Die Bienenfabel

Autor:Bernard Mandeville
Erscheinungsjahr:1998
Genre:Sachbuch
Verlag:Suhrkamp Verlag


Gelesen von Katrin Züger
Nicht die Tugend, sondern das Laster soll die wahre Quelle des Gemeinwohls sein. Nicht der Geselligkeitstrieb, nicht Sanftmut, Mitleid, Wohlwollen und andere äusserlich schön erscheinende Tugenden, sondern seine schlechtesten und am meisten verabscheuten Eigenschaften machen den Menschen zum sozialen Wesen, befähigen ihn zur Bildung grosser, glücklicher und blühender Gemeinschaften.
Bestechender Gedanke. War doch eigentlich satirisch gemeint, das Gedicht, oder? Passte aber in die Zeit nach der «Glorious Revolution» – und passt zur grossen Finanzkrise vor einigen Jahren. Bin eher beiläufig auf die Bienenfabel gestossen, während des Philosophiestudiums, vor langer Zeit, fand sie ab und zu erwähnt in einschlägigem Zusammenhang, vertieft behandelt wurde sie nicht, gelesen schon gar nicht. Dabei müsste das Thema reizen, durch seine Aktualität, nicht nur wegen der fortschreitenden Verluderung unserer Gesellschaft – Schwelgen im Luxus, Schönheitsoperationen, Fettleibigkeit, Delikatessen und Massagekurse für Haustiere, Verschwendung von Nahrungsmitteln, Skifahren auf Kunstschnee, inszenierte Insektenmahlzeiten im Dschungel, Plastikstrudel in den Ozeanen –, sondern auch wegen der sterbenden Bienen, die uns bald schmerzlich fehlen werden.
Die Hintergründe: England, 1688, befreit sich von den feudalen Fesseln, entwickelt sich zum mächtigsten Handels- und Industriestaat. Man verdient glänzend, vornehmlich im Handel. Das oligarchische Handelskapital beherrscht die Politik, Bestechung ist die normalste Sache der Welt. Das neue Grossbürgertum erhebt sich über den Landadel, die bisher herrschende Schicht, will sich mit diesem verschmelzen. Unerhörter Luxus entfaltet sich, in den neuen städtischen Palästen, auf den Landsitzen. Die Bauern dagegen werden vertrieben, wenn sie die Pacht nicht bezahlen können, strömen in grosser Zahl in die Slums der neuen Industriestädte, vergrössern das Angebot billiger Arbeitskräfte, himmelschreiende Zustände. Angesichts des eklatanten Gegensatzes zwischen Arm und Reich entsteht die Satire als bevorzugtes literarisches Stilmittel.
Bernard (de) Mandeville, 1670 bis 1733, wurde in eine vornehme französische Hugenottenfamilie geboren, die sich gegen Ende des 16. Jahrhunderts in Holland niedergelassen hatte, um den Hugenottenverfolgungen zu entgehen. Studierte Philosophie, dann Medizin in Leiden. Scheint für kurze Zeit als Facharzt für Nerven- und Magenleiden praktiziert zu haben. Ging in den Neunzigerjahren nach London, um Englisch zu lernen. War angetan von Land und Leuten und beschloss, bis ans Ende seiner Tage dort zu bleiben. Arbeitete als Arzt und war als witziger Gesprächspartner mit Sinn für Geselligkeit und geistreiche Unterhaltung bekannt.
1705 verbreitete er anonym sein Gedicht «The Grumbling Hive: or, Knaves Turn’d Honest» («Der unzufriedene Bienenstock oder Die ehrlich gewordenen Schurken») als Sixpenny-Broschüre. Es gab einige Aufregung, zu anstössig erschien das Ganze, dann wurde es still, bis 1714, wieder anonym, eine um Anmerkungen, Kommentare und den Essay «An Enquiry into the Origin of Moral Virtue» («Eine Untersuchung über den Ursprung der sittlichen Tugenden») erweiterte Ausgabe erschien, unter dem Titel «The Fable of the Bees: or, Private Vices Publick Benefits» («Die Bienenfabel, oder Private Laster, öffentliche Vorteile»). Weitere Auflagen und Essays folgten.
Schauen wir uns die Geschichte von den schmutzigen Strassen in London an. Wer wünschte nicht, dass die Wege, auf denen man gelegentlich zu Fuss unterwegs ist, sauberer wären, als sie es für gewöhnlich sind, wobei man zunächst die eigene Kleidung, die Schuhe, das private Vorwärtskommen im Auge hat. Denkt man aber etwas weiter und zieht in Betracht, dass die schmutzigen Wege das Ergebnis des Gedeihens, des grossen Verkehrs und des Reichtums dieser Stadt sind, nimmt man sie gern in Kauf. Bedenken wir die Materialien aller Art, mit denen eine so unendliche Zahl von dauernd in Betrieb gehaltenen Gewerben und Handwerken versehen werden muss, die enorme Menge an Ess- und Trinkwaren und an Heizstoffen, die täglich verbraucht werden, die davon herrührenden Abfälle und Überbleibsel, sodann die Menge von Pferden und anderem Vieh, die fortwährend die Strassen verunreinigen, die Karren, Kutschen und schwereren Fahrzeuge, die das Pflaster abnutzen und beschädigen, und schliesslich noch den Schwarm von Menschen, die durch alle Teile der Stadt eilen. Man sieht leicht, welche Kosten und Mühen man für eine schnelle Beseitigung des Unrats aufwenden müsste, dass es unmöglich ist, die Unsauberkeit der Stadt zu verringern, ohne gleichzeitig ihr Gedeihen zu beeinträchtigen. «Und nun möchte ich die Frage stellen, ob nicht jeder gute Bürger, des soeben Gesagten eingedenk, anerkennen muss, dass schmutzige Strassen ein notwendiges, von dem Gedeihen Londons unabtrennbares Übel sind, ohne doch im geringsten ein Hindernis für die Reinigung der Schuhe oder Fegung der Strassen zu sein, und damit ohne die Schuhputzer und Strassenkehrer irgendwie zu schädigen.»
Was will uns Mandeville sagen? So wie wir uns im Interesse des Wohlergehens möglichst vieler Menschen mit schmutzigen Strassen abfinden müssen, sind grosse und mächtige soziale Gemeinschaften, Wohlstand und Ansehen ohne menschliche Laster nicht zu haben – was aber überhaupt nicht bedeutet, dass die einzelnen Mitglieder nicht für ihre sittlichen Fehler getadelt und für Verbrechen bestraft werden sollen.
Zurück zur Bienenfabel, zu dem Gedicht aus Knittelversen, das nur einen Teil des Buchs ausmacht. Von einem Bienenstock wird berichtet, der unvergleichliche Macht, Reichtum und Ansehen geniesst und gut regiert wird, in dem Kunst und Wissenschaft blühen. Basis von Macht und Reichtum sind die arbeitenden Armen, wogegen die Reichen ein lasterhafter Haufen sind: Die Advokaten verdrehen das Recht, die Ärzte verzögern die Heilung, die Priester sind voller Stolz und Habgier, die Minister sind korrupt, und Justitia legt die Waage zum Geldempfang aus der Hand. Weil alle dem Geld nachjagen, verkehrt sich der Zweck ihrer Tätigkeit ins Gegenteil. Alle wollen mehr, als sie haben, laufen dem Geld hinterher, das immer neue Bedürfnisse schafft. Doch gerade durch die allgemeine Lasterhaftigkeit gedeiht der Bienenstaat. Wenn jeder seiner Bedürfnissucht nachgeht, hilft er mit beim Wachstum von Industrie und Handel – private Laster als Basis für öffentliche Vorteile. Wobei die Gesellschaft des Bienenstaats mehrfach gespalten ist: hier fleissig arbeitende Arme, bedürfnissüchtige Reiche, dort reiche Individuen, die egoistisch ihren Lastern nachjagen. Niemand interessiert sich für die Sache – Gerechtigkeit, Gesundheit, Seelenheil –, man orientiert sich am Geld, das damit zu machen ist. Egoismus dominiert.
Dann geschieht Wunderliches – das das Ende des Staats der Lasterhaftigkeit, des Reichtums, der Macht bedeutet. Wie das? Man ist zwar ganz zufrieden mit der Obrigkeit, wenn jedoch einmal etwas schiefläuft, folgen Protest, Aufruhr, Rebellion. Jeder fühlt sich betrogen, erhält für sein Geld nicht, was er wünscht, im täglichen Kampf aller gegen alle um die Befriedigung der Bedürfnisse verdächtigt jeder jeden, er wolle ihn betrügen, sich auf seine Kosten bereichern. Plötzlich berufen sich die Bienen auf einen Rest an Tugend, der sich trotz aller Lasterhaftigkeit offenbar erhalten hat. Tugendhaftigkeit hält Einzug. Mit dramatischen Konsequenzen. An die Stelle von Betrug tritt Redlichkeit, der Schuldner zahlt seine Schulden, die Ärzte heilen die Kranken, die Priester tun ihre Pflicht, die Minister verzichten auf Bereicherung, Altruismus ersetzt Egoismus, statt am Geld orientiert man sich am Gebrauchswert der Dinge. Durch die sinkende Nachfrage brechen jedoch Produktion, Wachstum und Wohlstand zusammen. Die Moral von der Geschichte:

So klagt denn nicht: für Tugend hat’s 

In grossen Staaten nicht viel Platz. 

Mit möglichstem Komfort zu leben, 

Im Krieg zu glänzen und doch zu streben,

Von Lastern frei zu sein, wird nie 

Was andres sein als Utopie.

Stolz, Luxus und Betrügerei 

Muss sein, damit ein Volk gedeih’. (...) 

Mit Tugend bloss kommt man nicht weit; 

Wer wünscht, dass eine goldene Zeit 

Zurückkehrt, sollte nicht vergessen: 

Man musste damals Eicheln essen.

Kurz: Private Laster, Armut der arbeitenden Klassen, Entzweiung der Gesellschaft sind notwendige Bedingung für gesellschaftliche Vorteile, Wachstum, Luxus, Wohlstand.
Und heute? Die Bienenfabel führt bestenfalls ein Fussnotendasein. Selbst vom «Mandeville-Paradox», wonach individueller Nutzen nicht mit globalem Nutzen identisch sein muss und einmal ein wichtiges Theorem der Ökonomie bildete, hört man heute wenig, zumindest nicht explizit und nicht allzu Kritisches. Dabei klingt doch alles gar nicht so fremd und vergangen, oder? Gibt es nicht immer noch genügend einflussreiche Leute, die, unbeeindruckt von irgendwelchen kapitalistischen Krisen und Auswüchsen, an die Freiheit des Individuums, den weise sich selbst regulierenden Markt, zunehmenden Wohlstand, Verschwendung und endloses Wachstum glauben, Bescheidenheit, Genügsamkeit und Friedfertigkeit in Umkehrung aller Werte als Laster betrachten und das Auseinanderklaffen von Arm und Reich, die Zerstörung der Umwelt und die überforderten Menschen als notwendiges Übel hinnehmen?
Die Bienenfabel – gedacht als politische Satire über den Zustand Englands im Jahr 1705. Warum aber die Bienen, der Bienenstock als Metapher für England? Oder sonst ein Land? Heute hat man den Eindruck, die Bienen passen nicht mehr so recht ins Bild, wenn sie es denn je getan haben. Bienen sind nicht wie Menschen. Vielmehr brauchen die Menschen die Bienen. Ohne sie gäbe es keine Äpfel, keine Kirschen, kein Raps- und Sonnenblumenöl, keinen Salat, keine Zwiebeln, keinen Senf, keinen Ketchup, es bliebe nur das Fleisch von Kühen, die nie Klee gefressen haben, und das trockene Brötchen. Unschätzbare Helfershelfer und freundliche Gesellen, stechen nur, wenn sie in die Enge getrieben werden. Sind dennoch unter Druck geraten. Denn den Honigbienen macht die Varroamilbe zu schaffen, und den Wildbienen fehlen die angestammten Nistplätze, wegen der Banalisierung der Landschaft. Die Synchronisierung von blühenden Pflanzen und fliegenden Bienen könnte aus dem Ruder laufen, und bald haben wir tatsächlich keine Äpfel, keine Kirschen, kein Raps- und Sonnenblumenöl, keinen Salat, keine Zwiebeln, keinen Senf, keinen Ketchup mehr, wobei das mit dem Ketchup wohl am leichtesten zu verkraften wäre.