Himmel, Hölle und andere Reiseziele

Autor:Hendrik Bicknäse
Erscheinungsjahr:2021
Genre:Gedichtband
Verlag:Verlag Atelier im Bauernhaus


Besprochen von Klaus Isele
Der Autor Hendrik Bicknäse war mir bislang unbekannt. Er dagegen könnte meinen Namen gekannt haben, weil er durch seinen Verleger Wolf-Dietmar Stock sehr höflich anfragen ließ, ob ich Interesse an seinem neuen Band mit Gedichten und Essays hätte. Herr Bicknäse wohnt in Göttingen, sein Verlag Atelier im Bauernhaus, den ich seit den 1980er Jahren schätze und bewundere, residiert von mir aus gesehen noch weiter im Norden, in Fischerhude bei Bremen. Prinzipiell ist mir Literatur aus Süddeutschland, Österreich und der Schweiz näher. Dass Hendrik Bicknäse zeitweise auch in Polen lebt, lässt mein Interesse nicht unbedingt wachsen. Viel Verbindendes sehe ich auf den ersten Blick nicht. Einzig das Tessin, wo sich der Autor ebenfalls des öfteren aufhält, könnte als eine Art Bindeglied herhalten. Vielleicht fährt Herr Bicknäse auf dem Weg von Göttingen ins Tessin manchmal hier am Hochrhein vorbei, wer weiß…
Das spielt für die im Band „Himmel, Hölle und andere Reiseziele“ versammelten Texte aber keinerlei Rolle. Ob es für die Rezeption der Texte eine Rolle spielt, dass der Philosoph, Kunstvermittler und Publizist Hendrik Bicknäse bislang Hörspiele, Features, Lyrik, Essays, Romane, Literaturwissenschaftliches und Übersetzungen publizierte sowie von 1985 bis 2007 Kunstausstellungen im In- und Ausland kuratierte, werden wir sehen.
Sein neues Buch liegt vor mir. Den Prosatext „Versuch über den Individualismus“, mit dem der Band eröffnet wird, überspringe ich und lese stattdessen die ersten Zeilen den Gedichts „Stille“: „die Diktatur des Lärms / macht gerade Pause / jemand hat einen Schalter / im Maschinenraum der Gesellschaft / umgelegt und verschont uns seither / gnädig mit dem Müll an Höreindrücken / mit dem wir zu leben / gelernt hatten.“ Und einige Strophen später: „vermisst wird in der Stille / noch mehr Stille / wer einmal von ihr gekostet hat / kann von ihr nicht lassen / Stille besitzt Suchtpotenzial.“
Hat Hendrik Bicknäse dieses Gedicht vor oder während der Corona-Pandemie geschrieben? möchte man ihn fragen. So oder so … Er spricht mir aus der Seele. Ebenso wie Sören Kierkegaard, der gesagt hat: "Wenn alles still ist, geschieht am meisten.“
Wovon handeln die Texte von Hendrik Bicknäse? Zum Beispiel von Freiheit und Glück, Gerechtigkeit und Sprachverhunzung, von Schönheit, Liebe, der zeitlosen Zeit, Vergebung und Ungleichheit. Bicknäse knüpft sich kämpferisch die Verantwortlichen in Politik und Medien vor sowie unsere Digitalkultur, die stets um die allerletzte Aktualität kreist. Er beschäftigt sich auch mit der Mikrobenwelt, wo der Mensch gerade das Pech hat, als Kollateralschaden gemäß der shit-happens-Hypothese des Mikrobiologen Bruce Levin zu fungieren. Etwas salopp könnte man über die in diesem Buch versammelten Texte sagen: Sie sind Stachel im Hintern einer Gesellschaft, die immer bequemer, oberflächlicher und selbstsüchtiger wird.
Was den Sprachstil, die Machart der Gedichte und ihre Originalität und Unverwechselbarkeit angeht, so agiert mir Hendrik Bicknäse etwas zu lehrerhaft-rechthaberisch, aber in der Sache muss ich ihm immer recht geben. Ein Buch, das unsere gegenwärtigen Zeitläufte klug analysiert und engagiert Stellung dazu nimmt.