Reflexionen über Brücken



Von Peter Frömmig
"Leben ist Brückenschlagen
über Ströme, die vergehn..."
(Gottfried Benn)

Wäre ich Ingenieur geworden, hätte ich mich am liebsten dem Bau von Brücken gewidmet. Brücken, Viadukte und Stege, die einen Wasserlauf oder ein sonstiges Hindernis überwinden, Ufer und Menschen verbinden. Da ich nur mit Sprache und Gedanken etwas herstellen kann, sage ich: Erinnerungen stehen als Brückenpfeiler im Strom der Zeit, über die sich unser Leben als ein Brückenbogen spannt.
Eisenbahn- und Autobahnbrücken sind nur eine Fortsetzung der Straße oder der Schiene mit anderen Mitteln, sind vor allem eine Zweckmäßigkeit, um von A nach B zu kommen. Aber hohe Geschwindigkeit vermindert das eigentliche Brückenerlebnis, kann es verhindern. Ich bevorzuge Brücken, über die man ohne Beeinträchtigung gehen kann, die auch zum Verweilen einladen. Solche Brücken können ein Gefühl von Leichtigkeit vermitteln und Inspiration hervorrufen. Luftig über dem Wasser, das kraftvoll strömt oder gemächlich dahin fließt, dabei einen festen Halt haben, aufs Geländer gelehnt und die Gedanken dem Fließen überlassen.
In Tübingen sieht man von der Brücke, die über den Neckar in die Altstadt führt, hinüber zum Hölderlin-Turm. Dort lebte der Dichter Friedrich Hölderlin (1770-1843), nachdem er durch eine schwere Lebenskrise gegangen war, noch lange Jahre und bis zu seinem Tod in Obhut einer Schreinerfamilie. Nicht lange vor seinem Zusammenbruch hatte er 1802 in der Hymne „Patmos“ geschrieben: „Nah ist / Und schwer zu fassen der Gott. / Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch. / Im Finstern wohnen / Die Adler und furchtlos gehn / Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg / Auf leichtgebaueten Brücken. / Drum, da gehäuft sind rings / Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten / Nah wohnen, ermattend auf / Getrenntesten Bergen, / So gib unschuldig Wasser, / O Fittige gib uns, treuesten Sinns / Hinüberzugehn und wiederzukehren.“
Brücken ziehen seit jeher sowohl Liebespaare als auch Lebensmüde an. Unter Brücken suchen Obdachlose Schutz.
Es ist international zu einem Brauch von jungen Paaren, Verliebten und frisch Vermählten geworden, an Brücken Vorhängeschlösser anzubringen, um symbolisch ihre ewige Liebe zu bekunden, zu besiegeln. Die Liebeschlösser, wie sie bezeichnet werden, enthalten oft eine Beschriftung oder Gravur der Vornamen oder Initialen der Betreffenden, manchmal mit Datum. Nach Befestigung des Schlosses wird der Schlüssel in das überbrückte fließende Gewässer geworfen. An der Milvischen Brücke in Rom wird das mit dem Ausspruch „per sempre“ begleitet, das heißt „für immer“. Italien ist wahrscheinlich der Ausgangspunkt dieses inzwischen über viele Länder verbreiteten Rituals geworden. Als Tradition soll es im Serbischen Vrnjaka Banja schon seit dem Ersten Weltkrieg auf der „Liebesbrücke“ ein Brauch sein. In Deutschland sind die ersten Liebesschlösser im Spätsommer 2008 an der Kölner Hohenzollernbrücke angeschlossen worden. Seither hat sich das weit und zunehmend über das ganze Land verbreitet. Tonnenschwer hängen an manchen Brückengeländern diese Liebesbekundungen.
Etwa ein Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg durfte ich einmal bei der Einweihung einer neuen Brücke dabei sein. Sie führte über den Rhein bei Speyer, wo ich aufwuchs, um das pfälzische mit dem badischen Ufer zu verbinden. Im Krieg war die frühere Brücke, wie viele andere auch, aus strategischen Gründen zerstört worden; eine Fähre hatte danach die Brücke ersetzt. Mit anderen Schulkindern sah ich, wie Verkehrsminister Seebohm 1956 das Band zur Freigabe der Brücke durchschnitt, und ich klatschte und jubelte mit. Bald darauf erklärte mir mein Vater, der auf der nahen Schiffswerft Braun als Schweißer arbeitete, dass die Sprengung dieser Brücke schon in ihrer Konstruktion eingeplant sei. "Für den Ernstfall", wie er sagte.
Noch heute, wenn ich die Rheinbrücke bei Speyer überquere, denke ich manchmal daran, dass diese vielleicht nur auf Widerruf steht. Wer weiß, wie lange noch. Dennoch habe ich mir die Lust, über Brücken oder Stege zu gehen und mich auf ihnen aufzuhalten, immer erhalten.
Nach der deutschen Grenzöffnung von 1989 besuchte ich erstmals wieder meine Geburtsstadt Eilenburg, nahe Leipzig. Ich überquerte die Mulde auf der gleichen Brücke, über die ich als Kind jeden Monat an der Hand der Mutter gegangen bin. Der Weg führte von der Arbeitersiedlung jenseits der Mulde zum Eilenburger Rathaus, wo die Mutter das Kindergeld abholte. Und jedes Mal kaufte sie mir danach in der Bäckerei, die sich auf dem Heimweg kurz vor der Brücke befand, eine Leckerei. Jahrelang ging das so, in schöner Regelmäßigkeit, nichts lieben Kinder mehr als das. Es war immer eine Freude, über diese Brücke zu gehen, die Eilenburg-Ost mit der Altstadt verband. Die war im Krieg völlig zerstört worden.
Die Mulde war nach Kriegsende die Demarkationslinie zwischen den russischen und amerikanischen Streitkräften. Die Brücke war gesperrt und überwacht gewesen, wie ich aus den Erzählungen der Eltern erfahren habe. Der Vater, der aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrte, schwamm eines Nachts unter Lebensgefahr und bei Hochwasser über den Fluss. An den Posten, die auf der Brücke und an den Ufern aufgestellt waren, vorbei. Er muss ein Held gewesen sein. Oder er konnte es einfach nach dem langen Fußmarsch nicht ertragen, nun schon so nah bei der Familie zu sein und sie nicht wiedersehen zu können. Etwa neun Monate nach seiner Rückkehr kam ich zur Welt.
Diese zahllosen Brücken, in Kriegen immer wieder zerstört, um die Infrastruktur eines Feindeslandes zu treffen. Die Brücke am Kwai, die Brücke von Remagen, die Brücke von Sarajewo. Brücken sind in Kriegen immer hart umkämpft. Ein erschütterndes Beispiel dafür ist Bernhard Wickis Film „Die Brücke“, der die letzten dramatischen Tage des Zweiten Weltkriegs schildert. Eine Gruppe Jugendlicher wird in einer kleinen deutschen Stadt eingezogen zur militärisch bereits sinnlosen Verteidigung einer Brücke. Wie sich auf zunächst begeisterten, romantisch erhellten jungen Gesichtern allmählich das blanke Entsetzen abzeichnet, der Schrecken des Todes, wird keiner so leicht vergessen können, der den Film einmal gesehen hat.
Zu Zeiten des Balkan-Krieges, als die kommunistische Staatengemeinschaft des ehemaligen Jugoslawiens zunehmend zerfiel, unterschiedliche religiöse und ethnische Volksgruppen sich bestialisch bekämpften, wurde man erinnert, dass das Zerstören von Brücken strategische Operationen zur Schwächung des Feindes, zur gewaltsamen Trennung von Menschen sind. Selten sind so viele Brücken zerstört worden wie im Balkan-Krieg, hieß es. Ein Fernsehbild von damals: Eine hohe Brücke, ich weiß nicht mehr wo, wird von einer Bombe getroffen, als gerade ein mit Flüchtlingen überfüllter Omnibus darüber fährt. Zu sehen war, wie der Bus ins Schlingern kommt, das Geländer durchbricht, vornüber kippt und in die Tiefe stürzt. Bald darauf im Fernsehen ein anderes Bild, Schauplatz Belgrad: junge Menschen besetzen während der nächtlichen Bombardements mehrere Brücken im Zentrum der Stadt und harren aus in der Hoffnung, die Brücke möge sie schützen. Diese Brücke steht heute noch.
Nicht zu vergessen die Glienicker Brücke, sie erlangte als „Agentenbrücke“ weltweite Bekanntheit. Quer über die Brückenmitte verläuft heute die Landesgrenze zwischen Brandenburg und Berlin, zugleich die Stadtgrenze zu Potsdam. Ab 1952 wurde die Brücke für den privaten Autoverkehr gesperrt, danach konnten West-Berliner und Westdeutsche sie nur mit Sondergenehmigungen überqueren, indes DDR-Bürger bis 1961 nach einer Kontrolle hinüber konnten. Ein Militärkontrollposten der Sowjets stand dem der Alliierten gegenüber, ein weißer Strich in der Mitte markierte die Staatsgrenze.
Im Verlauf des Kalten Krieges kam es auf der Brücke nach Verhandlungen zwischen den USA und der Sowjetunion zum Austausch einiger hochrangiger Agenten, daher ihr Beiname „Agentenbrücke“. Es kam zwischen 1962 und 1986 auf der Glienicker Brücke zu drei Austauschaktionen mit insgesamt vierzig politischen Gefangenen. Ein spektakuläres Ereignis vom 11. März 1988 ist noch in Erinnerung. Gegen zwei Uhr nachts, durchbrachen drei Flüchtlinge in einem Lkw von Potsdam aus die Barrieren auf der Brücke nach Westberlin. Einen Tag nach dem Mauerfall, also am 10. November 1989, wurde die Glienicker Brücke wieder für jedermann geöffnet.
In dem Schauspiel „Ein Strich auf der Mitte der Brücke“ von Thor Truppel nimmt eine andere Fluchtgeschichte, die sich kurz nach dem Volksaufstand vom 17. Juni 1953 abspielt, auf der Glienicker Brücke ein tragisches Ende. Das Stück entstand nach Elementen aus meinem Hörspiel „Offene Geheimnisse“ und meiner Erzählung „Nimmerda“. Der viel jüngere, oft aufgeführte Dramatiker Thor Truppel aus Leipzig ist wie ich gebürtiger Eilenburger, wir begegneten uns in den Jahren nach der Einheit in unserer Geburtsstadt. Von Eilenburg aus nimmt die Flucht des Helden im Schauspiel ihren Ausgang, begann auch 1954 der Fluchtweg meiner Familie.
Begegnungen auf Brücken sind oft bedeutsam und symbolträchtig. Auf der Brücke von Torgau, während der Kämpfe am Ende des Krieges schwer beschädigt, trafen am 25. April 1945 erstmals Soldaten der amerikanischen und sowjetischen Streitkräfte zusammen. Ein Zeitungsphoto vom Mai 1994, fast fünfzig Jahre später, dokumentiert den umstrittenen Abriss der Brücke. Die einen plädierten für den Erhalt der lädierten Brücke als Denkmal, die andern hatten längst genug von allem Gedenken und genügend praktische Gründe, sie ganz abzutragen und zu entfernen. Letztere setzten sich durch.
Torgau hat heute eine schöne, vom Baustil der Renaissance geprägte Altstadt. Anders als Eilenburg, war sie von schwerem Bombardement verschont geblieben. Der Name Torgau fiel in meiner Familie oft, Verwandte der Mutter lebten dort. Die Mutter selbst stammte aus dem kleinen Dorf Bennewitz bei Torgau. Als ich die Stadt Torgau nach der Deutschen Einheit besuchte, bin ich zur Elbe hinunter gegangen und fand den immerhin noch verbliebenen Brückenkopf der einst geschichtsträchtigen Brücke von Torgau sowie eine Gedenktafel, die an das Ereignis erinnert.
Jeder Abriss, wenn auch aus triftigen Gründen, kann dem Gedächtnisschwund Vorschub leisten. Wo die Furie des Verschwindens regiert, feiert auch das Vergessen seine schwarzen Messen. Durch Abriss und Neubau glaubte man nach dem Zweiten Weltkrieg ein neues, befreites Leben beginnen zu können. Doch die Gespenster der Vergangenheit wird man damit nicht los, sie folgen als Schatten auf Schritt und Tritt.