Urwang

Autor:Meinrad Inglin
Erscheinungsjahr:1954
Genre:Roman


Gelesen von Katrin Züger
Ein Fuhrmann kommt gefahren, mit Ross und Wagen, darauf Major Bonifaz von Euw und Sophie, sein Dackel. Wie gehts immer, Herr Major, fragt der Fuhrmann. Danke, man kommt davon. Und euch, Steiner? Alles gesund daheim? Der Vater will nicht mehr so, ist um hundert Jahre zurück. Wenns auf ihn ankäme, gäbe es im Urwang weder Elektrisch noch Telefon. Aber einmal muss es aufwärts gehen, und das wird es jetzt. Aufwärts wohin, fragt der Major. Das werde er noch sehen, sagt Steiner. Mit einer anständigen Strasse, nicht nur einem Drecksträssli, das für das Leiterwägeli, aber nicht das Postauto geeignet ist. Dem Major gefällts, wie es ist. Sie steigen ab, gehen den letzten Rest zu Fuss, betreten Steiners Wirtschaft.
Wang, ein Name, der da und dort in den Alpen vorkommt, für eine Geländeform, neben vielen anderen wie Matte, Büel, Tobel, Schachen, Hubel, Stutz, Plangge, Fluh, Balm, Furggel. Unklar ist, ob der oder das Wang. Aber warum Urwang? Zum ersten Mal wird das Tal in einer Urkunde aus dem dreizehnten Jahrhundert erwähnt, als Tal vor dem Urwangstock, knapp zweitausend Meter hoch, inzwischen knapp darüber, nachdem sie ein Steinmannli auf den Gipfel gebaut haben. Die Natur, das Wetter und die Jahreszeiten bestimmen den Gang der Dinge und der Menschen, zwangsläufig, in diesem abgelegenen, dünn besiedelten Tal mit den verstreuten Höfen. Eine Geschichte voller Lokalkolorit, mit Wörtern wie Kachel, Anken, Hung, Güggel, Mungge, Schneeglöggli, Bärendreckzeltli, Wäschezaine, Schnudernase, Türe schletzen, zurückgelitzte Hemdärmel, mit der Peitsche kläpfen. Doch jetzt hält der Fortschritt Einzug. Erstes Anzeichen: Das Brett mit der Aufschrift «Wirtschaft» im Büel wird ersetzt durch eine bemalte Tafel, die mit roter Schrift auf blauem Grund verkündet: «Gasthof zum Urwangstock».
Ein Kraftwerk ist geplant und ein Stausee, der die bäuerlichen Heimen überfluten wird. Fünf Bauernfamilien erfahren, dass sie ihre Heimat verlieren: Dörig vom Schachen, Gruober vom Stalden, Schlatter vom Grund, Steiner vom Büel, Ulrich von der Ebnematt, dazu Frauen und Kinder, die alle von harter Arbeit und wenig Besitz leben, auf einem Stück Land, mit ein paar Kühen, Geissen, Hühnern und so. Eine Geschichte voller Dramatik und bekannter Thematik, über den Abschwung der Landwirtschaft, den Aufschwung der Industrie, über Umweltzerstörung, Bevölkerungsexplosion, den Verlust von Heimat.
Für ein paar Tage hat sich das Militär im Gasthaus einquartiert. Vom Oberst erfährt Steiner, dass die Sache mit der Ausnützung der Wasserkraft im Urwang jetzt Fahrt aufnehme. Kein blosses Laufwerk sei geplant, sondern ein Speicherwerk mit einem Stausee, weil man Winterenergie brauche. Noch gebe es keinen endgültigen Beschluss. Man muss noch messen, wie viel nutzbares Urwangwasser durch die Enge hinausfliesst, denn alles hängt davon ab, wie gross im Winter die Wassermenge ist. Sie ist beträchtlich, das wissen die Anwohner längst. Steiner ist ganz aufgeregt, hat so etwas schon lange erwartet, wusste, dass es irgendwann kommen würde, auch wenn sonst niemand mehr daran glaubte. Hat sich schon lange gewundert, dass die vor mehr als zwanzig Jahren vom Kanton erteilte Konzession nicht schon früher ausgenützt wurde, hier, wo man doch einen jahrtausendealten natürlichen Staudamm hat und nur das Loch da drüben zumachen muss. Will die Gunst der Stunde nutzen und endlich mit der Zeit Schritt halten. Doch wie werden sich die anderen Einwohner dazu stellen? Die Aaschwandener Gemeinderäte rechnen nicht mit ernsthaften Schwierigkeiten.
Die Sache gibt viel zu reden. Die einen freuen sich über das Projekt, fürchten sich aber auch davor, denn mit der Konzession hat die Gesellschaft das Recht erworben, Enteignungen vorzunehmen. Die anderen haben kein Verlangen nach fortschrittlichen Umwälzungen, gehen wie seit Urväterzeiten zwischen Haus und Gaden hin und her, sind mit alten Sorgen und bescheidenen Hoffnungen beschäftigt. Es gehe um das allgemeine Wohl des Volkes, heisst es, das stehe über dem Wohl des Einzelnen, und jeder müsse Opfer bringen. Wird das Elektrizitätswerk denn für das allgemeine Wohl gebaut, und ist es so dringend notwendig, dass man den Menschen hier Gewalt antun darf? Nun, Elektrizität brauchen wir, ohne sie kann die Industrie nicht bestehen, und ohne Industrie kann das Land nicht bestehen. Fragt sich nur, ob es nicht endlich genug ist. Da wird gegen die Entvölkerung der Bergtäler lamentiert, gleichzeitig wird das Volk aus den Tälern vertrieben. Oder man redet von der Erhaltung des Bauernstands und sieht zu, wie ein Bauerngut nach dem andern der Industrie geopfert wird. Der Major versucht, den Bauern die verwickelten wirtschaftlichen Zusammenhänge zu erklären, aber mit dem Herzen ist er bei den Leuten und kann es nicht verbergen.
Längere Zeit geschieht nichts, der Alltag geht seinen gewohnten Gang, die Talbewohner scheinen unbeachtet von der Welt wie seit Jahrhunderten im Frieden zu leben. Dann taucht Wegmann auf, Beauftragter für Liegenschaftskäufe und Umsiedlungen der Urwang-Gesellschaft (Urag), die das Tal kaufen will. Besucht die Bauern, versucht sie zu überzeugen und einvernehmliche Lösungen zu finden, offeriert anständige Preise und will bei der Suche nach neuen Anwesen behilflich sein. Ihm liegt viel daran, dass alles freiwillig abläuft und kein Geschrei entsteht. Nur im äussersten Notfall soll enteignet werden.
Mehr Leute treffen ein, schürfen rätselhafte Gräben in den Stutzhang, treiben sich planend, messend, rechnend in der Gegend herum. Steiger, Chefingenieur der Bauleitung, will gleich loslegen, Wegmann ist noch nicht so weit. Was denn die Leute noch hier wollen, fragt Steiger. Sie wollen hier leben und sterben, sagt Wegmann. Das können sie doch anderswo so gut wie hier, meint Steiger. Das Projekt sei bis auf wenige Einzelheiten fertig. Steiger kennt übrigens den Major, von früher, vom Studium und vom Militär. Steiner ist Feuer und Flamme für das Projekt, erhofft sich viel für sein Gasthaus, gibt gerne einen Teil seines Landes für den Stausee. Doch als er erfährt, dass dies nicht reicht und der ganze Büelriegel überflutet werden soll, verfliegt die Euphorie.
Der Major unterhält sich mit Wegmann und Steiger beim Nachtessen im Wirtshaus. Fortwährend müssen Bauernsöhne und ganze Familien auswandern, weil sie in der Schweiz keinen Grund und Boden mehr finden, und trotzdem frisst die Industrie mit der Elektrizitätswirtschaft an der Spitze auch den sesshaften Bauern noch den Boden unter den Füssen weg. Ich begreife das nicht, tut mir leid. Die Zerstörung von Kulturland ist bedauerlich, antworten Wegmann und Steiger, und wird fortgesetzt, weil man vorläufig auf keine andere Art genügend Energie erzeugen kann. Er sei ja dankbar für die Elektrizität, sagt der Major, sie mache das Leben angenehmer, aber warum soll ich immer mehr davon verwenden, wenn sie fast nur noch auf Kosten von Bauerngütern, Wiesen, Wäldern und Alpweiden erzeugt werden kann? Warum muss man allen Haushaltungen elektrische Apparate anpreisen und möglichst viel Energie absetzen, wenn wir doch zu wenig davon haben? Nun, Bonifaz, dein altes Bauernland ist ein Industriestaat geworden. Aber das ist mitten in Europa doch ganz einfach unvermeidlich. So schlimm wird es schon nicht werden. Wir haben ja auch neuestens ein Bundesgesetz über die Erhaltung des bäuerlichen Grundbesitzes. Wir können das Rad nicht rückwärts drehen. Die Bauern werden vom Bund jedenfalls nicht vernachlässigt, und darüber hinaus gibt es, soviel ich weiss, Pläne für die Bergbauernhilfe, an der sich auch die Industrie beteiligt.
Er wehre sich ja nicht gegen die Krafterzeugung, sagt der Major, Kraftwerke sind unentbehrlich, sie dürften aber nicht weiter zur Vernichtung ganzer Täler führen, und die Industrie solle nicht ohne Rücksicht aufs Ganze weiterwuchern, Landwirtschaft, Gewerbe und Handwerk verdrängen und die Natur verhunzen. Prosperität, blühende Wirtschaft, Wohlstand, alles schön und recht, aber es gibt noch höhere Werte, und es ist eine Schande, wenn wir auf Kosten dieser Werte unseren Geldsack füllen. Ja, er würde durchaus, im konkreten Fall, das Urwangwerk, an dem die Gemeinde, der Kanton und bedeutende industrielle Kreise interessiert sind, am Widerstand von zwei, drei kleinen Bauern scheitern lassen. Er kenne die Urwanger Bauernfamilien, man nehme ihnen mehr weg als nur den Boden, der sie ernähre, man nehme ihnen die Heimat, in der sie zäher verwurzelt sind als Städter in ihrer Stadt.
Die Menschen werden froh sein, wenn sie in der Industrie Arbeit finden, entgegnet Steiger, besonders die Überzähligen aus dem Brutwinkel da hinten. Und damit kommen wir vermutlich einem weiteren Grundproblem auf die Spur: Die Menschen haben sich in den letzten hundertfünfzig Jahren stärker vermehrt als jemals in den Jahrtausenden vorher, und das geht offenbar so weiter. Indische und chinesische Wirtschaftspolitiker flüstern, dass man mit den Menschenmassen ihrer Riesenländer schon längst nicht mehr fertig geworden wäre, wenn nicht Hungersnöte und Seuchen jährlich mit Hunderttausenden aufgeräumt hätten. Wir in Europa aber können uns nicht auf Hungersnöte und Seuchen verlassen. Das wäre die Lösung für eine ganze Reihe von Problemen, ruft der Major lebhaft. So geht es hin und her zwischen dem Major, Steiger und Wegmann.
Der Winter hält sich in diesem Jahr nicht an den Winterfrieden. Baum um Baum kracht rauschend nieder. Der seit Menschengedenken geschonte und gepflegte Wald bekommt kahle Stellen. Ein Mischwald mit verschiedenen Bäumen jeden Alters, ein gesunder Wald, der sich selber verjüngt und keinen Tod haben sollte, ein Bergwald, der über seinen Holzertrag hinaus noch wichtigere Aufgaben zu erfüllen hat und daher unter dem Schutz des Gesetzes steht. Doch leider steht er auf allen unteren Hängen am unglücklichsten Ort. Wenn noch jemand am unaufhaltsamen Fortschritt gezweifelt hat, braucht er jetzt nur Augen und Ohren zu öffnen. Am Ende kommt keiner der Bauern darum herum, sein Anwesen aufzugeben und sich anderswo eine Bleibe zu suchen, zum Wohle des Fortschritts.