Spätholz

Autor:Walther Kauer
Erscheinungsjahr:1976
Verlag:Benziger Verlag, Zürich


Besprochen von Katrin Züger
Er wartet in der Küche seines Bergbauernhofs, der Tessiner Bauer Rocco Canonica, das geladene Gewehr vor sich auf dem Tisch, zu allem entschlossen. Um sieben Uhr werden sie kommen und das Gerichtsurteil vollstrecken. Der Nussbaum vor seinem Haus soll zwangsweise gefällt werden. Weil er einem reichen zugezogenen Nachbarn den Seeblick versperrt. Neben dem Gewehr liegt der Brief mit der amtlichen Ankündigung. Nun, er würde seine Freiheit verteidigen. Oder soll er zusehen, wie man den alten Nussbaum fällt, bloss weil ein Gericht das so beschlossen hat, um einem reichen Mann zu willen zu sein? Weil ihm die Baumkrone den Blick auf den See verstellt? Wozu muss ein Mann, dem das Wetter gleichgültig sein kann, weil er doch nichts zu verrichten hat, den See sehen, beim Frühstück auf der Terrasse? Wenn Rocco die ganzen Jahre hindurch auf den See blickte, dann um zu entscheiden, ob man Gras mähen oder doch besser das bereits getrocknete Heu einbringen sollte. Zwar hat man ihm sein Leben lang gesagt, man dürfe sich sein Recht nicht selbst verschaffen, dafür seien die Gerichte und die Richter da, und die Gesetze seien dieselben für arm und reich. Er hat daran geglaubt. Und nun das!
Früher. Das war harte Arbeit an den Terrassenäckern seines Hofs hoch über der wilden Terza, weitab vom Dorf Terzone, das auf der anderen Talseite lag. Abends scharte sich die Familie um die einzige Petrollampe. Man las die Lokalzeitung, den Corriere, wegen der Marktberichte und der Traueranzeigen. Die Marktberichte informierten Rocco über das Leben im Tal, den Todesanzeigen entnahm er die Frist, die jedem gesetzt ist. Zwei Söhne hatten sie. Dann war er auf einmal wieder allein. Zuerst verliess ihn die Frau, Teresa, legte sich eines Tages einfach hin, um zu sterben. Die harte Arbeit, ein Leben lang, an den steinigen und steilen Berghängen und zuhause für die Zigarrenfabrik in Brissago, dazu die lange Zeit des Alleinseins mit den zwei Buben in der Zeit seines Aktivdiensts von 1939 bis 1945. Dann die Söhne, Giancarlo und Ernesto. Beide sollten Bauern werden, obwohl Ernesto lieber Bücher las und nach Auffassung der Lehrer und des Priesters ein guter Lehrer, Priester oder Advokat geworden wäre. Trotzdem liess Rocco sie als Handlanger für die Staumauer arbeiten, wo er doch immer gegen das Kraftwerk war. Auf Nebenverdienst war man im Terzone angewiesen. Schon als Dreizehnjähriger war Rocco, wie viele seiner Klassenkameraden, als Kaminfegerjunge nach Mailand gegangen. Die spazzacamini aus den Bergtälern waren gesucht, weil sie angeblich schwindelfrei waren und es ihnen nichts ausmachte, mit den Russbesen durch die hohen Schornsteine der Fabriken zu klettern. Seinen Söhnen wollte Rocco dies ersparen.
Einmal stieg Rocco hoch zur Baustelle. Da wurde ihm erst bewusst, welch gigantisches Werk die Menschen da in die Einöde gestellt hatten. Hinter der Staumauer staute sich glasblaugrün das Wasser der Terza. Gut fünfzehn Kilometer lang wird der See, erklärte ihm der Bauschreiber. Und wenn der Damm bricht, fragte Rocco, was dann? Dann wird doch das ganze Terzone von den Wassermassen leergefegt wie eine Polentaschüssel. Nicht nur das, sagte der Mann, aber der Damm wird halten für alle Ewigkeit, darauf können Sie sich verlassen, denn sonst würde auch der Spiegel des Lago Maggiore auf einen Schlag um mehr als fünf Meter steigen, und dann addio. Und wenn doch? Dafür sind Warnsysteme eingebaut, in den Kavernen der Staumauer. Jedes Dorf im Terzone bekommt eine Alarmvorrichtung und einen genauen Evakuierungsplan, jeder weiss genau, wohin er sich in Sicherheit bringen kann, sollte es zu einer Katastrophe kommen. Aber abgesehen von Kriegszeiten, wo der Damm bombardiert werden könnte, ist so etwas beinahe ausgeschlossen.
Der Bauschreiber lud Rocco zum Essen in der Kantine ein. Das Essen ist vorzüglich, sagte Rocco. Weiss ich, sagte der Bauschreiber, die Köchin kenne ich seit fünfzehn Jahren, habe sie von einer Baustelle zur anderen mitgenommen, Grimselwerk, Handegg I, Handegg II, Innertkirchen, Gelmersee, Ritomsee. Immer hoch oben im Gebirge, einsam, immer die gleichen Gesichter, auch wenn die Arbeiter wechseln. Vierzehntägige Bärte, verklebt vom Gesteinsstaub, alle husten in derselben Tonart, jeder ist entweder erkältet oder hat schon den Ansatz einer Staublunge. Und wenn wir hier fertig sind, packen wir alles zusammen, der See wird gefüllt, die Stille zieht ein, und wir sind schon unterwegs zur nächsten Baustelle. Immer gewaltiger werden die Projekte. Und alle Stauseen werden durch kilometerlange Stollen so miteinander verbunden, dass man quer durch die Berge den einen See anzapfen kann, um den anderen damit zu füllen. Eine elende Arbeit für wenig Geld. Mit vierzig ist jeder fertig. Und das Schlimmste: Überall, wo wir bauen, halten uns die Einheimischen für ihre Feinde. Ihr Bergbauern meint, wir da oben schinden uns zu unserem eigenen Nutzen, als ob das Kraftwerk uns gehören würde. Dabei bringen wir euch den Fortschritt in die Bergtäler: Elektrizität, Industrie, Arbeitsplätze. Ja, der Fortschritt, sagte Rocco.
Schichtwechsel, die Arbeiter strömten in die Kantine, beinahe hätte Rocco seine Söhne nicht erkannt, die auf einmal vor ihm standen und ihn aus staubgeränderten Augen musterten. Er bestellte beide nach Hause, für Samstagabend, es gab etwas zu besprechen. Giancarlo hatte sich mit einer jungen Frau eingelassen, jetzt sollte er sie heiraten. Es gab Streit. Giancarlo wollte nicht heiraten. Wollte vielmehr Neues versuchen. Rocco mochte nichts davon hören. Ist es bisher nicht gut gegangen, so wie wirs angepackt haben? Haben wir es nicht zu etwas gebracht? Musstest du jemals wie ich als spazzacamini in die Kamine von Mailand? In Mailand gibt es seit zwanzig Jahren keine spazzacamini mehr, sagte Giancarlo. Dafür gibt es unten im Tal eine Schule für Bergbauern, wo jeder lernen kann, wie man unsere Höfe besser, einfacher, mit weniger Mühe und zudem rentabler bearbeiten könnte. Ich dachte, ich hätte einen Bauern aus dir gemacht, sagte Rocco, und jetzt willst du dich wie der andere lieber in Bücher vergraben als in die Arbeit auf dem Hof. Daraus wird nichts! Wir haben kein Geld für solchen Unsinn. Ich habe selber Geld, sagte Giancarlo, und ewig kann es doch hier nicht so bleiben. Wir arbeiten uns auf den Feldern zu Tode. Und wenn einmal an der hölzernen Wasserleitung etwas kaputt ist, vertrödeln wir zu dritt eine Woche am Berg, um den Fehler zu suchen und zu flicken. Dabei wäre es so einfach, uns an die Wasserleitung der Gemeinde anschliessen zu lassen, und Strom zum Haus heraufzuleiten, würde auch nicht alle Welt kosten, dafür gibt es Subventionen. Ein Canonica nimmt keine Almosen, sagte Rocco. Und wozu eine Wasserleitung? Wir haben ja eine. Und wozu Strom? Wir haben doch die Petrollampe. Aus dem modernen Unsinn wird mir nichts, solange ich lebe. Dann gehe ich, sagte Giancarlo. Dann geh, sagte Rocco, und lass dich hier nicht wieder blicken. Und Giancarlo ging. Kurz darauf ging auch Ernesto.
So wohnt er nun seit fünfzehn Jahren allein, bearbeitet den Hof, erledigt die sonstige Arbeit. Immer mehr Fremde kommen ins Tal, den ganzen Sommer über, von jenseits des Gotthards. Der neue Sindaco liess die verlassenen Häuser im Dorf herrichten, machte gute Geschäfte mit seinem Grotto, baute bald ein Restaurant, dann ein Hotel. Inserierte in der Deutschschweiz für den Verkauf von Bauland. Nur so könne man die Abwanderung stoppen. Viele nutzten die Gelegenheit und verkauften ihr Land, ihre Güter. Bald zählte man im Dorf mehr leerstehende Häuser als bewohnte. Die Alp La Paz für die Sömmerung wurde aufgegeben, die Maiensässe verfielen, die Weide verwilderte, der Bannwald wurde vernachlässigt.
Nun also der Nussbaum, den seine Eltern bei seiner Geburt nach altem Brauch gepflanzt haben. Die Wiese hinter dem Gehöft, die Rocco einst vom Sindaco gepachtet hatte, verkaufte dieser dem reichen Nachbarn. Nach der Villa mit grossem Garten, Sonnenterrasse und Schwimmbad will er jetzt noch eine Fahrstrasse bauen, die ein Stück weit durch Roccos Wald führen soll, ein paar Bäume müssten dafür gefällt werden. Warum nicht, sagte sich Rocco, solange für mich keine Kosten entstehen, und unterschrieb die Vereinbarung. Dass auch der Nussbaum dran glauben musste, war ihm nicht klar. Jeden anderen Baum hätte Rocco fällen lassen, aber nicht diesen. Auf weitere Gespräche liess er sich nicht ein. Und so kam die Sache vor Gericht. Rocco verlor vor allen Instanzen. Nun liegt der Vollzugsbeschluss vor ihm auf dem Tisch. Alles ist verloren, die Kuh ist weg, das Geld, er hat Schulden, weiss nicht, wie er sie zahlen soll, und das Recht ist auch weg, der Baum wird fallen, sein Lebensbaum. Nur das Gewehr bleibt ihm, mit dem er in ein paar Stunden einen Menschen töten wird.
Plötzlich ein Ächzen und Stöhnen in den Balken des Hauses. Rocco kennt das Geräusch. Diesmal scheint es stärker. Die Granitplatten auf dem Küchenboden beginnen zu beben. Von der Decke rieselt Staub. Im Stall brüllen die Kühe. Die Ziegen meckern. Der Strahl aus der Brunnenröhre setzt aus. Der Berg arbeitet. Was kümmert ihn das alles. Wenn er den Nachbarn mit dem Gewehr erschiesst, würde das den Berg nicht aufhalten. Man würde ihm den Prozess machen. Man würde ihn einsperren, aber davor hatte er keine Angst. Denn wie lange würde ein Canonica noch leben, nachdem man ihm alles genommen hat, seine Arbeit, sein Vieh, seine Reben, den Blick ins Tal und den Berg, den er kennt wie sonst keiner? Dann fährt es ihm durch den Kopf: Wer versorgt morgen meine Kühe? Die Ziegen? Die Schafe?
Das mit dem Gewehr hat Zeit. Für einen Bauern geht das Vieh vor, es braucht Wasser. Rocco brüht sich einen Kaffee aus den letzten Tropfen im Brunnen, stellt eine Marschverpflegung zusammen, pfeift den Ziegen und macht sich auf den Weg bergan, um den Bruch in der Leitung zu finden. Warum soll er die Ziegen nicht mitnehmen, lebende Wesen um sich zu haben ist besser als die düstere Einsamkeit des Bergs. Roccos Terrassenfelder sind die einzigen, die auf dieser Talseite noch unterhalten werden. Plötzlich bleiben die Ziegen stehen, blicken sich nach Rocco um. Quer über den ganzen Hang klafft ein meterbreiter Riss. Die Holzkännel der Wasserleitung ragen in die Luft, an zwei Stellen sind sie zersplittert, und aus der Brunnenstube fliesst das Wasser direkt in den Spalt. Rocco beginnt die Leitung zu reparieren, flickt die noch brauchbaren Kännel, sieht, wie das Wasser talwärts schiesst, bald würde es unten in seinem Gehöft wieder in den Brunnentrog fliessen.
Als er zum Haus zurückkommt, liegt der Nussbaum da, mit zertrümmertem Geäst und schlaffen Blättern, durch die der Sturmwind raschelt. Blickt fassungslos auf den mächtigen Strunk, sieht sein Tagebuch darin aufgeschlagen, begonnen am Tag seiner Geburt, Jahr für Jahr ergänzt durch einen Doppelring. Aus dem hellen Frühholz, so hat ihm der Vater erklärt, kann ein Bauer ablesen, wie Frühjahr und Sommer sich angelassen haben, wie die Ackerfrüchte und das Heu gediehen sind, und aus dem dunkleren Spätholzring ersieht er, wie in jenem Jahr die Weinernte gewesen ist und wie viel Wasser der Berg hergegeben hat. Im Innern der fast verschmolzene Kern, das Jahr von Roccos Geburt, 1900. Dazwischen zwei schwarze Ringe, entstanden 1927, im Jahr des grossen Brands, als Vater und Mutter starben. Und hier, am äussersten Rand, zwei starke, gleichmässige Ringe, ein heller und ein dunkler. Das Spätholz hat sich dieses Jahr gebildet, bevor der Baum gefallen ist. Dabei ist erst September.
Rocco geht hinunter ins Dorf, zum Sindaco, berichtet ihm von den Erdstössen in der Nacht und vom meterbreiten Spalt im Berghang. Der Sindaco nimmt ihn nicht ernst. Rocco wolle wohl wieder einmal den Unglücksraben spielen, sie hätten allmählich genug von ihm, für Leute wie ihn sei im Narrenhaus Platz, und er solle sich fortscheren, an der nächsten Sitzung werde der Gemeinderat sich mit ihm befassen. Den Rest hört Rocco nicht mehr. Stolpert wütend aus dem Grotto, eilt bergwärts. Sturm setzt ein. Die Laterne verlöscht, Finsternis umgibt ihn. Das Grollen des Bergs ist jetzt deutlich zu vernehmen. Kaum zuhause, hört er das Prasseln von Steinen. Das Grollen in der Luft schwillt an. Die Balken krachen. Das Vieh im Stall beginnt zu brüllen. Und dann ist da nur noch Getöse und Gepolter von Felsmassen, das Splittern der Bäume, das Pfeifen der durch die Luft fliegenden Steine. Der Berg ist gekommen. Rocco setzt sich an den Küchentisch und wartet.