Die Magie der Bibliotheken
Von Elmar Schenkel
Je älter ich werde, desto mehr interessiert es mich, über Bücher und das Lesen zu lesen. Komisch eigentlich, denn sollte man nicht langsam zu den wesentlichen Dingen kommen? Ich meine auch nicht die Sekundärliteratur, die etwas, ja, Sekundäres hat, sondern das Interesse am Vorgang des Lesens, an der Gestalt der Bücher, an Sammlungen. Vielleicht ist es doch etwas Wesentliches. Meine erste Bibliothek war die katholische Borromäus-Bücherei im Dorf. Dort fanden die ersten magischen Begegnungen mit Büchern statt, denn magisch waren sie. Bis heute gehe ich diesem Gefühl nach. Viele Bücher sind nicht mehr geheimnisumwoben, wie sie es für den jungen Leser waren. Wie schal erscheinen manche (nicht alle) dieser Bände im Licht des Erwachsenen, falls es denn ein Licht sein sollte. Die großen Bibliotheken der Welt sind vielleicht nur Versuche, die Magie des ersten Lesens wiederherzustellen, die Überraschungen und das Hingerissenseins der ersten Stunde. Andere versuchen es mit Bestsellern, aber das Immer-Weiter-Lesen-Wollen allein ist es nicht, das diese Zauberwelt des Kindes ausmachte. Es ist auch ein Leben im großen Haus der Sprache, das noch neu ist, labyrinthisch, mit geheimnisvollen Türen und Gängen, Schränken, die sich in andere Welten öffnen. Für mich hat die Albertina diese Züge, sie stellt einen magischen Ort dar: der unendlichen Entdeckungen und Ausgrabungen, der Reisen in fernste Kontinente, die noch hinter dem Mars liegen und in den Tiefen der Seele. Man durchquert die klassische Welt, indem man die Treppe hinaufsteigt, und kaum fällt die Tür leise hinter einem zu, ist man in der Bibliothek von Babel gefangen, Leiter um Leiter, Wendeltreppe um Wendeltreppe, Regale mit Regalen, verbunden wie die Stränge in der Doppelhelix, genetische Wandelhallen, die sich nur aus 26 Buchstaben immer wieder zusammensetzen (gut, es gibt auch chinesische oder arabische Bücher und andere Schriftsysteme). Ein Ort zum Versinken, zum Buchstabenversenken: halb imaginär, denn wir werden sie nie alle lesen können. Ich sehe mich und die anderen Leser als Teil eines riesigen Unternehmens, an dem wir alle mitarbeiten: als Kollektiv diese Masse von Büchern zu bewältigen. Manchmal zwinkern wir uns zu, doch keiner lässt nach, fanatische Schüler des Sisyphos, die wir sind.
Der weitaus größte Teil der Regale wird in einem Halbdämmer des Konjunktivs gefangen bleiben und mich anschauen, wie ich ameisengleich einen kleinen Pfad ziehe durch die Buchgebirge, massive Himalayas des Nicht-Gelesenen und nicht Erstiegenen. Aber darin liegt eben die Zauberkraft und die Größe dieser Bibliothek. Wir stehen auf Felsvorsprüngen und schauen in Tiefen oder auf Gipfel hinauf und erstaunen über das Panorama, die Unsäglichkeiten und Abgründe des menschlichen Schreibens.
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