Paradox und Ausdruck in Spinozas Ethik
Autor: | Timon Georg Boehm |
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Erscheinungsjahr: | 2021 |
Genre: | Sachbuch |
Verlag: | Meiner Verlag |
Rezensiert von Karl-Heinz Barthelmes
Der Deutschschweizer Physiker und Philosoph Timon Georg Boehm hat im Hamburger Felix Meiner Verlag mit „Paradox und Ausdruck in Spinozas Ethik“ einen neuen Zugang zu dem portugiesisch-niederländischen Philosophen, Maranen, Glasschleifer Baruch bzw. Benedikt Spinoza (1677-1632 ) in 13 Kapiteln vorgelegt. Von Albert Einstein ist überliefert: “Ich glaube an Spinozas Gott, der sich in der gesetzlichen Harmonie des Seienden offenbart, nicht an einen Gott, der sich mit Schicksalen und Handlungen der Menschen abgibt.“ Mit dem Erzieher des Menschengeschlechts und Verfasser von „Nathan der Weise“ lässt sich Gotthold Ephraim Lessing ebenfalls als Fürsprecher Spinozas anführen. Friedrich Nietzsche bekennt seinem Freund Overbeck nach seiner einstigen Kritik am „Hocuspocus von mathematischer Form“ auf einer Postkarte im Juli 1881 gar: „Ich bin ganz erstaunt, ganz entzückt! Ich habe einen Vorgänger und was für einen! Ich kannte Spinoza fast nicht; dass mich jetzt nach ihm verlangte, war eine Ìnstinkthandlung… Nicht nur, dass seine Gesamttendenz gleich der meinen ist – die Erkenntniss zum mächtigsten Affekt zu machen – in fünf Punkten seiner Lehre finde ich mich wieder, dieser abnormste und einsamste Denker ist mir gerade in diesen Dingen am nächsten: er leugnet die Willensfreiheit- ; die Zwecke-; die sittliche Weltordnung-; das Unegoistische-; das Böse-; …“ Wie also nun Zugang finden zu einem solch sperrigen Denker, der – schwierig zu lesen und kompliziert zu zitieren ist – neben der als „Tractatus Theologico Politicus“ mit enormer Bibelkenntnis verfassten Abhandlung als Hauptwerk eine glockenklare „Ethica Ordine Geometrico Demonstrata – Die Ethik mit geometrischer Methode begründet“ vorgelegt hat? – zumal der Titel Ethica irreführend ist und wohl von posthumen Herausgebern stammt. Spinozas Ethik ist keine Ethik im moralphilosophischen Sinne. Boehm nähert sich als Physiker und Nietzschekenner mit einer problemgeschichtlichen Methode, die von dem Spannungsverhältnis von Ethik und Metaphysik ausgeht. Spinoza gehe es weniger um eine Tugendethik wie bei Aristoteles noch um eine Gesinnungsethik bzw. Gerechtigkeitsethik wie etwa bei Kant. Methodisch mit Besinnung auf die philosophiegeschichtliche Tradition nimmt der Autor Bezug auf Nikolai Hartmanns Unterscheidung von Systemdenkern und Problemdenkern und arbeitet sodann drei Typen von Paradoxien heraus (Russell`sche Barbierparadox, Der Lügner und Zenons Pfeil), ehe er die implizite Ethik expliziert. In Anlehnung an den Spinozaforscher Wolfgang Bartuschat: „Metaphysik ist als Ethik zu entwickeln und zwar deshalb, weil in der Ethik erst jener Bezug des in der Metaphysik erörterten Absoluten auf das endlich-Einzelne explizierbar ist“. Anders als bei Bartuschat soll diese Entwicklung aber nicht eine nach dem Vorbild des Deutschen Idealismus sein, sondern durch Entparadoxierung von Paradoxien erfolgen und betont damit den dynamischen Charakter von Paradoxien. Bereits in der Problemstellung wird deutlich, dass ausgehend von Spinozas dem monistisch als Substanz bestimmten Gottesbegriff Moralität nicht mit herkömmlicher Normativität und Vorschriften des menschlichen Begehrens gleichgesetzt werden kann. Spinoza betont die Immanenz Gottes in und als Welt gegenüber extramundanen, an transzendenten Konzepten orientierter und anthropomorph gefasster Rede von Gott. Wiederholt führt Boehm den prägnanten Satz für das menschliche Verhalten an: „Aus diesem Allem ist also entschieden, dass wir nichts erstreben, wollen, begehren, noch wünschen, weil wir es für gut halten, sondern vielmehr, dass wir deshalb etwas für gut halten, weil wir es erstreben, wollen, begehren und wünschen.“ Normen sind eben zeitabhängig entstanden, graduierbar und an verschiedene Adressaten gerichtet. Das Grundbegehren des Menschen, der sog. Conatus, ist so je und je zu entwickeln. Die Interpretation Boehms beruht auf den beiden Begriffen Paradox und Ausdruck. So versucht er die Paradoxien zu entparadoxieren, namentlich diejenigen von Ursache-Wirkung, Substanz-Gott, Gott-Natur, Allgemeines-Besonderes, Ewigkeit-Zeitlichkeit, Ganzes-Teil, Freiheit-Notwendigkeit, um so neue begriffliche Unterscheidungen und Verschiebungen in der Ethica zu motivieren. Er nimmt dabei Spinozas Ansatz von Gott als Substanz, causa sui und deus sive natura- auf und stellt die These auf, dass der Ausdruck die zentrale Relation ist, durch die sich Essenzen als jeweilige bestimmte Existenzen manifestieren. „Gott liebt sich selbst mit einer unendlichen geistigen Liebe“ – die Erkennbarkeit Gottes deutet Spinoza nach Boehm im Sinne von Seinsmodi um und sieht etwa bei Adam, Abraham oder Hiob die entscheidende Frage nicht darin, wie man handeln soll, sondern wovon eine Handlung oder ein Affekt Ausdruck sind. Im Vordergrund steht nicht der gebietende Gott, sondern die Handlungen und Affekte des Menschen als Weisen oder Modi Gottes, die je und je Ausdruck Gottes selbst sind. Im Mittelteil geht Boehm mit einzelnen Beispielen auf die Paradoxien des Substanzmonismus ein, erläutert anhand von Duns Scotus und Descartes die Washeit der Dinge und legt die cartesische Anleihen in der Attributenlehre dar. Mit „Was auch immer ist, ist in Gott, und nichts kann ohne Gott sein oder begriffen werden“ wird die Grundfrage eines Reformators wie Heinrich Bullinger lebendig: finitum capax oder non capax infinitum. In Anlehnung an die Unschärferelation aus der Physik wird Substanz als aus der jeweiligen Perspektive wechselnd zu betrachten vorgestellt, wobei diese an sich unteilbar ist. Die kontroverse Einzeldiskussion hierzu wird vom Autor kurz angerissen, ehe das zentrale Kapitel 7 zum Ausdruck nicht nur als Ereignis, sondern geradezu als Handlung im Sinne von begreifen, verursachen und inhärieren im Sinne einer Metaphysik sub specie aeternitatis entfaltet und mit einem Konkordanzkompendium zu „exprimere“ in der Ethik versehen wird. Macht, Wille, Handlung und Freiheit werden nun problemgeschichtlich unter den Aspekten Paradox und Ausdruck durchdekliniert. Boehm wendet sodann noch ein sog. Iteratives Tracing-Verfahren als Modell für den graduellen bzw. sukzessiven Aufbau von Normativität am Beispiel der bereits bei Cicero erwähnten notiones communes, also allen Menschen gemeinsamen Vorstellungen, an, die als einzige nicht-nominalistische Elemente in Spinozas Philosophie auftauchen. Boehm spricht bezüglich des Freiheitsbegriffs und der Teilhabe im Sinne der Einsicht in die Notwendigkeit vom Verzicht auf eine Vermittlung durch Instanzen von einem „vielleicht auch reformatorischen Aspekt“ in Spinozas Philosophie. „Das Staunen war der Anfang der Philosophie – und ist zugleich das, was sie hinaustreibt nach neuen Meeren“ – mit diesem Satz beschließt Boehm seinen Lektüreanstoß zu Spinoza. Man fühlt sich erinnert an Kants aufklärerisches „Saper aude – habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“! Indessen tönt es noch spannend, wenn etwa der bedeutende Marburger Kantianer Hermann Cohen in seiner „Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ gegenüber Spinoza reklamiert, Mitleid stamme aus derselben Quelle wie der Neid: „Und Stoiker, wie Spinoza im letzten Grunde ist und bleibt, denkt er in der Tat nirgends an das soziale Leid des Menschengeschlechts.“ Spinozas zentrale Lehre von den Affekten bildet dennoch dann den wohl bedenkenswertesten praktischen Teil seiner Philosophie: „Unter Affekt verstehe ich Affektionen des Körpers, von denen die Wirkungsmacht des Körpers vermehrt oder vermindert, gefördert oder gehemmt wird, und zugleich die Ideen dieser Affektionen.“ Boehm jedenfalls kennt nicht nur den Satz Isaac Newtons aus der Physik: „Wo ein Körper ist, kann ein anderer nicht sein“, sondern versteht es, die Lust am Lesen Spinozas Philosophie neu zu wecken.
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