Der Weltatlas unter dem Kopfkissen



Von Peter Frömmig
Bekanntlich kennt der Traum keine Grenzen und schert sich nicht um Statistiken. Der Traum bewegt sich horizontal und vertikal, kreuz und quer. Er schafft die Topographien zwar nicht neu, folgt ihnen aber nach eigenen Gesetzen, die einem Physiker selbst im Traum nicht einfallen und ihn nur zu einem Kopfschütteln veranlassen würden. Jähe Finanzstürze, steile Konjunkturen berühren den Traum nicht. Den Traum überragen die himmelstürmenden Häuser von Dubai oder Shanghai nicht. Kein Traum weckt bei Stahlgerüsten den Gedanken an Krupp, bei Glas an zerbrechendes Glück. Wer weiß, was sich alles hinter den Spiegeln verbirgt.
Der Weltatlas, unter das Kopfkissen gelegt, fördert Träume von größter geographischer Ausdehnung und Freiheit. Der Blick gleitet über Ozeane und Kontinente, erfasst fliegende Fische, Robben auf Klippen, Inseln und Küstenstreifen. Schatten huschen über die Erde und ihre wechselnden Landschaften. Die Windrose blüht allerorten, sie dreht sich immerfort, langsamer oder schneller und weist dem Weg seine Richtung, führt auf Nebenstrecken und zu Zielorten. Weist mit einem Dreh auf die tiefblauen Schatten in den Schluchten des Grand Canyon, wo uralte Träume schlummern, wo in einer Höhle ein Holzfeuer flackert, sich das Knistern und Knacken des trockenen Holzes mit dem Rauschen des Wassers vermischt, wo ich, im Schneidersitz, das Gesicht dem Farbenrausch der untergehenden Sonne zugewandt, an einem lederartigen, luftgetrockneten zähen Rindfleischstreifen herumkaue.
Und schon ist es in meinem Traum nur ein Katzensprung nach Idaho. Ich trete in der Wildnis auf eine Lichtung und stehe plötzlich vor einem ausgewachsenen Elch, der mich weit überragt. Er dreht mir seinen Schädel mit den riesigen Schaufeln seines Geweihs zu, wir schauen uns ruhig und prüfend an, er wendet sich wieder ab, trottet bis zum nächsten Busch. Und ich wandere weiter, ins Offene, auf den Spuren von Lewis und Clark, durch Wälder und Wüsten, entlang der Rocky Mountains und leichtfüßig, fast schwebend, über das Gras der Prärie, wo ein Trupp von Indianern, der kostümiert erscheint, inbrünstig heulend die Ahnen anruft.
Und schon hebe ich ab, überfliege felsige Gipfel, reißende Flüsse, Flüsse ohne Wiederkehr, Stromschnellen, Wasserfälle, die weiten Wasserflächen stiller Seen. Nach der Landung in einem verschneiten Tal begegne ich einer jungen Frau. Sie erzählt mir, sie habe sich in den Anblick eines Berglöwen verliebt und verfolge seinen Spuren. Die Abdrücke seiner Tatzen, die sie mit dem Bowiemesser aus dem fest gefrorenen Schnee geschnitten hat, bewahrt sie in einer Kühltasche auf.
Weiter im Flug, durch Jahreszeiten, Tage- und Nachtzeiten, vor und zurück. An einem felsigen Steilufer, hoch über dem Schlangenfluss, legen Mineraljäger eine Opal-Ader frei. Sie geben mir den Rat, die Taschen mit Steinen zu füllen, gegen die Klapperschlangen. Alle paar Schritte einen der Steine voraus werfen, dann erschrecken und verschwinden die Biester. Ich verabschiede mich und gleite schon wieder weiter mit dem Finger auf meiner Weltkarte, weiter im Flug. In Alaska richtet sich mein Interesse auf das Moos und die ältesten Flechten der Erde, die auf einer ausgedehnten Fläche die verstreuten, imposanten Findlinge mit allerlei Farbtupfern schmücken. Nichts schöner als über die Tundra zu streifen mit ihren Krüppelkiefern, ihren Herden von Rentieren und allerlei kleinem Getier.
Dann treibt auch schon Packeis über das Nordmeer, und Grönland ist nicht mehr weit. Ich komme unter in der bescheidenen Hütte eines Fischers, der zum Glück noch nicht dem Schnaps verfallen ist und seine Frau nicht behandelt wie ein entwürdigtes Tier. Ich wärme mir die Hände am Feuer, über dem an Ketten ein großer Kupferkessel mit einer kochenden, duftenden Fischsuppe hängt. Am Feuer sitzt eine junge Frau mit einer entblößten Brust, an der sie ihr Baby säugt. Nur wo es friedlich ist, kann ein Traumwandler verweilen, sonst würde er erwachen.
In Irland bekomme ich so viel Grün zu sehen wie nie zuvor. Ganze hügelige Landschaften sind mit grünem Samt bespannt. Und der ganze Himmel erscheint auf einmal in leuchtend grünem Licht. Ein wahrer Saint Patricks Day, der mich empfängt. Und die Beine gehen, gehen / und eine rote Brandung / überflutet Ufer aus Asche: Verse von Octavio Paz, die mich begleiten. Und so geht es weiter und weiter, in einem fort...