Von und über Friedrich Dürrenmatt

Der Schriftsteller hätte dieses Jahr seinen 100. Geburtstag feiern können



Von Dominik Riedo
Zum Glück ist man etwas sensitiver geworden: Als Dürrenmatt 1990, im Jahr vor den aufgeblähten Feiern zum 700-Jahr-Jubliäum der ‹Schweiz› (die moderne Schweiz entstand mit der Bundesverfassung 1848 – oder allenfalls nach dem Einmarsch von und der administrativen Zusammenlegung durch Napoleon 1798) mit 69 Jahren verstarb und nichts mehr persönlich dazu sagen konnte, missbrauchte man sein Theaterstück ‹Herkules und der Stall des Augias›, um es im Schweizer Parlament, genauer im Nationalratssaal, aufzuführen und dadurch auch zu vereinnahmen (die Bewilligung kam von seiner zweiten Ehefrau).
Dies bei einem Schriftsteller, der zwar nicht wie sein fast lebenslanger Antipode oder auch Bruder im Geiste Max Frisch (1911–1991) die Schweiz fast schon auf Schritt und Tritt kritisch beleuchtet hatte, aber Dürrenmatt konnte ebenso überaus zynisch auf sein Heimatland zu sprechen sein (man siehe sich etwa das Buch ‹Heimat im Plakat› an) – und dass er dem Schweizer Staat seinen Nachlass hinterliess, verband er mit der Verpflichtung, ein Schweizerisches Literaturarchiv zu gründen, was den Staat dann doch ziemlich viel kostetet und kostet. Der ‹gmögigere› der beiden Schweizer Dioskuren im Zwanzigsten Jahrhundert liebte es, seinen Verhandlungspartnern auf solche Weisen immer wieder mal ans Bein zu pinkeln.
Nun sind also in diesem Jubiläumsjahr, in dem Dürrenmatt am 5. Januar einhundertjährig geworden wäre, viele neue und alte Werke auf dem Buchmarkt erschienen. Zwei davon aus dem Diogenes-Verlag, dem Stammverlag Dürrenmatts seit den 1980er-Jahren: Eine Biographie über ihn und ein kleines Büchlein mit ausgewählten Sentenzen aus seinem Werk quasi als knappste Auswahl von Texten von ihm.
Zuerst zur Biographie: Geschrieben hat sie Ulrich Weber – und das ist schon mal eine Glücksfügung. Denn Weber kennt sich nicht nur im Werk Dürrenmatts aus, sondern er ist auch der Kurator des Dürrenmatt-Nachlasses im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern und war ebenfalls im Centre Dürrenmatt in Neuchâtel tätig, also am ehemaligen Wohnort Dürrenmatts, wo dessen Bildnachlass zu grossen Teilen gesammelt liegt. All das hilft der Biographie spürbar.
Denn Weber arbeitet zum Beispiel akribisch heraus, wie Dürrenmatt seine Leser etwa zu Fragen von Recht und Moral hinzuführen verstand, indem er sie in abgründige Parabeln und spannende Kriminalgeschichten verpackte. Er zeigt aber auch, dass Dürrenmatt ein Erkenntnisskeptiker gewesen ist, der trotzdem nie seine aufklärerische Grundeinstellung aufgegeben hatte. War er doch so richtig nur in seinen eigenen Werken ein Weltenschöpfer, in denen normal gültige Logik manchmal nicht mehr anerkannt wurde oder wirklich nicht mehr gültig war.
Weber erklärt weiter, dass der Schriftsteller trotz seiner Breiten- und Tiefenwirkung an sich ein Solitär gewesen sei, manchmal trotz vieler Freunde recht allein, vor allem aber ohne Schule oder ohne eine von ihm geprägte Theatermethode. Und mit Erstaunen nimmt man zur Kenntnis, dass der Schweizer Autor eigentlich nur zwischen 1952 und 1962 seine dann wirklich weltweit umfassende Wirkung entfaltenden Werke schrieb, danach wurde es mit Verzögerungen wieder ruhiger um ihn – wenn nicht gerade ein Jubiläum anstand. Dabei – und auch das legt Weber klärend offen – wären seine ‹Stoffe› vermutlich effektiv seine wichtigste Werkgruppe, mit der Dürrenmatt für das autobiographische Schreiben gänzlich neue Massstäbe gesetzt habe.
Doch geht in einer derart umfassenden Biographie – übrigens die erste, die sich so nennt und gleichzeitig derart umfangreich ist (über 700 Seiten) und das gesamte Leben Dürrenmatts abdeckt; und trotzdem nennt Weber sie bescheiden nur ‹eine Biographie› – ihr Verfasser noch tiefgreifender vor: Er führt dem Lesenden Dürrenmatts Entwicklung vor vom Pfarrerssohn – die Stellung des Künstlers als eine Art alter deus kommt bei Dürrenmatt letztlich ziemlich sicher von seiner Kindheit und der Jugend – über die jungen Jahre mit riesiger Gestaltungslust (etwa zu sehen an der gestalteten Mansarde an der Laubeggstrasse in Bern) und über die Phase als junger Schriftsteller, ein fast jederzeit geselliger und unterhaltsamer junger Mann, der ganze Tischrunden in seinen Bann zu schlagen vermochte, bis zu seinen reiferen Jahren als geschickter Provokateur, der bei öffentlichen Auftritten immer für eine Überraschung gut war, bis hin zu noch einmal einem entscheidenden Wechsel in den letzten beiden Lebensjahrzehnten, in denen er wie eine Art barocker Dichterfürst auf seinem Anwesenden oberhalb des Neuenburgersees thronte (inklusive riesigem Weinkeller), belästigt nur von seiner schon früh aufgetretenen Diabetes (1951 diagnostiziert) und entscheidend dann vom Tod seiner ersten Ehefrau Lotti Geissler 1983.
Wirklich an sich heran liess er in jenen Jahren noch seine zweite Frau Charlotte Kerr und der ihm wichtig gebliebene Vergleich mit Max Frisch, mit dem ihn der Wettbewerb verband, etwa, wer denn als erster den Literaturnobelpreis gewinnen würde (beide waren regelmässig vorgeschlagen, erhielten ihn aber nie).
Dürrenmatt hatte mal gesagt, dass er eigentlich keine Biographie habe. Und es stimmt ja in dem Sinn, dass er nicht wie andere Autoren weitgereist war, mit Freunden in aller Welt (der umfangreichste Briefwechsel mit Kollegen ist jener mit Max Frisch, bei dem aus vierzig Jahren ganze zehn Briefe von Dürrenmatt überliefert sind; Frisch schrieb immerhin 25). Er führte äusserlich ein ruhiges, bürgerliches Leben mit drei Kindern. Er war nicht im Krieg, nicht im Exil, hatte keine verrückten Liebschaften (mit einer Ausnahme). Er war der Mann der inneren Welten, was zählte, war sein Werk. So konnte seine Autobiographie dann eben auch als Geschichte seiner Stoffe konzipiert werden.
Und so widmet sich Weber denn auch allen Stoffen: Er führt den Leser von den ersten schreibenden Gehversuchen Dürrenmatts über das erste Theater ‹Es steht geschrieben› (1947), mit dem bereits ein Skandal heraufbeschworen wurde, über die frühen Kriminalgeschichten um den Kommissär Bärlach hin zu den grossen Welterfolgen Dürrenmatts, zu ‹Der Besuch der alten Dame› (1956) und ‹Die Physiker› (1962). Um von dort den weiteren Weg des Denkers über die vielen Versuche, doch noch einmal etwas fürs Theater zu schreiben, das Weltgültigkeit erlangen könnte – ohne jedoch nach ‹Der Meteor› (1966) nochmals an seine zwei oder eben drei Welterfolge anschliessen zu können (Marcel Reich-Ranicki nannte noch ‹Die Panne›) –, nachzuzeichnen, eine Zeit, in der die riesige Textmasse der ‹Stoffe› entsteht, die erst mit dieser Biographie so richtig erfassbar wird.
Ulrich Weber verknüpft also Leben und Werk durch viele Verbindungen, zeigt Parallelen im Werk auf, mit umfangreichen Seitenblicken, ohne aber die breiten Lebensstränge aus den Augen zu verlieren, also ein Leben, das zwar auch bei Dürrenmatt kein Kontinuum war, aber mit der Biographie nun besser erfassbar ist. Selbst ins Bildwerk – bei dem sich Weber, ich habe es gesagt, auskennt – taucht der der Biograph ein und lässt uns den Spiraldenker Dürrenmatt, dieser Kosmos eines Menschen, selbst von dieser Seite her ins Leben und ins Werk blicken.
Alles in allem wirklich eine umfassende und gute Biographie, die auf Jahrzehnte hin ihren Dienst tun wird.
Womit wir beim kleinen Sentenzen-Büchlein wären, der Auswahl namens ‹Gedankenschlosser›, bei dem der Herausgeber und also Auswählende beim besten Willen nicht herauszufinden ist. Aber lassen wir demnach ganz das Büchlein wirken.
Es sind darin bedenkenswerte Sätze aus dem gesamten Werk Dürrenmatts ausgewählt, die hier alphabetisch von A wie ALLTAG und AUFKLÄRUNG bis hin zu Z wie ZUKUNFT für die Leserin und den Leser bereit sind. Es wurden mit WELTUNTERGANG oder auch den berühmten 21 PUNKTEN ZU DEN PHYSIKERN beziehungsweise mit GLAUBE oder THEATER für den Schriftsteller wichtige Begriffe ausgewählt. Aber auch HEIMAT, HUMOR und LIEBE sowie MACHT sind in Dürrenmatts Welt wichtig. Für Einsteiger ins Werk des Schriftstellers sind Sentenzen im Bereich MENSCH oder SÄTZE FÜR ZEITGENOSSEN vorhanden. Schliesslich ziehen sich die sehr kurzen GEDANKENSPLITTER über sechs Seiten hin – wie überall hier mit der Angabe, wo im Gesamtwerk Dürrenmatts man die zitierten Stellen findet.
Also ganz klar nichts für Kenner, aber wer einen allerersten Einblick möchte oder seine Kenntnis des Werks und der wichtigen Punkte im Leben Dürrenmatts aufzufrischen versucht, der kann sich das kleine, sehr handliche Buch in die Westentasche stecken und hat unterwegs etwas anderes zu lesen als bloss das, was auf seinem Smartphone so erscheint.

Friedrich Dürrenmatt: Gedankenschlosser. Über Gott und die Welt. Zürich: Diogenes 2020 / Ulrich Weber: Friedrich Dürrenmatt. Eine Biographie. Zürich: Diogenes 2020