Das Buch der Unruhe

Autor:Fernando Pessoa
Erscheinungsjahr:1996
Genre:Roman
Verlag:S. Fischer Taschenbuch Verlag


Gelesen von Katrin Züger
«Wenn das Herz denken könnte, würde es stillstehen.» Mit dem Satz begrüsste mich eines Abends mein Gefährte, als er von der Arbeit nach Hause kam. Er hatte ihn in einem Buch gelesen, auf der Heimreise im Zug, neben vielen anderen Sätzen. Der Satz ist hängengeblieben, immer mal wieder erinnere ich mich daran. Ich wusste, irgendwann würde ich das Buch lesen. Irgendwann ist jetzt.
Ein bisschen durchbeissen muss man sich schon, aber man wird auch immer wieder belohnt, mit schönen Sätzen, bemerkenswerten Sätzen, auch traurigen Sätzen, in diesem unvergleichlichen Werk. Das Besondere daran: kein Roman, keine Erzählung, keine Geschichte, Fragmente nur, Skizzen, Gedankensplitter, Aphorismen, Beobachtungen, Reflexionen, Meditationen über die Welt und das Menschsein, über die Frage nach dem Sinn des Lebens, eine tiefgründige Selbst- und Zeitdiagnose, ein Dokument existenzieller Traurigkeit. Ein Buch über die Einsamkeit inmitten von Menschenmengen, das aber auch vom Glück im Kleinen erzählt, vom Trost der einfachen Dinge, denn die einfachen Dinge führen zum Glück, wenn es denn so etwas gibt, nicht die grossen, die einen stets unbefriedigt lassen, weil es immer noch etwas Besseres gibt, einen höheren Berg, eine weitere Reise, noch mehr Geld. Es sind Aufzeichnungen von Bernardo Soares (ein Heteronym Fernando Pessoas, eines von vielen), wohnhaft in Lissabon, Rua dos Douradores, Hilfsbuchhalter beim Stoffhändler Vasques & Co., der für den Menschen im Allgemeinen steht: «Wir alle, die wir träumen und denken, sind Buchhalter und Hilfsbuchhalter in einem Stoffgeschäft oder in irgendeinem anderen Geschäft in irgendeiner Unterstadt. Wir führen Buch und erleiden Verluste; wir ziehen die Summe und gehen vorüber; wir schliessen die Bilanz, und der unsichtbare Saldo spricht immer gegen uns.»
Über zwanzig Jahre hat Fernando Pessoa am «Buch der Unruhe» gearbeitet, von 1913 bis 1934, nur ein kleiner Teil wurde zu seinen Lebzeiten in Zeitschriften veröffentlicht. Erst 1982 wurde das Buch publiziert, siebenundvierzig Jahre nach dem Tod des Autors, dessen Lebenszeit die gleiche Anzahl von Jahren umfasste (1888–1935). Die erste deutsche Übersetzung erschien 1985 und wurde von der Kritik als literarisches Ereignis gefeiert. Dabei berücksichtigt sie nur knapp die Hälfte der im Original versammelten fünfhundertzwanzig Fragmente – die bessere Hälfte, wie der Übersetzer zuversichtlich meint. Für die grosse Verspätung bei der Publikation gibt es zwei Erklärungen: die Schaffensweise des Autors, dem an der Niederschrift seiner Einfälle mehr gelegen war als an deren Publikation, sowie das zeitraubende Geduldspiel zur Auffindung, Entzifferung und Anordnung der hand- und maschinenschriftlich überlieferten Manuskripte, die Pessoa in einer Truhe aufbewahrte und vor der geplanten Publikation selbst nicht mehr bearbeiten konnte.
Bernardo Soares also, in eine Zeit hineingeboren, in der der Glaube an Gott durch den Glauben an die Menschheit ersetzt wurde, eine Zeit ohne Sicherheit in religiöser Hinsicht, ohne Halt in moralischer Hinsicht, ohne Ruhe in politischer Hinsicht, trunken von den Verfahren der Vernunft und der Wissenschaft. An seine Eltern kann er sich nicht erinnern, die Mutter starb, als er ein Jahr alt war, der Vater lebte in der Ferne und starb, als er drei war. Ein Leben als Eigenbrötler, Fremder unter den Menschen, Beobachter, der sich der Eintönigkeit des Tagesablaufs hingibt und wenig zum Leben braucht: zwei kleine Zimmer, in denen er zur Miete wohnt, die gleichförmige Arbeit im Büro, die Wanderungen durch die Stadt, die wechselnden Licht- und Wetterstimmungen. Speist immer im gleichen Gasthaus, mit einem Koch und einem Ober, die seit Jahrzehnten hier kochen und bedienen. Führen das gleiche Leben wie er und scheinen glücklich zu sein. «Ich gebe mich im Grunde mit wenigem zufrieden: mit der Tatsache, dass der Regen aufgehört hat, dass in diesem glücklichen Süden prächtig die Sonne scheint, dass die Bananen gelber aussehen, weil sie schwarze Flecken haben, dass Leute sie verkaufen, weil sie reden können, mit den Bürgersteigen der Rua da Prata, dem Tejo im Hintergrund, dem grünlichen Blau, das in Gold übergeht, mit diesem ganzen heimatlichen Winkel im System des Universums.»
Da ist aber auch Unruhe, Überdruss, Ekel. Über das bis ins Mark seiner Menschen gemeine Büro, das Zimmer, in dem nichts geschieht, ausser dass ein Toter darin lebt, das Lebensmittelgeschäft an der Ecke, dessen Besitzer er kennt, wie Leute halt Leute kennen, die Nutzlosigkeit der gleichförmigen Tage, die klebrige Wiederholung des immer Gleichen, wie ein Drama, das nur aus Bühnenbild besteht. Er will nicht den Tod und auch nicht das Leben. Alles ist unnütz, unvollkommen, es gibt keinen noch so schönen Sonnenuntergang, der nicht noch schöner sein könnte, keine leichte Brise, die uns Schlaf verschafft, die uns nicht einen noch ruhigeren Schlaf verschaffen könnte. Das Leben schmeckt fad wie ein nutzloses Medikament. Wer rettet uns vor dem Existieren? Trost findet er im Schreiben und Träumen. Hat nie etwas anderes getan als träumen. Träumen schärft seine innere Schau, lässt sie wirklich werden. Ein wirklicher Sonnenuntergang oder ein geträumter Sonnenuntergang – für ihn gibt es keinen Unterschied. Vom Leben wünscht er sich, dass es durch ihn hindurchgeht, ohne dass er es fühlen muss.
Reisen, wozu? Jeder Sonnenuntergang ist der Sonnenuntergang, es ist nicht notwendig, dass man ihn sich anderswo anschaut. Existieren ist Reisen genug. Und das Gefühl der Befreiung, das von den Reisen ausgeht? Das kann man erleben, wenn man von Lissabon in die Vorstadt fährt, intensiver als jemand, der von Lissabon nach China reist, denn wenn die Befreiung nicht in uns selbst liegt, ist sie nirgendwo. Der einzige wahre Reisende war ein Laufjunge in einem Büro, in dem Soares einst angestellt war. Sammelte Werbebroschüren von Städten, Ländern und Transportgesellschaften, besass Landkarten, aus Zeitungen herausgerissen oder hier und dort zusammengebettelt, aus Zeitungen und Zeitschriften ausgeschnittene Illustrationen: Landschaften, Bilder von exotischen Bräuchen, von Dampfern und Schiffen. Suchte die Reisebüros auf und erbat sich Prospekte über Reisen nach Italien, Indien, Australien. Er war nicht nur der grösste Reisende, er war auch einer der glücklichsten Menschen. Schade, dass er nicht weiss, was aus dem Jungen geworden ist. Gewiss ein reifer Mann, stupide und pflichteifrig, vielleicht verheiratet, eine soziale Stütze für irgendjemanden, bei lebendigem Leib verstorben, aber vielleicht erinnert er sich eines Tages, dass es nicht nur besser, sondern wahrer ist, von Bordeaux zu träumen als in Bordeaux auszusteigen.
Er steht am Fenster. Weiss nicht, was er fühlt, was er denkt, was er ist. Fühlt sich traurig, auch wenn er heiter und zufrieden ist. Er ist niemand. Dann wieder ist er jemand, aber ein anderer. Findet in der Schublade Notizen, vor zehn, fünfzehn oder noch mehr Jahren geschrieben, die ihm wie von einem Fremden geschrieben erscheinen. Unbekannte Kräfte tragen in der Tiefe der Seele eine Schlacht aus. Auf dem Grund seines Herzens herrscht Unruhe. Physischer Ekel vor der ordinären Menschheit, vor dem Leben steigt in ihm auf, und manchmal überkommt ihn die Lust, den Ekel zu vertiefen, so wie man ein Erbrechen hervorrufen kann, um den Brechreiz loszuwerden. Der Überdruss gehorcht keinen bestimmten Regeln. Es gibt träge Sonntage ohne ihn, dann überfällt er ihn plötzlich unverhofft mitten in aufmerksamer Arbeit. Man sagt, es sei eine Krankheit der Müssiggänger oder befalle nur diejenigen, die nichts zu tun haben, doch es ist nicht die Langeweile des Nichts-zu-tun-Habens, sondern das Gefühl, dass es sich nicht lohnt, irgendetwas zu tun. Und da dem so ist, muss man, je mehr zu tun ist, um so mehr Überdruss empfinden.
Glückliche Momente? Manchmal. Beim Betrachten des hohen blauen Himmels. Der Brise, die die Zweige der Bäume bewegt und die aufgehängte Wäsche flattern lässt. Der am Rand der Bürgersteige zum Verkauf ausliegenden Bananen, die ihm in grossem Gelb entgegenleuchten. Der Wolken, die sich vom Himmel abheben, noch immer vorbeiziehen und weiter vorbeiziehen werden. Seit die letzten Regenwolken nach Süden abgezogen sind und nur der Wind zurückblieb, der sie weggefegt hat, ist die Heiterkeit der Sonne zu den Hügeln der Stadt zurückgekehrt. Er geht aus dem Haus mit einem grossen Ziel, nämlich rechtzeitig ins Büro zu kommen. Fühlt Zufriedenheit, weil er am Leben ist. Fühlt sich glücklich, weil er sich nicht unglücklich fühlt. Fühlt sich frei, ohne zu wissen wovon. Geht gelassen und voller Gewissheit die Strasse hinunter, auch das ihm bekannte Büro und die Leute darin sind ja Gewissheiten.
Freunde hat er keine, keine realen, nur imaginierte, mit denen er Gespräche über die Wirklichkeit führt. Andere Menschen stören ihn in seinen Gedankengängen. Zu einem Kontakt mit jemand anderem gezwungen zu werden, belastet ihn, der Gedanke an eine gesellige Verpflichtung bringt die Gedanken eines ganzen Tages durcheinander. Der Freundschaft hat er nie getraut, an Liebe nie geglaubt. Auf allen Schauplätzen des Lebens ist er stets ein Eindringling, ein Fremdling, ein Aussenseiter. Nur einmal wurde er geliebt und hat selbst geliebt, fühlte sich anfangs benommen und verwirrt, dann überkam ihn Eitelkeit und irgendwann ein undefinierbares Gefühl aus Überdruss, Demütigung und Müdigkeit. Nichts von der Liebe ist geblieben, ausser Dankbarkeit für den Menschen, der ihn geliebt hat.
Noch einmal überliest er Abschnitt für Abschnitt alles, was er geschrieben hat, und alles erscheint ihm belanglos, eintönig, grau. Wozu hat er so viele Seiten mit Sätzen, mit Gefühlen gefüllt? Wozu sollen diese Seiten dienen, die dem Müll und dem Untergang geweiht sind? Und doch, eines Tages wird man vielleicht einsehen, dass er wie kein anderer seine Pflicht als Dolmetscher für einen Teil seines Jahrhunderts erfüllt hat, dann wird man schreiben, dass er zu seiner Zeit unverstanden blieb, dass er Ablehnung und Kälte zu spüren bekam und dass es schade ist, dass ihm das widerfahren ist. Am Abend, an dem er dies schreibt, ist der Regentag stehengeblieben, die Heiterkeit der Luft streift über die Haut, der Tag geht nicht in grau, sondern in blassblau zu Ende. Vages Blau spiegelt sich sogar auf dem Strassenpflaster wider. Zu leben schmerzt, aber nur von Weitem.
Meine liebsten Sätze: Mein Herz schlug, als ob es sprechen könnte. Plötzlich, wie ein Schrei, zersplitterte ein wundervoller Tag. Das Leben ist eine experimentelle Reise, die unfreiwillig unternommen wird. Wir leben alle in dieser Welt an Bord eines Schiffes, das aus einem Hafen ausgelaufen ist, den wir nicht kennen. Es ist unterwegs zu einem Hafen, von dem wir nichts wissen. Jeder Tag ist der Tag, der er ist, und nie hat es einen gleichen auf der Welt gegeben. Jeder Herbst, der ins Land zieht, steht dem letzten Herbst näher, den wir erleben werden. Und der Mond scheint mit seiner Kühle das ganze Geheimnis der Welt zu erleuchten. Grundsätzlich unterscheide ich einen Menschen nicht von einem Baum. Wie Diogenes den Alexander habe ich das Leben nur gebeten, es möge mir aus der Sonne gehen. Niemand wird mir sagen können, wer ich bin, noch erfahren, wer ich gewesen bin. Ich werde im Nebel versinken wie ein Fremdling. Und ich höre zu schreiben auf, weil ich zu schreiben aufhöre.