Die Einwilligung

Autor: Vanessa Springora
Erscheinungsjahr:2021


Besprochen von Martha Götz
Die Macht der Literatur. Die Macht der Worte.
Ein Buch einer Autorin erscheint, wird Bestseller, und die Bücher eines etwa vier Jahrzehnte älteren erfolgreichen Autors werden daraufhin aus den Bücher- und Verkaufsregalen genommen. „In Frankreich ist ein Buch erschienen, das in wenigen Tagen die halbe Welt veränderte.“ (Neue Zürcher Zeitung). Was ist passiert?
Me too – Eine Minderjährige, die damals gerade 14jährige Autorin, wird von dem deutlich älteren, in Frankreich bekannteren Literaten G. M. über zwei Jahre missbraucht – im doppelten Sinn, denn er hat das für seine Literatur zu seinen Gunsten ausgeschlachtet, indem er das Mädchen – dreist sogar unter Namensnennung – in seinem danach erschienenen Buch erwähnt, ihre (Liebes-)Briefe an ihn abdruckt, eine weitere übergriffige Missachtung ihrer Person. Von ihm wird diese eigentlich ja verbotene pädophile Beziehung (sowie andere, die er parallel zu minderjährigen Mädchen und Jungen unterhält), literarisch für Veröffentlichungen verwendet, beschönigend dargestellt und gerechtfertigt; durch seine Bekanntheit, aber auch dank seiner geschickten manipulativen Strategien wird sie geduldet durch das Umfeld, Verwandte, LehrerInnen und am verheerendsten eben durch die Mutter: „Weißt du nicht, dass er ein Päderast ist?“ (S. 44). „Anfänglich war meine Mutter alles andere als begeistert. Nach dem ersten Schock (…) fragte sie ihre Freunde und holte sich Rat. Niemand schien besonders beunruhigt zu sein.“ (51f.)).
Die Autorin Vanessa Springora zeigt in dem Jahrzehnte später, 2020 erschienen Roman zunächst die Perspektive des jungen Mädchens, das sich über die Zuwendung des illustren Literaten freut, sich geliebt und geehrt fühlt, ihn auch verteidigt, ist es doch immerhin ihr erster Lover. Die ganze „Einführung“ ins Liebesleben erfolgt durch ihn. Doch weiter schreibt sie, wie sie nicht nur das schwere Trauma zu verarbeiten versucht, sondern zu einer Art äußerst effektivem Gegenschlag mit denselben Mitteln, der Literatur, ausgeholt hat.
Das Werk jedoch lediglich als autobiographische schreibtherapeutische Betroffenheitsliteratur im Rahmen der Coming-Of-Age-Literatur einzuordnen, würde seiner Besonderheit nicht gerecht. Ihr Stil ist fast sachlich, dennoch emotional berührend, klar und analytisch in psychologischer Richtung, so erfahren wir genau, wie es dem Literaten gelingt, das Mädchen geschickt in seinen Bann zu ziehen und dazu zu bringen, ihm eben ohne Gewaltanwendung für seine sexuellen Lüste zur Verfügung zu stehen. „Ich könnte genauso gut aufstehen und gehen. G. macht mir keine Angst. Er würde mich nie zwingen, gegen meinen Willen zu bleiben, dessen bin ich mir sicher.“ (43). Seine Huldigungen, seine schmeichelnd-poetischen Liebesgeständnisse („Schau, er hat ein Gedicht für mich geschrieben.“ (44)), ja wie er diese Liebe „als schönste und reinste“ (126) und die Protagonistin als „auserwählt“ (48) bezeichnet und seine zentrale Botschaft, dass ja, wer nicht nein sagt, einverstanden ist und eben beim bzw. durchs Mitmachen bereits die Einwilligung gibt, und noch weiter gehend, dass ja Minderjährige von sexuell erfahrenen Erwachsenen in die Sexualität eingeführt werden sollten („In zärtlichem Tonfall brüstet er sich mit seiner Erfahrung und seinem Können, dank derer es ihm gelungen sei, auch sehr junge Mädchen zu entjungfern, ohne ihnen jemals wehzutun. Er geht so weit, zu behaupten, dass sie ihr ganzes Leben lang gerührt daran zurückdächten; was für ein Glück sie doch gehabt hätten, dass sie an ihn geraten seien und nicht an einen anderen, einen dieser brutalen Typen ohne jedes Feingefühl, die sie umstandslos auf die Matratze genagelt hätten“ (46)), stellt sie in ihrem Erleben als logische Folgen und Verkettungen aus der Sicht des Kindes dar, aber ebenso auch mit dem Blick der heute Erwachsenen, die mit den psychischen, physischen, sexuellen, ferner auch schulischen Folgen (Schulschwänzen, Schul-Rauswurf) des Missbrauchs Jahrzehnte massiv zu kämpfen hatte, was damals in ihr vorgegangen ist, wie sie völlig verunsichert, angeekelt und gleichzeitig magisch angezogen erstarrte, wenn er sich an ihr verging und dies schließlich für Liebe hielt („ich fühle mich geliebt wie nie zuvor.“ (47)), dabei jedoch um ihre Kindheit betrogen wurde, wie sie sich innerlich wehrte, die Ambivalenz („Meine Schenkel pressen sich reflexhaft in einer unkontrollierbaren Bewegung zusammen. Ich schreie vor Schmerz auf (…) Warum also weigert sich mein Körper? Warum diese unbezwingbare Angst?“ (46)) usw.
Überdies sucht die Autorin nach Gründen, welche Mädchen leichter zu solchen Opfern werden: Mädchen deren Vater abwesend ist, Töchter alleinerziehender Mütter, die dem narzisstischen Charme des Täters dadurch leichter erliegen („Vielleicht war sie (die Mutter) zu einsam, um anders zu reagieren. Vielleicht hätte sie auch einen Mann an ihrer Seite gebraucht, einen Vater für ihre Tochter, der sich gegen diese Abnormität, diesen Aberwitz auflehnt. Jemand, der die Dinge in die Hand nimmt.“ (52). Aber sie vermutet auch weitere Gründe: „Dafür hätte es wohl auch ein kulturelles Klima gebraucht, das weniger Nachsicht und Wohlwollen dafür gezeigt hätte als jene Zeit. Tatsächlich verteidigte eine große Zahl von linken Journalisten und Intellektuellen zehn Jahre vor meiner Begegnung mit G., gegen Ende der Siebzigerjahre öffentlich Erwachsene, die wegen ‚verbotener‘ Beziehungen zu Minderjährigen angeklagt wurden.“ (52). Der gesellschaftliche Hintergrund in den 1970er Jahren mit der allgemeinen Duldung der Pädophilie (siehe auch Odenwaldschule, TV-Diskussionen, Die Grünen u.v.a.) wird im Buch zum Teil referiert und kritisch beurteilt.
Sie beschreibt die furchtbaren Folgen: „Zum ersten Mal fühle ich mich langsam als Opfer, ohne dass ich den diffusen Zustand der Ohnmacht mit diesem Wort benennen könnte. (…) dass er mich jetzt benutzt, um sein Ansehen aufzuwerten, weil ich gegen meinen Willen zulasse, dass er seine literarische Propaganda weiterverbreitet. Nachdem ich dieses Buch (von G. M.) gelesen habe, habe ich das tiefe Gefühl, dass mein Leben schon verpfuscht ist, bevor ich es gelebt habe.“ (142) „Wie vorherzusehen war, scheitern all meine Versuche, wieder Fuß zu fassen. Die Panikattacken kehren im Galopp zurück.“ (143). Besonders die Auseinandersetzung mit G. M.s Buch über diese Beziehung wirft die Autorin in eine schwere Krise (145ff. Abmagerung, Schlafmangel, Alkohol und Psychopharmaka (151)), seine Bücher empfindet sie als Psychoterror, schließlich scheitern alle Versuche, rechtlich gegen ihn vorzugehen (154ff.), was weitere schockierende Aspekte aufzeigt, zumal nicht einmal das Abdrucken von Orten, Vornamen, Zeitangaben und weiteren Details, vor allem der Fotos des Mädchens rechtskräftig unterbunden werden kann. Die Autorin beschreibt die einzelnen letztlich vergeblichen rechtlichen Schritte; sogar gegen G. M.s Website konnte man nicht vorgehen (wegen eigenartiger Rechtslage bei Server im Ausland), schließlich gibt sie „schweren Herzens“ auf. „Wieder einmal hat er gewonnen.“ (156) Sie bemerkt, dass das in unserer Gesellschaft zu begründen und zu rechtfertigen ist mit den Freiheiten der Kunst, mit den Vorteilen, sich als Künstler/ Autor/Filmemacher usw., Vertreter einer Elite, einer Toleranz, blinder Bewunderung und Erstarrung sicher zu sein, die kein Urteil erlaubt. „Jeder andere, der beispielsweise in den sozialen Netzwerken die Beschreibung seiner Eskapaden mit einem philippinischen Jungen veröffentlichen oder mit der Sammlung seiner vierzehnjährigen Geliebten prahlen würde, bekäme es auf der Stelle mit der Justiz zu tun und würde als Krimineller betrachtet werden. Abgesehen von den Künstlern gehen nur Priester in solchen Fällen straflos aus. Entschuldigt die Literatur alles?“ (162).
Die Autorin hat wichtige Werke zur sexuell übergriffigen Verführung, wie De Laclos‘ ‚Gefährliche Liebschaften‘ oder Vladimir Nabokovs ‚Lolita‘ herangezogen, erwähnt Autoren wie Marcel Proust und Franz Kafka und zitiert auch aus den Werken des Autors, der sie „vereinnahmt“ hat (Springora), z.B. aus „Le moins de seize ans“. Heute arbeitet sie als Verlegerin, Verlagsleiterin „ausgerechnet in dem Verlag, der G.s Werk ‚Le moins de seize ans‘ veröffentlicht hat.“ (156), das Werk über die Vergötterung der Minderjährigen, die ihm so viel Freude bereitet haben. Er belästigt schließlich jahrelang sein inzwischen erwachsenes Opfer weiterhin mit seinen Briefen, in denen er es nicht lassen kann, „sich zu vergewissern, wie viel Macht er noch über mich hat.“ (157): „Wieder steigen stumme Wut, Zorn und Ohnmacht in mir auf. Vor meinem Monitor breche ich in Tränen aus“ (159), denn „der Inhalt ist seit dreißig Jahren der Gleiche: (…) Nie wird er mir verzeihen, dass ich ihn verlassen habe. Er entschuldigt sich für nichts. Die Schuldige bin ich, ich bin schuld daran, dass ich die schönste Liebesgeschichte beendet habe, die ein Mann und eine Heranwachsende je miteinander erlebt haben. Aber (…) ich gehöre ihm und werde ihm immer gehören, denn dank seiner Bücher wird unsere wahnsinnige Leidenschaft für immer und ewig die Nacht erleuchten.“ (158f.)
Bei diesem Bestseller überzeugen der Stil, die Erzählweise, die pointierten sprachlichen Bilder, die Ausdrucksweise. Keinerlei Anklage, kein Opferdiskurs. Sehr nüchtern und doch so, dass man das Verhalten der jungen Protagonistin nachvollziehen kann. Ihr Schachzug, den Autor (Gabriel Matzneff) mit seinen eigenen Waffen zu schlagen und in ein Buch einzusperren, ist genial. Das hat Konsequenzen gehabt: Nach der Publikation dieses Romans wurde Matzneff der Prozess gemacht, wurden seine Bücher von den Verlagen aus dem Programm genommen, die Bücher des etwa 80jährigen Autors sind heute nicht einmal mehr bestellbar.
Zu erwähnen sind noch die Kapitelüberschriften des Romans: Das Kind – Die Beute – Die Vereinnahmung – Die Ablösung – Der Stempel – Schreiben.
Dieser Roman ist ehrlich, authentisch und – erschütternd.