Japans Gräberkultur

Zwei leere Gräber und ihr lebendiger Eigentümer



Von Daniel Bürgin
S. lebt in Tokio und ist mit Vierundachtzig ausgesprochen unternehmungslustig. Seine Familie stammt aus Kanazawa, wo während Japans Feudalzeit der reiche und einflussreiche Maeda-Klan in sicherer Distanz zur Hauptstadt Edo, dem heutigen Tokio, seine Provinz regierte.
Vom Schloss der Maedas existieren nur noch Ruinen. Doch der berühmte Kenroku-Garten aus dem siebzehnten Jahrhundert und die Überbleibsel der Altstadt bleiben ein grosser Anziehungspunkt für Touristen aus dem In- und Ausland. Die Vorfahren von S. gehörten zur Samurai-Klasse und waren Vasallen des Maeda-Klans. Ihre Gräber befinden sich auf dem Friedhof des Ryūzo-Tempels, der sich in Kanazawas Tempel-Distrikt Teramachi, schräg gegenüber des ehrwürdigen Restaurants Tsubajin befindet. Die Familienmitglieder, die heute alle in Tokio leben, treffen sich deshalb in jährlichen Abständen im Tsubajin zum Mittagessen, bevor der Klan die Gräber der Vorfahren aufsucht.
Der Friedhof ist von den Laubkronen alter schattiger Bäume überdacht, unter denen sich im Laufe der Jahrhunderte steinerne Grabsteine angesammelt haben. S.’ Ahnen sind um einen betagten Baum begraben, dessen knotige Wurzeln sich respektlos zwischen den Grabsteinen hindurchzwängen. Die ältesten Gräber seiner Vorfahren reichen in die Anfänge von Japans Edo-Zeit (1600-1867) zurück, und die Familie kennt Anekdoten und Geschichten, die sie sich bei den Ruhestätten manchmal erzählt. Die in die Steine eingemeisselten Namen sind teils stark verwittert und, wenn überhaupt noch, schwer zu entziffern. Bei einem Stein aus dem neunzehnten Jahrhundert ist der Name einer Konkubine, die mit dem damaligen Patriarchen ins Grab durfte, vermerkt. Der Klan ist sich einig. Es musste eine grosse Leidenschaft gewesen sein, sonst wäre die Geliebte nicht im Familiengrab erlaubt gewesen. Hoffentlich gibt es auf der anderen Seite – in der Ewigkeit – keinen endlosen Streit zwischen der Ehefrau, der Geliebten und dem Ehemann, meinen alle und wirkten beinahe ein bisschen besorgt.
Auch dieses Jahr hatten sich S. und seine Frau in Kanazawa mit ihren Kindern, einem Grosskind und Neffen getroffen. Vor dem Friedhofsbesuch wurden Blumen gekauft, die eine Tochter bei den Grabsteinen platzierte. Die andere Tochter holte und füllte einen Eimer mit Wasser und tauchte mehrere langstielige Kellen hinein. Traditionsgemäss schritten sie die Ruhestätten ihrer Vorfahren ab und leerten die gefüllten Kellen vorsichtig über die Grabsteine. Das Wasser rann, nass-dunkle Spuren auf den Steinen hinterlassend, hinunter. Einer ist neueren Datums und die Oberfläche noch nicht verwittert. Der Name von S.’ älterem Bruder ist eingraviert. Er war vor etwas über zwanzig Jahren an Krebs verstorben.
Wie kommt es, dass sein eigener Namen unter dem des Bruders in den Stein geschnitten ist?
«Ach, weisst Du», erklärte mir S. etwas verlegen, «als mein Bruder starb, war mir, als ob ich auch nicht mehr lange zu leben habe und dass es praktischer und wirtschaftlicher sei, meinen Namen vorsorglich gleich mit einzugravieren.»
Seither ist ein Jahr verstrichen.
S. hat den Familienrat in Tokio einberufen. Zusammen mit seiner Frau möchte er den Kindern etwas mitteilen.
Das alte Ehepaar hatte sich entschlossen, dass sie nicht im fernen Kanazawa zusammen mit den Vorfahren ihre letzte Ruhestätte finden wollen. Schliesslich würde nach S.’ Tod die Pflicht für die Grabpflege der Ahnen ja ohnehin nicht bei seinen eigenen Kindern liegen. S. ist nur aufgrund seines Alters und infolge des frühzeitigen Ablebens des älteren Bruders der Patriarch. Eigentlich wäre das Familienoberhaupt sein Neffe, der Sohn des verstorbenen Erstgeborenen. Entsprechend würde die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Gräber dereinst beim Neffen liegen.
«Kanazawa ist zu weit, und Ihr kommt uns dann nicht besuchen. Ihr lebt ja alle in Tokio», erklärte S. den überraschten Kindern. «Wir bleiben lieber in der Nähe. Ich habe einen Freund, einen Priester, dem gehört der Tempel M. in Tokios Taito-Distrikt. Eure Mutter und ich haben uns dort bereits eine Grabstätte gekauft.»
Seine kurze Rede bringt eine rege Diskussion in Gange.
Die älteste Tochter mochte diesen Freund des Vaters nicht leiden. Der war ja nur aufs Geld aus und besass, Priester hin oder her, die Visage eines Yakuza. Nicht vertrauenswürdig, urteilte sie und war mit der Entscheidung ihrer Eltern gar nicht zufrieden. Die zweite Tochter stand dem Priester neutral gegenüber. Schliesslich galt es, den Wunsch der Eltern zu respektieren. Das Essen in Kanazawa war doch jedes Mal ausgezeichnet, argumentierte die Jüngere. Vor allem die lokale Spezialität, der nodoguro, der schwarzkehlige Seebarsch. Der Grabbesuch war jedes Mal ein guter Grund, jährlich einen Ausflug mit Übernachtung zu machen. Gräber-bedingte Ferien sozusagen.
Natürlich würde es später noch eine Besprechung mit dem Neffen benötigen, unterbrach S.’ Frau die Diskussion, da dieser die Verantwortung für die Ahnengräber trägt.
Unmut der Töchter hin oder her, das alte Ehepaar hatte sich entschieden. Daran gab es nichts mehr zu rütteln. S. war es gleichgültig, nicht in Kanazawa die letzte Ruhe zu finden. Schliesslich war er als junger Mann ohnehin immer das schwarze Schaf der Familie gewesen. Oder etwa nicht?
«In eineinhalb Monaten beginnt hanami, das Kirschblütenfest», proklamierte S. «Es ist eine gute Gelegenheit für Euch, den neuen Ort kennenzulernen.» S. erteilte einen Befehl in Form einer nicht ablehnbaren Einladung, dass sich seine Familie beim hanami auf dem Tempelgelände seiner zukünftigen Grabstätte einzufinden hatte. Dann könnten sich alle selbst davon überzeugen, dass es ein schöner Platz sei. Jedes Jahr lädt der Priester seine Gemeinde zum Kirschblütenfest ein, und die ganze Familie könne unter den blühenden Bäumen sitzen, Sake trinken, ein bento, eine Lunchbox, verzehren und anschliessend gemeinsam den bereits ausgewählten und gesetzten Grabstein begutachten. Die Tochter, die den Priester ablehnte, wollte nicht mit und lieber ihren Sake unter anderen Kirschbäumen trinken. Schliesslich gibt es deren genug in Tokio. Die Diskussion ging noch eine Weile hin und her, bevor ein Datum festgelegt wurde. Schlussendlich beugten sich alle dem Wunsch des Vaters.
An besagtem Tag, bei schönstem Frühlingswetter, trifft sich die Familie auf dem Tempelgelände, auch wenn die ältere Tochter – aus Protestgründen – unter einem fadenscheinigen Vorwand zu spät zum hanami kommt. Zuvor sass sie im nahen Starbucks, trank Kaffee und las gemütlich die Zeitung. Schliesslich trifft auch sie ein, und alles ist gut. Die ältere Tochter mag den Priester, der jetzt seine Aufwartung macht, immer noch nicht, doch alle sind zufrieden, dass die Eltern glücklich sind. Eine Band von vier Männern in den Siebzigern tritt nach einer Sängerin in Kimono auf und interpretiert La Cucaracha sowie andere südamerikanische Lieder. S.’ Klan ist über die unerwarteten, exotischen Ohrwürmer etwas perplex. Doch was soll’s. Hatten die singenden Alten ihre Gräber ebenfalls beim Priester vorreserviert und spielten deshalb vielleicht gratis unter der pinkfarbenen Blütenpracht auf?
Der Lunch geht zu Ende. Bevor die Familie aufbricht und alle ihre Wege gehen, schlendert S.’ Klan einträchtlich zum neuen Grabstein, der über einer hoffentlich noch lange leeren Grabstätte wacht.
S. ist der einzige Mensch, den ich kenne, der nicht nur ein, sondern gleich zwei Gräber besitzt. Eine Zweitwohnung auf Ewigkeit sozusagen, während er hoffentlich noch lange frisch-fröhlich und reiselustig in vollen Zügen sein Leben geniesst.
Er hat die Wahl der Qual – und wer weiss, vielleicht können ihn seine Kinder doch noch davon überzeugen, in Kanazawa die letzte Ruhestätte zu finden. Tokio, sagen die Töchter, ist etwas langweilig. Hier lebt man den Alltag, während Kanazawa mit seinem frischen Fisch und der schönen Altstadt immer eine Reise wert ist.