Im Zeichen des Fragments

Ein kurzer Blick auf ein Merkmal der Moderne



Peter Frömmig
Ich machte die Augen auf und sah,
dass ich in einer Welt aus Bruchstücken lebte.
Christoph Meckel


Das Fragment ist zu einem Merkmal der Moderne geworden. „Wer das Fragmentarische zu fassen versucht“, schrieb Christoph Meckel zu diesem Thema, „wird zwangsläufig fragmentarisch bleiben, denn er stellt im Verlauf seines Schreibens fest, dass eigentlich alles Bruchstück ist.“ Er betrete daher einen Boden, heißt es in seinen Überlegungen weiter, auf dem keine Gewissheit zu erhalten sei. Mit einer „Dialektik von Ganzheit und Fragment in der Poesie“ versucht die Literaturwissenschaft Klarheit in die Sache zu bringen, sie dingfest zu machen. Forschung geht auf Quellen zurück, macht da und dort ein verlorenes Rinnsal aus, um es möglicherweise auf den Strom eines Werkes zurückzuführen. So stellte auch der Dichter und Schriftsteller Christoph Meckel fest: „Die Werkausgaben der Literatur sind voller Fragmente, die Archive voll von unpublizierbarem Stückwerk.“ Dennoch tritt aus Nachlässen immer wieder etwas zu Tage, was posthum zum Buch gemacht wird.
Wenn man den Teilen in ihrem Verhältnis zum Ganzen nachgeht, führt das freilich überall hin, allenfalls durch zerklüftete Steinbrüche und vorüber an Ruinen, aber nur schwerlich zu einem Ziel. Doch gehört es zum Wesen des Schöpferischen, das gerade ein Weg der durch unwegsames Gelände und ins Ungewisse führt, zu einem erstaunlichen, aufschlussreichen Parcours werden kann.
Manche Schriftsteller überkamen während des Schreibens Zweifel, ein Werk zur absoluten Vollendung zu bringen, Zweifel an einer Vollkommenheit, die im Leben unmöglich schien. So ging es Robert Musil bei der Arbeit an seinem Monumentalroman „Der Mann ohne Eigenschaften“, welcher an kein Ende kommen wollte. Musil schrieb in sein Tagebuch: „Man kommt zuweilen auf den Gedanken, dass alles, was wir erleben, losgerissene und zerstörte Teile eines Ganzen sind, die man einmal falsch ergänzt hat.“ Kompromisslos betrachtet, ist ein Leben erst vollendet mit dem Tod, denn wieviel Unfertiges bleibt im Laufe eines Lebens auf der Strecke. Vollkommenheit erreichen zu wollen, kann ein Antrieb sein, bleibt aber als Anspruch immer eine Illusion. Radikal auf seine Art sah es österreichische Schriftsteller Thomas Bernhard. In seinem Roman „Alte Meister“ lässt er den Musikwissenschaftler Reger sagen: „Die höchste Lust haben wir ja an Fragmenten, wie wir ja am Leben auch dann die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten, und wie grauenhaft ist uns das Ganze, das fertige Vollkommene.“
Bernhards Landsmann Heimito von Doderer versuchte sich in seinem „Dämonen“-Roman noch einmal an der Überwindung des Fragmentarischen, indem er die große Symphonie zum Vorbild nahm, um dann im Prozess der Entstehung seines Textes doch nur die Vernichtung der ihm ursprünglich vorschwebenden Form zu erfahren. Wie hier gibt es trotz des vermeintlichen Scheiterns eine große Anzahl von Werken der Moderne mit einem fragmentarischen Charakter, die ästhetisch von Bedeutung sind. Ein weiteres Beispiel dafür ist Hermann Brochs groß angelegte Roman-Trilogie „Die Schlafwandler“, in der der Wille nach Perfektion auf verhängnisvolle Weise schon im Entwurf drohte, sich gegen das Kunstwerk zu richten. Die angestrebten Zusammenhänge blieben lose, fanden keine Bindung. Aber „ohne diesen Hunger nach Totalität bleibt dichterische Sprache unerheblich“, vermerkt Christoph Meckel, „ohne lebenslangen Sturz ins Unmögliche bleibt der Autor Statist.“ In dieser Radikalität muss denken, wer sich literarisch aufmacht, eine Welt aus ihren Bruchstücken und in ihren Brüchen zu erfassen. „Ein Riss geht durch die Welt“, heißt es bereits in Georg Büchners Drama „Dantons Tod“. Doch es ist eben nicht nur ein Riss, sondern es sind viele Risse, die das 20. Jahrhundert mit sich brachte und die sich durch unsere Welt ziehen.
Mit der beginnenden Moderne kam der Unwille auf, tradierten Formen weiter zu folgen, begann sich ein Widerstand gegen eine nicht mehr denk- und einlösbare Ganzheit zu regen. Hervorgegangen zum einen aus der Resignation vor dem zunehmend unfassbaren Ganzen, das wie ein Menetekel an der Wand erschien, zum andern aus der gewonnenen Überzeugung, dass der Anspruch auf Abgeschlossenheit nichts als eine Vermessenheit ist. Am Ende hatte die Avantgarde, die sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts noch so nennen durfte, immerhin erreicht, dass das Fragment als eine (unvollendete) Form in der Kunst legitim und die Demontage des bislang Bewährten als ein verdienstvoller Akt angesehen wurde. Heute gibt es allenfalls noch Reflexe dieser einstigen Avantgarde, ein Abglanz von Freiheit und Wagemut, der sich bisweilen in literarischen Experimenten zeigt. Aber ein Aufbruch wie damals ist schon lange nicht mehr denkbar. Wir finden kein Ende mehr darin, aufzuarbeiten was hinter uns liegt. Und jeder Versuch einer Science Fiction wird sogleich von einer rasenden Entwicklung, der keiner mehr wirklich folgen kann, überholt.
Um sich zu behaupten, bleibt Schriftstellerinnen und Schriftstellern nichts anderes übrig, als das Risiko des Scheiterns auf sich zu nehmen, ein Scheitern, in dem nach Joseph Conrad jedoch das Sein intensiv erfahren werden kann. Nach der Auffassung von Ezra Pound, einem Pionier der modernen Dichtung, gibt es auch ein Scheitern, das mehr Wert ist als alle Erfolge eines Jahrhunderts zusammen. Was nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass ein literarisches Vorhaben auch völlig missraten, in schlichtem, gänzlich unbrauchbarem Pfusch enden kann. In Nachlässen, wie sie das Deutsche Literaturarchiv in Marbach sammelt, stößt die Forschung auf manche solcher Miss- und Fehlgeburten – wenn diese nicht schon vorher von ihren Urhebern vernichtet worden sind. Was oft mit allzu hohem ästhetischem Anspruch anfängt, endet manchmal im Abort. Gerade während der Zeit der Postmoderne schlitterte so manches überfrachtete Werk an dieser Gefahr nur knapp vorbei.
Was als Postmoderne bezeichnet wird, ist ein Rückgriff, der aus der Erkenntnis kommt, dass nach der Moderne ohnehin nichts mehr Neues geschaffen werden kann, das habe sich endgültig erschöpft. Es darf nun aber ungehemmt in die Trickkiste gegriffen werden: everything goes. Alles geht jetzt, die Schleusen sind offen, das Spiel ist eröffnet. In der Postmoderne gilt das Spiel mit Themen und Motiven, die möglichst angereichert werden mit literaturhistorischen und geistesgeschichtlichen Anspielungen. Die Sprache wird effektvoll eingesetzt, das Schillern ist dabei wichtiger als Klarheit und Strenge. Intertextualität wurde zu einem Begriff und, wer es so sehen mag, zu einer eigenen Qualität. Man konnte in dieser Übergangsphase (einem Symptom unserer Zeit, alles ist nur noch Übergang) sich fragen, wohin das alles noch führen soll. Theodor Adorno wagte schon in den 1950er Jahren zu sagen: „Die einzigen Werke heute, die zählen, sind die, welche keine Werke mehr sind.“
Bei Samuel Beckett war das noch anders, der hatte das Werk noch im Blick, obwohl er die Zeichen der Zeit klar erkannte. Interessanterweise betitelte er einen seiner kurzen und eindrucksvollsten Prosatexte „Aus einem aufgegebenen Werk“. Ein Fragment also, oder doch nur etwas Vorgeschütztes, ein Spiel? Als ich in meiner Jugend, mit kaum einmal zwanzig Jahren, über den Kaiser-Wilhelm-Ring in Köln ziellos flanierte und an einer Buchhandlung vorbei kam, wurde ich angezogen von einem drehbaren Bücherständer, der davor stand. Ich stieß auf ein Taschenbuch mit eben selbigem Titel: „Aus einem aufgegebenen Werk“. Zunächst war es nur dieser seltsame Titel, der mein Interesse weckte; wer Samuel Beckett war, wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich nahm das schmale Buch zur Hand, schlug es auf und las die ersten Sätze, die mich so packten, wie mich zuvor noch nie Sätze und eine Sprache unmittelbar gepackt hatten: „Auf, frisch und früh an jenem Tage, ich war noch jung, fühlte mich gräßlich, und raus, Mutter hing in ihrem Nachthemd aus dem Fenster, weinend und winkend. Schöner frischer Morgen, zu früh hell wie so oft, fühlte mich wirklich gräßlich, voller Grimm. Der Himmel würde sich bald verdunkeln, und es würde regnen und immerfort regnen, den ganzen Tag, bis zum Abend. Dann Blau und Sonne wieder, einen Augenblick, dann Nacht.“ Und genau so war es, ist es gewesen. Ich war damals noch weit davon entfernt daran zu denken, ein Schriftsteller zu werden. Doch diese Sätze wirken in mir bis heute als ein Nachhall fort.
Für Samuel Becketts großes, zeitloses Schauspiel „Warten auf Godot“ lautet die Losung: „Try again. Fail again. Fail better.“ (Versuchs nochmal. Scheitere wieder. Scheitere besser.) Wer das so sieht, wird seinen Mut und seinen lebensnotwendigen Humor nicht verlieren. Und auf Godot und alles, was sich vollenden soll, warten wir ja immer noch. Wir gehen hin und her, vor und zurück, treten auf der Stelle, warten, warten und warten an einem Bahnsteig der Zeit auf einen Zug, der nicht kommen mag.