Über Gegenwart und Vergangenheit in Japan

Ein Leben neben Kobori Enshus Garten mit Blick auf Hideyoshis Grab



Von Daniel Bürgin
Frau K., unsere Gastgeberin, bittet Yoko und mich ins Obergeschoss des machiya, eines klassischen Kioto-Stadthauses aus der späten Edo-Zeit (1600-1867). Die von der Strasse her sichtbare Fassade ist schmal gehalten. Der erste Raum beim Eintreten ist der mise no ma, der Geschäftsraum. Bei Frau K.s Haus gilt diese Regel auch heute noch. Wie durch einen Zaubertrick ist das Gebäude hinter dem mise no ma viel grösser, als es von aussen den Anschein macht. Das ist typisch für Kiotos alte Stadthäuser. Steht man im Innern, wirken die alten machiya unendlich lang. Gewiss, unendlich ist eine masslose Übertreibung. Doch die Länge kann die der Öffentlichkeit zugewandte Vorderseite um ein Vielfaches übersteigen. Hinter einer Fassadenbreite von ungefähr fünf bis sechs Metern versteckt sich eine Länge von dreissig und manchmal bis zu fünfzig Metern. Wegen dieser Schlauchform erhielten die machiya während der Edo-Zeit auch den Spitznamen unagi no nedoko, «Schlafzimmer für Aale». Diese Raumplanung ist die Antwort auf ein altes Gesetz aus der Feudalzeit. Die Steuern wurden nicht nach der Gesamtfläche eines Gebäudes, sondern nach dessen Fassadenbreite berechnet. Es scheint einem menschlichen Urbedürfnis zu entsprechen, Steuerbeamte zu vermeiden und wenn möglich auszutricksen…
Unsere Gastgeberin ist Anfang Siebzig. Wir hatten sie seit mehreren Jahren nicht mehr getroffen. Sie kommt mir ein bisschen gespenstisch vor, denn Frau K. scheint nicht zu altern. Wie immer trägt sie ihr Haar hoch aufgetürmt und perfekt arrangiert. Vermutlich besucht sie jeden Morgen den Friseur oder schläft wie die Geishas aus den alten Zeiten auf einem hohen, hölzernen Nackenkissen, damit die vorsichtig arrangierte Haartracht nicht den futon, die Matratze, berührt und dadurch zerdrückt wird. Ausserdem ist Frau K.s rundes und gesundes Gesicht faltenlos. Zu surreal, um natürlich zu sein. Botox?
Sie ist eine Kioto-Persönlichkeit. «Okoshiyasu», begrüsst sie uns unter einer Verbeugung im lokalen Kioto-Dialekt. Frau K verkörpert die Höflichkeit in Person.
Zu dritt sitzen wir am runden Tisch. Sie auf dem Sofa, wir auf den ihr gegenüber aufgestellten Audienzstühlen. Der niedrige Tisch zwischen uns bildet einen formellen Abstand. Es ist ein improvisierter Empfang, denn wir hatten es gewagt, ohne Voranmeldung zu erscheinen. Ich betrachte das schmale und lange Wohnzimmer. Hinter Frau K. hängt ein Ölbild. Japans ehemaliger Premierminister, der talentierte Töpfer und Maler Hosokawa Morihiro, hatte es gemalt. Er stammt aus einer alten daimyo-, Fürsten-Familie und ist ein direkter Nachfahre von Hosokawa Tama, die besser unter ihrem christlichen Namen Gracia bekannt ist. Dank James Clavells berühmtem Buch «Shogun» erreichte Hosokawa Gracia vierhundert Jahre nach ihrem Tod unter dem Pseudonym Toda Mariko weltweiten Bekanntheitsgrad. Im Roman hatte Clavell seine Heldin recht genau nach der geschichtlichen Hosokawa Gracia modelliert – auch wenn ihre romantische Liebesaffäre mit dem Engländer John Blackthorne, der auf der historischen Figur von William Adams beruht, undenkbar gewesen wäre und ins Reich der Fantasie gehört.

Die erschlagende Hitze und die Luftfeuchtigkeit der Regenzeit machen vor Frau K.s Wohnzimmer Halt. Dank einer dezent aktiven Klimaanlage herrscht eine angenehme Kühle. Auf der runden Tischplatte stehen auf Kniehöhe fünf unterschiedliche kleine Vasen aus Glas oder Silber. Jede enthält kleine Feldblumen, elegant eingestellt und kombiniert mit Gräsern. Die blumengeschmückten Gefässe visualisieren Kiotos zurückhaltende Eleganz. Tokio mag das politische Zentrum, die wirtschaftliche Metropole sein, doch diese feinsten Blumenarrangements teilen einem unaufdringlich und dennoch unmissverständlich mit, dass die alte Kaiserstadt immer noch den Anspruch stellt, Japans traditionell-kulturelle Hauptstadt zu sein.
Frau K. streicht sich den Rock glatt, steht auf, bietet uns eine Erfrischung an und erwähnt im gleichen Atemzug, dass sie bloss Wasser im Kühlschrank lagert.
Bei ihrer Rückkehr bringt sie unter weiteren höflichen Entschuldigungen zwei flache Teller aus Imari-Porzellan mit dunkelblauem Muster. Man sieht ihnen an, dass sie aus der Edo-Zeit stammen. Auf ihnen stehen zwei schwitzende, eiskalte Plastikbeutel mit einem eingebauten Ausguss. Der Aufschrift ist zu entnehmen, dass sie mit Vitaminen angereichertes Wasser enthalten. Ich muss staunen, ja, das Dargebotene zögerlich bewundern. Hier finden zwei moderne Wasserbehälter, die man wie ein Kinderschoppen aussaugt, und zwei über hundertjährige Teller zusammen. Ein kompromissloser Kompromiss. Kompromisslos, da der Gastgeberin das durchaus trinkbare Leitungswasser nicht gut genug für ihre Gäste ist, und ein Kompromiss, weil moderne Plastikbeutel auf antikes Porzellan treffen, denn einen Unterteller braucht es halt doch. Die Kombination dieses widersprüchlichen Aufeinanders zeugt von Selbstsicherheit und Stil und harmoniert mit der praktischen Persönlichkeit der eleganten Frau K. Man trinkt das Wasser direkt aus dem im Beutel eingepflanzten Röhrchen, und der unerwartete Besuch hinterlässt keine Gläser zum Abwaschen. Sie selbst trinkt nichts. Wie so oft in diesem Land überwiegt der Sinn für Pragmatik. Die profane Zusammenstellung stört die Japaner nicht. Das Vorzeigen und der Gebrauch von altem Geschirr und traditionellen Gegenständen entspringt keinem Bedürfnis, museale Präsenz zu kreieren, welche vom Modernen und Praktischen ferngehalten werden muss. Antike Objekte sind Bestandteile des Alltags und werden einfach gebraucht. Man lebt zwischen Welten. Ich bin trotzdem sprachlos. Plastiktüten auf altem Porzellan sind das Tüpfelchen auf dem «i».
«Ist es bereits iki?», frage ich Yoko, dieses schwer zu beschreibende Konzept von Einfachheit und gleichzeitiger Kultiviertheit?

Versteckt hinter seiner alten Holzfassade ist das Wohnzimmer eine Oase der Entspannung. In Kioto existieren noch viele solche Orte. Im Raum finden sich westliche und japanische Gegenstände. Alles ist unauffällig abgestimmt, ohne dass es einem bewusst und vor lauter Perfektion unbehaglich wird. Es offenbart sich eine scheinbar zufällige Kombination von alt und modern, die zum Geniessen einlädt.
Links vor mir beginnt eine grosse Fensterfront. Sattes Grün von Bäumen erhellt das Zimmer und ergänzt farblich das Interieur. Jetzt, während der Regenzeit, besitzen die Blätter eine aussergewöhnlich vitale Leuchtkraft.
«Ich bin hier aufgewachsen», erklärt Frau K. «Es ist das einzige Privathaus in diesem Quartier.» Sie erwähnt diese Tatsache mit Selbstbewusstsein. «Alles Land um das Haus herum gehört den Tempeln.» Wir stehen auf, und Frau K zeigt auf einen Garten hinunter, der sich vor der Fensterfront ausbreitet. «Die Anlage wurde von Kobori Enshu angelegt», sagt sie stolz. Kobori Enshu (1579-1647) war ein Samurai der frühen Edo-Zeit, der bis heute für seine künstlerische Ader, die sich in Gartenarchitektur und einer eigenen Schule für die Teezeremonie manifestierte, berühmt ist. Zudem war er als Baumeister für den Shogun tätig. Frau K.s Aussage lässt Yokos Gesicht leuchten. Sie schaut mich triumphierend an, denn Yoko gehört der Enshu-Schule für Teezeremonien an.
Frau K. lacht. «Es ist nur ein geborgter Garten, ganz nach japanischem Konzept. Er gehört nicht mir, sondern dem nachbarlichen Tempel, der von Nene gestiftet wurde.» Nene wiederum war die Witwe von Toyotomi Hideyoshi (1536/7-1598), dem zweiten der drei Reichseiniger Japans und dem mächtigsten Mann seiner Zeit. Nach dessen Tod hatte Nene den Kodai-Tempel 1606 im Gedenken an ihren Ehemann gegründet und war ihm als Nonne beigetreten. Zweifellos steht Frau K. mit einer illustren Gesellschaft auf Du und Du.
«Und gleich dort», wir neigen uns etwas vor und folgen mit unseren Blicken ihrem ausgestreckten Zeigefinger, «schauen wir auf das Grab von Kinoshita Tokichiro hinunter», erklärt Frau K. und lächelt verklärt.

Inzwischen sind die Beutel leer gesaugt und somit die Audienz beendet. Diesmal entschuldigen wir uns. Leider müssen wir bereits aufbrechen. «Wie schade», antwortet Frau K. als Teil des Abschiedsrituals und freut sich schon auf unseren nächsten Besuch in ein oder zwei Jahren. Wir sind überzeugt, dass nur wir altern werden. Kobori Enshus Garten und der Tempel mit Kinoshita Tokichiros Grab bleiben während unserer Lebensdauer ohnehin von der Zeit unberührt. Ein vages Gefühl sagt uns, dass Frau K. in die gleiche Kategorie gehört.

«Es ist ausserordentlich seltsam, dass sie Toyotomi Hideyoshi als Kinoshita Tokichiro bezeichnete», sinniert Yoko, als wir draussen auf der schmalen Strasse stehen. Denn niemand nennt den aus niedriger Geburt stammenden Hideyoshi bei seinem bescheidenen Namen, mit dem er als junger Fusssoldat in die Dienste des Fürsten Oda Nobunaga eingetreten war.
Yokos Augen funkeln fasziniert. Es handelt sich sicher um eine fünfhundertjährige persönliche Fehde, spekuliert sie. Eine späte Rache von Frau K., dass sie von ihrer Wohnstube direkt auf Hideyoshis Grab hinunterschauen kann und ihn – geradezu despektierlich – mit seinem Namen aus bäuerlicher Herkunft betitelt.
Die Zeit folgt in Japan eigenen Gesetzgebungen. Sie tickt in gewissen Bereichen langsamer als im Westen. Entsprechend ist die Vergangenheit, wenn man aufmerksam hinschaut, gleich hinter jeder Ecke präsent. Selbst unter einem modernen Wasserbeutel.