Das Licht hinter den Bergen

Autor:Thomas Röthlisberger
Erscheinungsjahr:2020
Genre:Roman
Verlag:edition bücherlese


Rezensiert von Beatrice Eichmann-Leutenegger
Ist sie Jüdin? Sicher keine von uns. Im engen kleinen Dorf kennt man sich, weiss genau, wie viele Ziegen im Stall des Nachbarn stehen. Und nun diese junge Frau mit wirrem schwarzem Haar und dem Glühen in den Augen. Eines Abends im September 1939 klingelt sie um halb zehn an der Tür des Schulhauses: hungrig, durstig, fiebernd und gehetzt. Der Lehrer Anton Marxer, der im oberen Stockwerk wohnt, gewährt ihr Einlass, und damit nimmt ein Verhängnis seinen Lauf, das die Situation einer Familie entscheidend verändert. Jeder im Dorf glaubt zu wissen, dass der Ursprung des Übels im Erscheinen dieser Fremden aus dem Vorarlbergischen wurzelt, dieser Anna Schwarz. Sie soll daher rasch wieder verschwinden.
Thomas Röthlisberger (*1954 in Ittigen), als Zahnarzt tätig und mit seiner Familie in Bern lebend, legt nach Gedichten, Erzählungen und mehreren Romanen einen Text vor, der vom Anfang bis zum Ende in den Bann zieht. Die Spannung nährt sich aus dem wachsenden Wissen über die Person der Anna Schwarz, wobei kriminalistische Elemente die Dramaturgie geschickt unterstützen. Wer hat den judenfeindlichen Zettel ans Portal der Dorfkirche geheftet, wer hat die Polizei auf Anna gesetzt? Von Beginn an steht allerdings fest, dass Halbwissen, üble Nachrede und Vorurteile die dörfliche Gerüchteküche füttern. Mit jüdischen Menschen hat man zwar kaum je Kontakte unterhalten, aber die Rassenideologie aus dem Reich hat ihre Spuren auch hier hinterlassen. So bringt Annas Dasein Unheil ins starre Gefüge, und auch der Lehrer, dessen Berufung es wäre, "Ordnung ins Chaos zu bringen", kann sich nicht dagegenstemmen, so dass alle alles verlieren. Er will sich zwar vor ungebührlichen Annäherungen an die geheimnisvolle Fremde hüten. Seine seit einem Hirnschlag sprachlose Frau Barbla kann dennoch ihre Eifersucht nicht bezwingen, denn die Fremde, das spürt sie genau, beansprucht Kraft und Zeit ihres Ehemanns. Ihr Vater wiederum, der frühere Gemeindepräsident Giusep Arquint – ein knorriger Bergler - , glaubt in Anna ein Abbild seiner verstorbenen Frau Clara zu erkennen und lässt sich zu Taten hinreissen, welche die Lage dramatisch zuspitzen. Im Hintergrund aber wirkt jemand zerstörerisch mit, dem man dies nie zugedacht hätte, doch die Zusammenhänge werden erst am Schluss des Romans offengelegt.
Thomas Röthlisberger entwickelt diese packende Geschichte psychologisch feinsinnig und mit dem Instrumentarium einer sorgfältigen Sprache. Mitreissend ist nur schon die Schilderung von Annas strapaziöser Flucht aus dem Montafon über einen Säumerpass ins Engadin, denn dieser Bericht zieht sich über dreissig Seiten hin, entwirft bildkräftige Naturszenerien und sorgt mit seinen Gefahrenmomenten für wachsende Beklemmung. Auch der schwierige Alltag des Lehrers mit seiner pflegebedürftigen Frau gewinnt deutliche Kontur. All die Handlungen, die täglich wie Rituale ablaufen, verraten Marxers Respekt und Empathie. Schweigsam, von alpiner Zurückhaltung geprägt ist die Beziehung zwischen den Familienangehörigen, während in der Beiz "Crusch Alba" die Dorfbewohner bei Schnaps und Bier ihre Meinungen unverblümt äussern, die sie sonst hinter den dicken Mauern ihrer Häuser verbergen. So erschafft Thomas Röthlisberger die dichte Atmosphäre eines Dorfes, in dem man Lavin vermuten möchte, da der Autor den dreiköpfigen Christus auf dem Deckengewölbe der Kirche erwähnt.
Fast der ganze Roman spielt sich in den ersten Monaten und Jahren nach Kriegsbeginn ab, wobei das politische Geschehen und dessen Auswirkungen nur spärlich in die geschlossene Welt eindringen. Am Ende steht ein wundersames Bild, das für die düstere Geschichte eine Zukunft ahnen lässt, ohne diese mit Inhalten zu füllen: Dem Lehrer zeigt sich das Licht, das abends hinter den Bergen versinkt, jenseits ins offene Land reist, übers Meer und einem neuen Morgen zuströmt.