Kindheit

Autor:Peter Frömmig


Peter Frömmig
Wenn die letzten Reste der Kindheit abhandengekommen sind, was bleibt uns dann? Wir müssten noch einmal ganz am Anfang beginnen können, damit alles neu, frisch und aufregend wäre. Doch wer möchte nach all dem Zauber der frühen Jahre auch wieder die Pein der zweiten Zähne durchmachen, die ziehenden Wachstumsschmerzen in den Gliedern verspüren und die verschiedenen Kinderkrankheiten durchstehen? Erleiden die bohrenden Ängste, verlassen zu werden, im Wald verloren zu gehen, die quälenden dunklen Ahnungen in den Nächten? Hinnehmen müssen die Enttäuschungen nach freudigen Erwartungen, die sich nicht erfüllten? Dieses und noch vieles mehr wäre zu bedenken, würde man noch einmal eine zweite Chance bekommen, ein Kind zu sein.
Im letzten Sommer beobachtete ich am Neckar bei Marbach ein kleines Mädchen, das in einer übermütigen Laune versuchte, einem dieser in der lauen Abendbrise schwebenden Pappelsamen zu fangen. Wieder und wieder haschte sie danach mit lustigen Luftsprüngen, doch jedes Mal, wenn sie ihre kleine Faust öffnete, war da nichts. Irgendwann gab das kleine Mädchen auf und senkte traurig den Kopf, während sich in ihrem Haar einige der winzigen launischen Flugkörper verfingen, Schneeflocken gleich. Später stand das kleine Mädchen in einer langen Warteschlange vor der Getränke- und Essensausgabe der Gartenwirtschaft am Flussufer. Und als es endlich dran kam, bat es um einen leeren Teller.
Währenddessen floss der Neckar nach dem heißen Tag träge dahin. Ein mit Metallschrott beladener Lastkahn, der langsam Richtung Schleuse zog, trug den Namen „Credo“. Ein Hund stand auf dem Dach der Kajüte und bellte zum Ufer herüber, von wo aus andere Hunde mit ihrem Bellen antworteten. Ob sich die Hunde etwas mitteilen wollten?
Beim Anblick des trägen Lastkahns dachte ich seltsamerweise an Maikäfer, diese schweren, rundlichen und plumpen Insekten, die mehr durch die Lüfte torkeln als fliegen, nur mit Mühe überhaupt abheben können. Mir machte es als Kind Spaß, mit hohen Sprüngen und fuchtelnden Händen ihre wirren Flugbahnen zu stören. Manche brachte ich zum Abstürzen, und wenn ein Maikäfer auf dem Rücken landete und mit seinen braunen Flügeln herum ruderte, half ich ihm mit einem Stöckchen auf die Beine. Wie in Zeitlupe bewegte sich dieser dann auf dünnen Beinchen wackelnd vorwärts, immer in Gefahr, umzukippen. Das schwarzweiße Muster am Bauch der Maikäfer erinnerte mich an die Tastatur des Klaviers, auf denen mein erster Lehrer uns Kindern gerne vorspielte. Es hieß, er sei vor dem Krieg ein bekannter Pianist gewesen.
Klaviere und die Klänge, die aus Klavieren hervor kommen, sind für mich immer anziehend geblieben, einen Maikäfer habe ich lange schon nicht mehr gesehen. Auch die Fußgänger sterben vielleicht irgendwann aus, dachte ich, als ich durch die rotgefärbte Dämmerung heimwärts ging und mich vorsehen musste vor den vielen Radfahrern, die mir in ihrer oft bunten, manchmal eng anliegenden, glänzenden und insektenhaft wirkenden Sportkleidung mit hoher Geschwindigkeit schnittig entgegen kamen oder mich überholten. In einem Fahrradanhänger lag ein kleiner Bub und schlief.

(für Alina Iftime)