Alles muss seinen Himmel haben

Auswahl, Übersetzung und Vorwort von Martin Zingg

Autor:Joseph Joubert
Erscheinungsjahr:2018
Genre:Roman
Verlag:Jung und Jung


Gelesen von Katrin Züger
Wer ist Joseph Joubert? Ein Dichter? Ein Romancier? Ein Philosoph? Ein Träumer? Ein Moralist? Ein Essayist? Alles zusammen? Oder nichts davon? Sicher ist, dass er 1754 in Montignac-le-Comte in der Dordogne geboren wurde, in Toulouse Recht und Altertumswissenschaften studierte, 1778 nach Paris ging, sich dort als hochgeschätzter Gesprächspartner unter den intellektuellen Grössen seiner Zeit bewegte – Denis Diderot, Jean-Baptiste le Rond d’Alembert, Restif de la Bretonne, Louis de Fontanes, François-René de Chateaubriand. Dass er eine wohlhabende Frau heiratete, sich aufs Land zurückzog, Vater wurde, zwischen Villeneuve-sur-Yonne und Paris pendelte, wo Diderot ihn zu seinem Sekretär machte, dann der Kaiser zum Oberaufseher der Université de Paris, bis er 1824 als angesehener Bürger starb. Heute weiss man auch, dass er vierzig Jahre lang Aufzeichnungen machte, fast täglich, auf losen Zetteln und in über zweihundert Notizbüchern, selten länger als zehn Zeilen, mehr als tausenddreihundert Seiten, über alles, worüber sich nachdenken lässt – das Schreiben, die Sprache, die Literatur, die Menschen und ihre Leidenschaften, fremde Völker, Politik, Recht, Musik, antike Kunst, optische Geräte, die Milchwirtschaft, das Wetter, Religion, Liebe, Moral. Damals wusste niemand davon. Erst 1838 gab sein Freund Chateaubriand unter dem Titel «Pensées» eine erste Sammlung aus dem Nachlass heraus. Dabei wurden die Notizen, Einzelsätze, Fragmente, Skizzen aus der zeitlichen Folge herausgerissen, neu zusammengefügt, weggelassen und nach Themen gruppiert. Kein Wunder, galt Joubert lange Zeit als Aphoristiker. Heute noch finden sich Sentenzen auf Kalenderblättern und in Zitatensammlungen, doch der Name des Verfassers ist kaum jemandem geläufig. Wobei gewisse Notizen durchaus für den Aphoristiker sprechen:

«Alles, was sich auf mühelose Weise gut sagen lässt, ist schon wunderbar gesagt worden.»
«Das Schlechte ist der Dünger des Guten.»
«Ein Gedanke ist eine ebenso reale Sache wie eine Kanonenkugel.»
«Indem man die Götter verjagt, vergrössert man die Welt.»
«Alles Genaue ist kurz.»
«Ruhm. Es ist schöner, ihn zu begehren, als ihn zu haben.»
«Die Einfachheit ist die Feindin der grossen Dinge.»

Aufzeichnungen also. Keine Romane, keine Theaterstücke, keine weit ausholenden Essays, einige Aufsätze nur, in frühen Jahren, angefangen hat er aber viel mehr, etwa den «Éloge de Pigalle», den Nachruf auf den Bildhauer Jean-Baptiste Pigalle, oder den «Éloge de Cook», mit dem er an einem Preisausschreiben teilnehmen wollte – tausendzweihundert Pfund gab es zu gewinnen, viel Geld in jener Zeit, aber Joubert verlor sich in den Materialien, interessierte sich mehr für die Lektüre der vielen Schriften von und über James Cook als für die Niederschrift der Erkenntnisse. Von all den geplanten Büchern hat er keines fertiggestellt. Überhaupt hat er zu Lebzeiten keine einzige Zeile veröffentlicht. Auffällig auch, dass von seinem Leben und den Tagesereignissen und Turbulenzen jener Jahre – Nationalkonvent, Sturm auf die Bastille, Zeit der «Terreur», Napoleons Aufstieg, sein Staatsstreich 1799 – in den Notizen wenig bis nichts zu finden ist. «Die Notiz ist besser als das Buch», notierte Joubert.
Überhaupt das Buch, die Bücher – ein wiederkehrendes Thema:

«All diese Bücher lehren nichts über die Gegenstände, von denen sie handeln, aber sie lehren, darüber zu reden.»
«Die grosse Zahl der Bücher nimmt einem die Lust daran und tötet das Vergnügen.»
«Sie sagen, dass die Bücher leicht zu lesen sind, aber sie sind nicht leicht zu verstehen …»
«Wie gross kann die Zahl der Bücher werden, die man in einer Sprache schreiben kann?»
«Der grosse Nachteil von neuen Büchern ist der, dass sie uns daran hindern, die alten zu lesen.»

Ein Moralist scheint er nicht gewesen zu sein, seinen Aufzeichnungen fehlen die Rechthaberei, die Überspitzungen. Er schreibt für sich, wird von Einfällen heimgesucht, führt Selbstgespräche, in denen er erkunden will, was er (noch) nicht weiss, lässt Sätze abbrechen. Vieles bleibt fragmentarisch. Ein Denken im Vollzug, bei dem man zusehen kann, vieles aber nicht versteht, schon wegen der zeitlichen Distanz:

«Diese schönen Matrosinnen …»
«Zitterndes Blatt (Blatt einer Pappel) und die Bewegung des Trichters.»
«Fieber. In den Sümpfen der Vernunft.»
«Die Drehorgel und die Windharfe.»
«Der Automat von Vaucanson verdaute, sagt man; aber er ernährte sich nicht. Die Tiere des Abbé Mical äusserten Worte, die sie nicht hörten.»

Es genügte, wenn der Autor wusste, worum es ging, die Notizen waren ja nicht für die Publikation gedacht. Lässt sich immerhin sagen, wovon sie handeln? Lässt sich so etwas wie ein Kern herausschälen? Thematische Vorlieben? Obsessionen? Nun, er las Platon, Vergil, Homer («Was für ein Massengrab, diese Ilias! Nur Gemetzel.»), Montaigne, Montesquieu, Kant, Leibniz, Bacon, Locke, wechselte Briefe mit Fontanes, haderte mit Descartes, Racine, Rousseau, Voltaire. Der Glaube spielt eine gewisse Rolle, die Kosmologie, die Moral, die Antike und besonders die Sprache, deren Eigensinn und das prekäre Verhältnis zwischen Sprache und Denken, zum Beispiel auf der Suche nach dem treffenden Wort: «Ich glätte nicht meinen Satz, sondern meinen Gedanken.» Aber auch Tiere, fliegende vor allem, scheinen ihm wichtig:

«Der Wunsch, ein Vogel zu sein, eine Biene. Der Mensch spürt, dass sein Glück in der Luft liegt.»
«Wie Dädalus schmiede ich mir Flügel. Ich setze sie nach und nach zusammen, jeden Tag füge ich eine Feder hinzu.»
«Ich gebrauche die Flügel, die ihr mir gegeben habt, um mich von euch zu erheben.»
«Die Tiere machen den Ort bewohnbarer, fröhlicher, nahrhafter.»
«Platz schaffen, um seine Flügel zu öffnen.»
«Die Biene und die Wespe saugen an den gleichen Blumen, aber sie können nicht denselben Honig finden.»
«Die Tiere lieben jene, die mit ihnen reden.»

Erst 1938 wurden die Notizen erstmals in der Reihenfolge ihrer ursprünglichen Anordnung in einem zweibändigen Werk publiziert, herausgegeben von André Beaunier bei Gallimard unter dem Titel «Carnets». Bis heute kursieren sie nur unter Eingeweihten. Das Werk eines Literaten ohne Gattungszugehörigkeit. Der hier besprochene Band enthält eine Auswahl, die nur etwa einen Zehntel des Werks umfasst.
Zum Schluss noch dies:

«Die Anfänge sind gewöhnlich schöner als die Fortsetzungen. Die Kindheit ist schöner als das reife Alter. (Überlegen, warum.) Es trifft aber nicht zu, dass die Rose weniger schön sei als die Knospe.»

Man beginnt nachzudenken – und liest weiter, bis zum Ende, das nicht das Ende ist: «Das letzte Wort sei das letzte.»