Die Aeroplane in Brescia

Ediert von Martin Zingg

Autor:Franz Kafka / Guy Davenport
Erscheinungsjahr:2021
Genre:Prosaband
Verlag:Engeler Verlag


Besprochen von Klaus Isele
Die Idee ist reizvoll: Man nehme einen kurzen Text eines älteren Schriftstellerkollegen und baue ihn aus, verändere ihn, erzähle ihn in eigenen Worten, lasse die handelnden Personen neu agieren, über zusätzliche Themen philosophieren und erhalte dadurch einen durchaus eigenständig zu nennenden Prosatext.
Guy Davenport (1927-2005), amerikanischer Universitätsprofessor und Autor von Erzählungen, Gedichtbänden und Essays, hat dies mit Kafkas knapp 15seitigem Text „Die Aeroplane in Brescia“ aus dem Jahr 1909 praktiziert. „The Aeroplanes at Brescia“ ist vermutlich die früheste Erzählung von Guy Davenport; sie stammt aus seinem ersten, 1974 veröffentlichten Buch „Tatlin!“
Worum geht in den beiden Texten? Um die Reise der drei Freunde Franz Kafka, Max und Otto Brod nach Riva am Gardasee im September 1909. Kafka musste von Max Brod wochenlang zu dieser Italienfahrt überredet werden, und auch in Riva versuchte er den in Schreibschwierigkeiten steckenden Kafka zu einem kleinen Wettbewerb zu ermuntern: Jeder von beiden solle einen eigenen Bericht über die berühmte Flugschau von Brescia, an der mehr als 50.000 Menschen teilnahmen, verfassen. Neben einem Kafka- und Davenport-Text gibt es also noch einen dritten literarischen Brescia-Text. Glücklicherweise ließ sich Kafka auf Brods Vorschlag ein. Sein Text erschien bereits (allerdings um ein Fünftel gekürzt) am 29.9.1909 in der Prager Tageszeitung „Bohemia“, während Brods weitaus umfangreicherer Text in der Oktober/Dezember-Nummer der Zeitschrift „März“ publiziert wurde.
An der Flugschau in Brescia nahmen einige der berühmtesten Piloten ihrer Zeit teil: so etwa die Franzosen Comte Henri de la Vaulx, Henri Rougier und Louis Blériot (der kurz zuvor als Erster den Ärmelkanal überflogen hatte), die Italiener Mario Calderara und Mario Facciolo sowie der Amerikaner Glenn Curtiss. Pikanterweise waren die Gebrüder Wright damals ebenfalls in Europa, zogen es aber vor, in Berlin eine Flugschau zu absolvieren, weil sie wohl befürchteten, dass ihr eigenes Flugzeug dem ihres Landsmannes Curtiss technisch unterlegen sei. Dass Curtiss den mit 30.000 Lire dotierten Großen Preis von Brescia gewann, zeigt, wie taktisch klug die Gebrüder Wright damals gehandelt haben. Wenngleich ihre todesmutigen Pilotenkollegen sie damals vielleicht für Hasenfüße gehalten haben mögen.
Welch Aufsehen erregendes Ereignis die Flugschau von Brescia war, wird durch die Anwesenheit des Dichters Gabriele d’Annunzio (der später selbst Flieger wurde) sowie des Komponisten Giacomo Puccini unterstrichen.
Während Davenport 60 Jahre nach Kafka natürlich viel freier mit dem Sujet des Fliegens umgehen kann und auch den Philosophen Ludwig Wittgenstein in Brescia auftreten lässt, ist beiden Texten doch gemein, dass ihre Autoren schon in diesen frühen Texten ihre spätere Meisterschaft erahnen lassen. Während Kafkas Weltruhm schon seit längerem erstrahlt, ist Guy Davenport im nicht-englischsprachigen Raum erst noch zu entdecken. Deshalb ist besonders dem Übersetzer des Davenport-Textes und Verfasser eines kenntnisreichen Nachwortes, Martin Zingg aus Basel, für seinen jahrzehntelangen Spürsinn für zu Unrecht noch nicht ins Rampenlicht getretene Autoren zu danken.
Es ist eine sehr charmante Idee, diese beiden Prosastücke nebeneinander in einem kleinen Buch zu veröffentlichen. Merkt man Kafkas Text möglicherweise etwas an, dass der Schreibimpuls dazu nicht von ihm selbst ausging, so ist die Begeisterung fürs Fliegen, für das goldene Zeitalter der Himmelsstürmerei und für das Collagieren historischer Tatsachen mit fiktionalen Erzählsträngen bei Davenport schon ausgeprägter. Ein kleines Stück Kultur- und Literaturgeschichte, das man mit großem Vergnügen liest.