Tage mit Felice

Autor:Fabio Andina
Erscheinungsjahr:2020
Genre:Roman
Verlag:Rotpunktverlag


Rezensiert von Katrin Züger
Ein zauberhaft poetisches Buch über das Nichts und alles andere, ein Roman, der von den elementaren Dingen des Daseins erzählt, vom Unglück der Menschen, am meisten aber vom Glück der Kargheit, so befreiend wie wenig an­deres in unseren Tagen, schreibt ein Rezensent. Und wir schauen hingerissen und gebannt in diesen Mikrokosmos und in das Leben eines alten Mannes, der in der Seele ewig jung bleibt und dessen Tage beginnen und vergehen, einer wie der andere, schreibt ein anderer. Klingt gut, denke ich, könnte mir gefallen. Ich habe mir das Buch gekauft und es in einem Zug gelesen. Eine Übersetzung aus dem Italienischen, wunderbar gelungen, scheint mir, auch wenn ich nicht mit dem Original vergleichen kann. Bin dennoch über das eine oder andere Wort gestolpert. «Gumpe» zum Beispiel, von elementarer Bedeutung in der Geschichte (italienisch la pozza = «Pfütze, Lache»). Gumpe? Nie gehört. Nach Duden süddeutsch, von mittelhochdeutsch gumpe = «Wasserwirbel», Herkunft ungeklärt, nach anderer Quelle ein von einem Bergbach über Jahrhunderte hinweg in den Fels geschliffenes Becken, das mehrere Meter tief sein kann. Dann die Möhren, Walnüsse, Semmelbrösel, Einweckgläser, das Spülbecken, die Tüte, die Harke, der Bürgersteig, das Krankenhaus, in Rente sein, parken – statt Rüebli, Baumnüsse, Paniermehl, Einmachgläser, Schüttstein, Sack, Rechen, Trottoir, Spital, pensioniert, parkieren. Wäre es nicht schön, ein bisschen Lokalkolorit zu bewahren, wo es doch ums Tessin geht und Lokales durchaus eine Rolle spielt, etwa wenn vom harten Dialekt des Bleniotals die Rede ist, von Minestrone, Gnocchi, Steinpilzrisotto …
Felice also, neunzig Jahre alt, lässt die Tage einen wie den anderen beginnen und vergehen, immer ruhig und gelassen, heiter und zufrieden, nie verzweifelt, nie fluchend, sagt kein überflüssiges Wort, pflegt einen liebevollen Umgang mit den Leuten. Wohnt im Weiler Leontica, an der westlichen Flanke des Bleniotals, das sich vom Lukmanierpass nach Biasca erstreckt, wo das Leben rau ist und man schauen muss, wie man über die Runden kommt. Hat sein Leben lang als Maurer gearbeitet, das Tal hinauf und hinunter. Steigt jeden Morgen in aller Frühe den Berg hinauf, im Sommer und im Winter, bei Sonnenschein, Regen, Frost, Schnee oder Eis, springt dort in eine Gumpe, taucht ein, wäscht sich, steigt hinaus, stellt sich zum Trocknen auf einen Felsbrocken. Niemand weiss, seit wann und warum er es tut, vielleicht nicht einmal er selbst. Soll er sich den Kopf zerbrechen über eine Gewohnheit, die ihm eine Sehnsucht eingegeben hat, von der er nichts Näheres weiss? Wer ihn dort oben sähe, würde einen glücklichen Menschen sehen, der nicht umsonst Felice heisst. Nach dem Bad, wieder zuhause, brüht er Kräutertee, holt den alten Suzuki aus dem Schuppen, den er immer erst anschieben muss, weil die Batterie kaputt ist, fährt hinunter in die Dörfer im Talboden, isst mal hier, mal dort, trinkt Tee, liest die Zeitung, bringt den Nachbarinnen das eine oder andere aus dem Garten vor­bei, Kakis, Mangoldstiele, Pilze, im Tausch gegen Eier oder Käse.
Der Ich-Erzähler, nennen wir ihn Fabio, vierzig Jahre alt, ist von der Stadt in die Berge gezogen, um hier Ruhe zu finden, nachdem er seine Stelle verloren hat. Kennt die Gegend, weil er als Kind hier die Sommerferien verbracht hat. Felice ist sein Nachbar. Fabio fragt ihn, ob er ihn ein paar Tage begleiten dürfe, um ein bisschen so zu leben wie er.
Am nächsten Morgen, es ist noch nicht halb sechs, holt ihn Felice ab, offenes Hemd, kurze Hose, barfuss, bei fünf Grad. Sie gehen durchs Dorf, tauchen in den Nebel ein, steigen hoch durch den Kiefernwald, langsam wird es Tag. Weiter durch Heidelbeersträucher, Alpenrosen, vielleicht auch Alpenazaleen. Hier und da sind die Umrisse von Latschenkiefern und Tannen zu erkennen. Es regnet, der Wind peitscht ihnen ins Gesicht. Wolken steigen auf, die Berge zeichnen sich vor dem allmählich heller werdenden Himmel ab. Nach endlosem Schweigen sagt Felice bòn und bleibt stehen. Da liegt sie, die Gumpe, ein bleigrauer Fleck zwischen schwarzen Felsen, unterhalb der Alpe del Gualdo, auf tausendvierhundert Meter, eine kreisförmige Vertiefung von zwei Meter Durchmesser, gehöhlt in einen gewaltigen Granitfelsen.
Felice zieht sich aus, steigt ins Becken, taucht ein, richtet sich auf, steigt hinaus. Fabio hält den Atem an, friert, es regnet, es ist dunkel, aber er hat es so gewollt. Zieht sich aus, springt hinein, stösst einen Schrei aus, schrammt sich die Knie am steinigen Grund, ist mit einem Satz wieder draus­sen. Zu kalt, um unterzutauchen. Dann stehen sie da, nackt und schweigend, um sich vom Wind trocknen zu lassen. Es hört auf zu regnen, Nebelstreifen steigen vom Talgrund auf, hüllen sie ein, kalt und feucht. Der Nebel verzieht sich, die Wolken lösen sich auf, ein Sonnenstrahl trifft sie, das Tal fängt Feuer. Sie ziehen sich an und gehen in den Tag hinein.
Steigen hinunter ins Dorf. Felice feuert ein, es wird angenehm warm. Im Nu steht das Frühstück bereit, bitterer Kräutertee, Nussjoghurt, dunkle Schokolade, Brot und Mar­roni, kalt und hart wie Stein. Setzen sich draussen auf die Granitbänke. Über ihren Köpfen ein ständiges Hin und Her und Gezwitscher von Mehlschwalben. Hunderte, Tausende. Bilden Kolonien zum Wegzug. Lassen sich, von unsichtbarer Hand gelenkt, alle auf einmal auf den Stromleitungen nieder, fliegen auf, drehen eine Runde über den Stein­dächern, kehren auf die Leitungen zurück. In den letzten Jahren sind sie immer später aufgebrochen. Neben dem Haus Felices Gemüsegarten, gut gepflegt. Salat, Radieschen, Lauch, Kartoffeln, Zwiebeln, Knoblauch, Petersilie, Sellerie, Mangold, Rosmarin, Salbei, Lavendel, Minze, Thymian, Malven, Birken- und Buchenlaub, wo im Sommer die grünen Bohnen wuchsen. In der einen Ecke ein alter Birnbaum, in der anderen ein Kakibaum, voll mit Früchten, an der Gartenmauer ein Komposthaufen. Felice trägt alles dahin, was an Abfällen in der Küche zurückbleibt, das Kerngehäuse eines Apfels, die Schalen der gerösteten Kastanien, Käserinden, die Kräuter, mit denen er Tee aufkocht, weiss, dass das der Weg ist, den er einst selbst gehen wird.
Einst gab es in Leontica überall Kühe und Ställe. Auch wer kein Bauer war, hatte mindestens eine Milchkuh, neben Mastschweinen, Schafen, Ziegen, Kaninchen, Hühnern. Von September bis Juni, wenn die Kühe nicht auf der Alp waren, wurde ihre Milch zur Käserei gebracht. Als das Dach einstürzte, kauften Fabios Eltern das Haus als Ferienhaus und liessen es von Felice renovieren. Seit einem Jahr wohnt Fabio darin. Die Milchsammelstelle verlegte man ins Gemeindehaus, moderner, hygienischer, vorschriftsgemäss. Heute gibt es nur noch Milch von einem einzigen Bauern. Felice holt den Suzuki aus dem Schuppen, zusammen fahren sie los, auf den Dorfplatz, gehen in den Laden, kaufen ein. Fahren weiter, talwärts, halten am Strassenrand, Felice geht zu einem trockenen Bachbett, sammelt Kastanien auf, bringt sie einer Bekannten im Nachbardorf. Die Bekannte sagt mèrsi statt grazie, wie es im Tal üblich ist. Eine Abwandlung des französischen Worts, mitgebracht von ausgewanderten Kaminfegern, die mit etwas Geld aus Paris zurückkehrten.
Fahren weiter nach Olivone (Felice sagt Rivöii), gehen in die Bar La Regione. Felice blättert in der Zeitung, fängt mit der letzten Seite an, tunkt beim Lesen den Teebeutel in die Tasse, rührt mit dem Teelöffel um, obwohl er keinen Zucker hineingetan hat. Stürzt den Tee hinunter, steht auf, bezahlt und geht. Sie fahren weiter südwärts. Am Fenster ziehen die typischen alpinen Postkartenansichten des Hochtessins an einem Spätherbsttag vorbei. Parkieren am Ufer des Brenno, setzen sich auf einen Stein, stecken die Füsse ins kalte Wasser. Das Wasser strömt vorbei, beständig und zuverlässig wie das Vergehen der Zeit. Hoch und frei am klaren Himmel kreist ein Vogel. Ein Steinadler vielleicht oder ein Bartgeier. Wer weiss, was er von dort oben alles sieht. Vielleicht erkennt er sie, zwei winzige Punkte am Ufer des Brenno. Glockenschläge durchfluten das Tal. Die von Lottigna machen den Anfang, gefolgt von denen von Prugiasco und Castro am anderen Flussufer, gleich darauf die von Dongio und als letzte die oben in Corzoneso und Leontica. Zehn Uhr. Sechzig Schläge. Verklingen über dem Tal, und das Rauschen des Flusses wird wieder stärker. Sie fahren nach Prugiasco fürs Mittagessen in der Trattoria del Passo. Kartoffelstock mit Spiegeleiern für Felice (er ist Vegetarier), Ossobuco für Fabio. Dann zurück nach Leontica.
Gehen noch etwas herum, zur Brücke über den Gu­rundin, der das Dorf in zwei Teile teilt, steigen einen alten Maultierpfad hoch, an einer goldenen Lärche vorbei, auf den Stromleitungen wieder die Mehlschwalben, Hunderte, Tausende, alle ordentlich nebeneinander, dennoch unruhig wegen des bevorstehenden Aufbruchs. Vielleicht morgen, bei Sonnenaufgang. Gehen zur Sesselliftstation, trinken Wasser am Brunnen, es ist so kalt, dass es die Zähne spaltet. Laufen über eine Wiese, spazieren ums Dorf, um noch ein Stündchen draussen zu sein. Für Felice ist das Gehen nicht unbedingt Fortbewegung, sondern Zeitvertreib. Zuhause setzt er sich draussen hin, blättert in einem zwei oder drei Tage alten Giornale del Popolo. Felice hat weder Fernseher noch Radio noch Telefon, auch keinen Briefkasten. Die Postbotin bringt ihm seine Briefe persönlich vorbei oder legt sie mit einem Stein beschwert auf die Bank, bei Regen drinnen auf den Tisch, denn die Tür ist immer offen. Zum Abendessen gibts geröstete Kastanien, Käse, Kürbis, Brot, Rüebli, dazu den Sud aus Rosmarin und anderen Kräutern, in denen der Kürbis gekocht hat.
Felice beginnt zu erzählen, von seiner Mutter, wie gut sie kochen konnte, vom kleinen Bruder, es waren magere Zeiten, nichts wurde verschwendet, man wusste gar nicht, was das war. Dann die Marroni, schon zum Morgenessen, in Milch gekocht. Wenn es keine Kartoffeln gab, gab es Marroni. Geröstet oder gekocht, gekocht oder geröstet, dazwischen gab es nichts. Bei den Kartoffeln schon. Damals sagte niemand, dass man immer nur Kartoffeln essen würde, man sagte, es habe Gnocchi gegeben, Kartoffelstock, Ofenkartoffeln mit Rosmarin oder in der Glut gegart, Kartoffelsuppe, Kartoffeln mit Zwiebeln und so weiter. Felice sagt bòn, steht auf, macht Tür und Fenster zu und räumt den Tisch ab. Dann ist Stille.
Der Wecker klingelt um Viertel nach fünf. Es ist kalt, zwei Grad, der Himmel voller Sterne. Morgenessen bei
Felice. Joghurt, Brot, Marroni, Kräutertee aus Thymian, Brennnessel, Schöllkraut, soll gut für die Augen sein. Man könnte meinen, sie hätten es schon hundertmal gemacht. Machen sich auf den Weg. Jenseits der Häuser spürt man den trockenen Wind. Schneewind. Das Wetter schlägt um. Felice geht voran, leichtfüssig, die Hände auf dem Rücken verschränkt, gleich angezogen wie gestern, wieder barfuss. Sie tauchen in die Gumpe ein, steigen hinaus, lassen sich trocknen. Die Talebene nimmt Gestalt an. Strahlen dringen in den Kiefernwald, beleuchten die blauen Flügelfedern zweier Eichelhäher, die sich kreischend zwischen den Tannen verfolgen. Unterhalb des Walds am Rand der Schotterstrasse wühlt ein Eichhörnchen im Laub. Als es sie bemerkt, huscht es einen Stamm hinauf und verschwindet, eine Kastanie im Maul. Die letzten Vorräte für den Winter. Bei Sosto, dem letzten Bauern, der noch Kühe hat, gibt es frisch gemolkene Milch, die er mit einer Kelle aus einer grossen Kanne schöpft.
Die Mehlschwalben sind immer noch da, im Dezember. Früher seien sie schon im Oktober weggeflogen, sagen sie im Dorf. Vielleicht ist das nur temporär, und eines Tages gehen sie wieder im Oktober, oder sie ziehen gar nicht mehr weg. Diesmal gehen sie noch. Hunderte haben ihre letzte Nacht in einem verfallenen Stall, unter einem Vordach oder auf den Dachbalken eines Heuschobers verbracht. Jetzt schwirren und zwitschern sie zum Abschied über dem Dorf, lassen sich nicht mehr auf den Stromleitungen nieder, innerhalb von einer halben Stunde wird keine mehr da sein. Auf Wiedersehen im nächsten Frühling. Zurück zum Haus. Felice hat Feigen gesammelt, trägt sie in den Keller. Von der Decke hängen Holzregale, sodass die Mäuse nicht hinaufklettern können, biegen sich unter dem Gewicht von Zwiebeln, Äpfeln, Kartoffeln, Rüebli, Eiern, Knoblauch, Käse, Marroni, Baumnüssen, Haselnüssen, Kisten und Kistchen. Sie gehen hinaus in die Sonne, setzen sich auf die Granitbänke, essen Äpfel und werfen die Reste auf den Kompost. Felice betrachtet den krummen Stamm des Birnbaums, Fabio schaut einer Wolke zu, die über das Tal südwärts reist, blickt hoch zum Adula, dem Dach des Tessins mit seinen dreitausendvierhundertnochwas Metern, mit seinem Gletscher im Kampf gegen die Klimaerwärmung, gezwungen, jeden Tag ein Stück Geschichte der Menschen hier bachab gehen zu lassen.
Die Postbotin kommt vorbei, hat zwei Briefe für Felice, die Stromrechnung und einen mit handgeschriebener Adresse und unlesbarer Briefmarke. Felice erstarrt, steckt dann beide ein, sagt bòn, auf. Sie steigen in den Suzuki, der wieder einmal nicht anspringt und angeschoben werden muss, fahren vorbei an der Wegkapelle des heiligen Christophorus. Ciao, Stumme, sagt Felice zu der Frau, die ein Alpenveilchen giesst, obwohl sie ihn nicht hören kann. Alles Humbug, wenn du mich fragst, sagt Felice. Was ist Humbug? Zu meiner Zeit rannten sie alle immer in die Kirche, sobald der Pfarrer am Glockenseil zog. Aber jeder macht halt das, woran er glaubt. Er glaube nur an gegenseitige Achtung. Die Leute achten und akzeptieren, wie sie sind, und basta. Wenn wir krepieren, werden wir alle zu Kompost, denn alle haben wir rotes Blut, Diener und Herren, Schöne und Hässliche, Dummköpfe, Doktoren, Bauern, Priester, alle in ein Loch, zwei Meter unter die Erde und amen. Die einzigen Wahrheiten sind Geburt und Tod, so sehe ich es. Dazwischen ist der ganze Rest. Wie ein Fluss, der an uns vorbeifliesst. Und wir verbringen unsere Leben damit, ihm bei Fliessen zuzusehen, bis die Batterie den Geist aufgibt. Wenn du mich fragst, ist es besser, wie manche Tiere es machen, die zum Sterben in den Wald gehen, dann fressen dich die Füchse auf und amen.
Wo er eigentlich geboren sei, fragt Fabio beim Mittag­essen. Hier, sagt Felice, da oben, blickt die schmale Treppe hinauf. Sechs Brüder waren sie und eine Schwester, die ersten alle tot, geblieben sind er, seine Schwester und der kleine Bruder. Damals, wenn einer krank wurde, wurden alle krank, und mancher hat es nicht geschafft. Elende Zeiten waren das. Sie hatten ja nicht all die Medizin, Spitäler und Krankenwagen, man konnte nichts anderes tun als es hinnehmen und ertragen und weitermachen.
Die Sonne geht unter, macht der kalten Luft Platz, die vom Adula herunterweht. Während Felice seine Bergschuhe fettet, um für den Winter bereit zu sein, erzählt er vom Militär, von dem auch die Bergschuhe stammen. Vom Schies­sen auf dem Gotthard, auf Panzerattrappen, gemalt, auf Lein­wand. Überall Kühe. Also mussten sie die Kühe erst vertreiben, um schiessen zu können. Einmal ist ihm eine entwischt, und sie wurde abgeschossen. Von da an hat er keinen Schuss mehr abgegeben. Sie rösten Kastanien auf dem Ofen, Felice sammelt die Schalen ein, bringt sie auf den Kompost. Nimmt ein Buch aus der Schublade des Küchenschranks, setzt sich hin und beginnt zu lesen. Was liest du? fragt Fabio. Das Buch hier, sagt Felice. Fürs Abendessen wäscht er Kartoffeln, schält Zwiebeln und Knoblauch, schnei­det alles klein und bringt es zum Kochen, wirft ein Bündel Löwenzahnblätter in den Topf, die er aus dem Garten geholt hat, schneidet Brot auf und legt es zum Rösten auf den Ofen. Es ist Nacht geworden, sie gehen schlafen.
Im Lichtkegel der Strassenlampe fallen Wasser und Schnee. Atemwolken sind zu sehen. Morgenessen, dann los. Eine halbe Handbreit Schnee liegt auf der Strasse. Der Wald ist still, die einzigen Geräusche kommen von ihren Schritten und ihrem Atem. Die Gumpe zeigt sich als schwarzer Fleck. Was für eine Stille. Sie tauchen ein. Fabio hat das Gefühl, in einer warmen Badewanne zu sitzen, ein paar Sekunden lang, dann überläuft ihn ein Schauder. Er steigt hinaus, stellt sich neben Felice, macht tiefe Atemzüge, um die Kälte auszuhalten. Die Atemwolken lösen sich im Morgenrot auf. Sie lassen sich vom rauen, eisigen Wind trocknen, ziehen sich an und gehen in den heller werdenden Morgen. Ob er früher Ski gefahren sei, fragt Fabio. Ja, ist er, stundenlang hätten sie die Ski auf den Schultern zum Nara hinaufgetragen und seien im Nu runtergesaust. Als sie den Sessellift mit allem Drum und Dran anlegten, sei er nicht mehr gegangen. Die ersten Worte, die sie an diesem Morgen wechseln.
In Felices Schuppen wird Holz gesägt, gehackt und gestapelt. Eine angenehme Arbeit, beinahe entspannend. Der Holzstoss wird immer grösser. Emilio, der Nachbar, schlach­tet zwei Kaninchen. Sie nehmen sie aus, zerlegen sie, tragen die Innereien für die Katzen und Hunde des Dorfs hinaus, zerteilen das Fleisch, geben es in einen Bräter, mit Butter, Rosmarin, Thymian, Salz und Pfeffer. Gerben die Felle, legen sie in einen Eimer mit kaltem Wasser, cremen sie mit Nivea ein und hängen sie zum Trocknen auf. Felice liest derweil ein Buch. Fabio schaut sich um, sieht nur das Notwendigste, Schlichte, kein Firlefanz. Kein Rasierschaum, kein Aftershave, keine Cremes, Medikamente, Duftwässerchen, Kämme, Bürsten oder Ähnliches. Und doch hat vor langer Zeit einmal eine Frau hier gewohnt …
Das Dorfzentrum ist belebt, soweit das Zentrum von Leontica belebt sein kann. Das Getöse des Mittagsläutens bringt alles zum Schweigen. Die Bar füllt sich. Der kleine, in einer Ecke hängende Röhrenfernseher überträgt ein Skirennen. Der siebzigjährige Celso schmettert Tessiner Volkslieder. Alle sind sie da, Floro, Richetto, Marietto, Pep, Sosto, Brenno, Kevin, Natel, Tito, vier Arbeiter der Elektrizitätsgesellschaft, ein Touristenpaar aus Luzern, die Wirtin Candida. Das Übliche? fragt Candida. Das Übliche, sagt Felice. Candida bringt ein Brett mit vier hausgemachten Käsen und einem Viertel Formaggella vom Lukmanier, dazu Brot, eine Karaffe mit heissem Wasser, zwei Tassen und Teebeutel. Eine halbe Stunde später sind alle gegangen. Felice und Fabio fahren noch etwas herum, trinken Tee, lesen Zeitung, sammeln in einem Stall trockene Kuhfladen auf, werfen sie zuhause auf den Kompost. Zum Abendessen gibt es Brot, Käse und Eier.
Frühmorgens schneit es, der Schneepflug fährt vorbei. Fast ein halber Meter ist gefallen. Bei Felice brennt schon Licht. Die Kleider, die er gestern gewaschen und aufgehängt hat, sind an der Leine zu Eisstücken geworden. Felice holt zwei Schneeschaufeln aus dem Schuppen. Zehn Meter, Pause, zehn Meter, Pause. Es schneit so dicht, dass man gleich wieder von vorn anfangen könnte. Sie machen sich auf den Weg, steigen hoch, langsam klart es auf. Eine Eisschicht bedeckt die Gumpe. Felice schlägt mit dem Fuss darauf, bis sie zerbricht, steigt hinein. Dann ist Fabio dran, macht barfuss ein paar Schritte durch den hohen Schnee, taucht ins eisige Wasser, der Kopf leert sich. Wäscht sich das Gesicht, die Haare, den Körper, steigt hinaus, zieht sich an. Betrachten Leontica von oben, die weissen Dächer, die schweigsam qualmenden Schornsteine, den Rauchschleier über dem Dorf. Es duftet nach Holzfeuer, nach hereinbrechendem Winter.
Der Weg zum Haus ist schon wieder zugeschneit. Wieder Schneeschaufeln. Setzen sich auf die Granitbänke vor dem Haus mit Tassen voller heisser Milch. Lauschen der Stille, in der die Schneeflocken fallen. Felice mit einem Blick, als wäre jede Flocke eine Erinnerung. Ein Traktor bringt eine alte Sitztruhe. Auf der Matratze des ansonsten leeren Zimmers liegen zwei Bündel mit Decken, Bettzeug und Kissen. Felice bezieht das Bett. Was zum Teufel geht da vor, wer soll in diesem Zimmer wohnen? Die Glocken läuten zur Sonntagsmesse. Metallische Schwingungen hallen durchs Dorf, die Hunde heulen und bellen. Fabio sägt sich in die Hand, es blutet stark. Felice geht in den Keller, sammelt Spinnweben von der gewölbten Decke. Die Spinnen verziehen sich in ihre Löcher. Heute Nacht weben sie ja neue, sagt Felice. Fabio solle die Wunde ablecken, um sie zu reinigen, und dann das Klümpchen Spinnweben wie einen Wattebausch draufdrücken. Nach einer Weile hört es auf zu bluten. Felice sagt bòn, alles gut.
Am nächsten Tag, nach dem Morgenessen und dem Bad in der Gumpe, geht Fabio allein spazieren. Wandert hoch zur Gumpe, um sie auch einmal bei Tageslicht zu sehen. Setzt sich hin und lässt den Blick umherwandern. Betrachtet die Berge. Den Gipfel des Simano mit seinem Eisenkreuz. Den Adula mit dem ausgezehrten Gletscher. Den Gipfel des Pizzo Sosto, von hier aus gesehen eine rechtwinklige Wand aus funkelndem Weiss. Richtung Süden verblassen die schneebedeckten Kämme der Voralpen, bis sie so durchsichtig und zart wirken wie Seidenpapier. Der für die Region typische Nordföhn, der die Alpen überwindet, fegt die verschneiten Hänge hinab und durch die Rinnen, ohrfeigt den Kiefernwald, dringt in die kalten, vereisten Schluchten und vertreibt im Nu den Nebel, sodass das ganze Tal erstrahlt. Der Gebirgsbach scheint etwas Unergründliches zu flüstern. Entspringt oben am Berg, stürzt hinunter nach Dongio, ergiesst sich in den Brenno, der vom Lukmanierpass kommt, das Bleniotal in zwei Hälften teilt und bei Biasca in den Ticino mündet. Mit dem Ticino strömt das Wasser bei den Bolle di Magadino in den Lago Maggiore, dann weiter im Ticino, dann im Po durch Italien, bis es in die Adria fliesst. Ob Felice wohl je daran gedacht hat, dass sein Wasser ins Meer fliesst?
Felice und Emilio hacken Holz. Fabio lädt sie zum Mittagessen ein. Kartoffeln und Zwiebeln mit Spiegelei für Felice, je ein halbes Huhn für Emilio und Fabio, dazu Brot und Obst. Essen schweigend, waschen die Teller ab, gehen in die Bar, die voll mit Leuten ist, trinken Kaffee mit Schuss, Grappa und Nusslikör, um das Mittagessen zu verdauen. Einer beginnt aus der Zeitung vorzulesen. Der Wolf ist auch im Bleniotal angekommen und hat gestern Nacht sieben Schafe auf einer Weide nahe am Luzzone-Staudamm gerissen. Die Wolf-Debatte schwappt hin und her, ebbt schliesslich ab. Die Kirchenglocke schlägt eins. Felice und Fabio gehen hinaus. Wohin? Hauptsache, ein bisschen draussen sein, sagt Felice. Gehen in die Trattoria Del Cervo Bianco, zum Weissen Hirsch, trinken Tee, sagen nichts. Gehen weiter zu Eros’ Forellenzucht, die Forellen sollen helfen, die Tessiner Flüsse und Bergseen wiederzubeleben. Die Abenddämmerung setzt ein, vom Talgrund steigt Kälte auf. Die letzten Sonnenstrahlen streichen über die weissen, mit Grau, Bronze und Schwarz gefleckten Hänge. Abendessen bei Felice, Mac­cheroni mit Spinat, Äpfeln und Formaggella.
Am frühen Morgen Sternenhimmel, minus fünf Grad. Der Weg zur Gumpe ist fest gewordener Schnee. Das eiskalte Wasser kommt aus dem Nichts, streichelt die schlotternden Körper, verschwindet wieder im Nichts. Die letzten Reste der Nacht sinken zu Boden und machen dem Licht Platz. Fabio besucht Brenno, den Wilderer. Sie gehen zum Hühnerstall. Eine Flut schneeweisser Hühner samt braunem Hahn überschwemmt das weitläufige, halb von einem Wellblechdach geschützte Gehege. Hundertzehn Hühner, gestern waren es hundertachtzehn, vorgestern hundertzweiundzwanzig. Letzten Monat der Falke, jetzt der Fuchs, schimpft Brenno. Der Fuchs taucht auf, springt durch den Schnee, Brenno reisst das Gewehr hoch, schiesst, der Fuchs dreht sich um sich selbst und bricht zusammen, die Hühner geraten in Panik. Die Glocken von Leontica stimmen das Mittagsläuten an.
Wieder Morgen. Felice schläft noch. Fabio geht ins Haus, steigt hoch ins Schlafzimmer, macht das Licht an. Felice schläft nicht, er ist tot …