampe tee
Musikunterricht – so war er. Weil wir keine Lust hatten auf die immer gleichen Einzelstunden, standen wir zögernd vor dem Haus, an dem der efeu seine partitur / bis über alle rinnen wuchern ließ, atmeten die typischen Gerüche an den teppichdumpfen mittwochnachmittagen in den Wohnzimmern der ältlichen Musiklehrerinnen. –
Unklar ist nur, warum er an manchen Stellen, genau vier Mal im gesamten Gedicht (Strophe 1, letzter Vers, Strophe 4, 2. Vers, Strophe 8, Vers 1 und 2), Zeilenumbrüche mitten in Worten (mit Bindestrich) vorgenommen hat. Auch nach häufigem Lesen wird der Grund dafür nicht einsichtig. Heutige Gedichte können „erfolgreicher“ sein durch Regelverstöße, so Heinz Schlaffer (in „Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik“, Stuttgart 2015; S. 188). Er zeigt anhand eines Brecht’schen Gedichts auf: „Fände man diesen Text, ohne Einteilung in Verszeilen, in Brechts Tagebüchern, so würde man ihn als Mitteilung (…) des Autors nehmen. Doch das Gedicht mit eben diesem (…) Wortlaut löst bei den meisten Lesern das Bedürfnis aus, den Sachverhalt metaphorisch zu verstehen und hinter dem trivialen Vorgang einen tieferen Sinn zu entdecken“ (S. 66f.). Eigentlich hat das sonst stilmäßig so sicher gesetzte Gedicht „die etüden“ von Jan Wagner dieses Stilmittel nicht nötig. Vielleicht möchte er seine Gedichte im Sinne der Büchner-Preisträgerin 2020 Elke Erb (der ja übrigens mehrfach eine „fast kindliche Sprache“ diagnostiziert wurde) noch mehr „außerhalb der Form“ (Zitat Erb) ansiedeln. Aber dazu wäre Jan Wagner selbst zu befragen.
Lyrik ist wieder mehr und mehr im Kommen, ebenfalls 2020 ging der Nobelpreis an eine Lyrikerin: Louise Glück. Der 1971 geborene Dichter Jan Wagner hat sicher auch ein bisschen dazu beigetragen, er wurde vielfach ausgezeichnet u.a. mit dem Hölderlin-Preis, dem Büchner-Preis und dem Preis der Leipziger Buchmesse.