Die Arktis ruft

Mit Hundeschlitten und Kamera durch Spitzbergen und Grönland

Autor:Bernhard Villinger
Erscheinungsjahr:2019
Genre:Reisebuch
Verlag:Die Polarbibliothek


Rezensiert von Peter Frömmig
Im Vorwort zum Buch, welches sechzehn Jahre nach der ersten Begegnung mit dem „ewigen Eis“ entstand, erklärt der Freiburger Mediziner, Polarforscher, Sportler und Filmer Bernhard Villinger: „Die Erinnerung an jene Zeit ist mir trotz dürftiger Aufzeichnungen heute noch so lebendig, daß die Wiedergabe der Erlebnisse und Eindrücke nie schwer fiel.“ Von Vorteil beim Schreiben habe sich gerade das Fehlen eines ausführlichen Tagebuchs erwiesen. Dadurch seien Nebensächlichkeiten von selbst weggefallen, hätten sich trockene, wissenschaftliche Erörterungen nicht einschleichen können. Die Lebendigkeit und Farbigkeit der Schilderung ist eine besondere Stärke dieses sehr lesenswerten Buches.
Was hat die Männer der Expeditionen schon vor über hundert Jahren dazu bewogen, in diese eisigen, äußerst lebensfeindlichen Regionen der Erde vorzudringen? Bei Bernhard Villinger war es eine Mischung aus zunächst jugendlicher Abenteuerlust und zunehmend ernsthaftem Forschergeist. „Man sagt, daß die Sehnsüchte und Liebhabereien der Jugendjahre meist von entscheidender Bedeutung wären für das spätere Leben. […] Ich war ganz behext von diesem Wunder des Schneeschuhs, und es ging mir eigentlich erst damals der Winter meiner heimatlichen Schwarzwaldberge richtig auf.“ Und als im März 1912 der Südpolerfolg von Roald Amundsen bekannt wurde, habe er „nur noch Aug’ und Ohr für die Polarwelt“ gehabt. In Villingers „Die Arktis ruft“ sind die Berichte von zwei Expeditionen, an denen er beteiligt war, zusammengefasst.
Die erste fand 1913 statt, da war Villinger gerade einmal 24 Jahre alt. Es handelte sich um die Hilfs- und Suchaktion für die gescheiterte und verschollene Schröder-Stranz-Expedition auf Spitzbergen. „Eine große Polartragödie“, wie Villinger es bezeichnet. „Ein unglücklicher Stern war von Anfang an über der Expedition gestanden. Von den 15 Teilnehmern waren nur sieben zurückgekehrt, von zehn Deutschen, nur drei. Zwei davon als Invaliden. […] So war es uns Deutschen vergönnt, endlich Gewißheit über das Schicksal unserer unglücklichen Landsleute zu schaffen.“ Einer der Überlebenden war Hermann Rüdiger, er hat die dramatischen Ereignisse, die zu dem Unglück führten, in ihrem gesamten Verlauf festgehalten. Eindringlich nachzulesen ist das in seinem Bericht „Die Sorge-Bai. Aus den Schicksalstagen der Schröder-Stranz-Expedition“, der ebenfalls in der Polarbibliothek als Neu-Edition erschienen ist.
Erst 1926 bot sich Bernhard Villinger im Auftrag der UFA eine Gelegenheit, „wieder da hinauf zu kommen“. Diesmal mit einer Filmexpedition, deren Leitung in seinen Händen lag. In der Crew befand sich auch der inzwischen sehr gefragte Kameramann Sepp Allgeier, sein Expeditionskamerad von 1913. Von März bis Oktober 1926 wurde in Grönland bei oft abenteuerlichen Bedingungen gedreht. Unter der Regie von Bernhard Villinger und Georgi Asagarow entstand der Dokumentar-Stummfilm „Milak, der Grönlandjäger“, der 1928 im Berliner Mozartsaal uraufgeführt wurde. Im Grönlandteil seines Buches steigert sich Villinger noch einmal als Erzähler. Besonders schön ist ihm der Abschnitt gelungen, in dem er das Leben der Eskimos, denen er sehr nahe kam, beschreibt. Die Einblicke, die vermittelt werden, haben durchaus ethnologische Qualitäten. Die letzten Worte im Buch überlässt Villinger dem Schlittenhundführer Helmer Hanssen, der lachend prophezeit: „Nun sind Sie zum zweiten Mal da oben gewesen. Jetzt wird’s Ihnen gehen, wie es allen geht, der Ruf der Arktis ist stärker als alles andere, der Norden lässt keinen mehr los.“
Ein drittes Mal noch, im Jahr 1931, beteiligte sich Bernhard Villinger als Arzt und Wissenschaftler auf dem U-Boot „Nautilus“ an einer Nordpol-Expedition, die aufgrund technischer Probleme nur teilweise erfolgreich war. Heute, in Zeiten der Erderwärmung und des Klimawandels, finden Expeditionen unter ganz anderen logistischen Voraussetzungen statt. Auch vom „ewigen Eis“ kann man bei schmelzenden Gletschern und Polkappen kaum noch reden. Anfang dieses Jahres gab es den Extremfall, dass es in der Zentralarktis an einzelnen Tagen wärmer war als in Deutschland. Dringlicher als bei früheren Expeditionen ist die Klimaforschung geworden, die Arktis gilt heute als Frühwarnsystem des Klimawandels. Im vergangenen September startete die größte Polarexpedition aller Zeiten. Das deutsche Forschungsschiff „Polarstern“ lässt sich, wie einst Nansen mit seiner „Fram“, im Nordpolarmeer vom Eis einfrieren, um sich ein Jahr lang nur mit der Packeisdrift voranzubewegen. Beteiligt an dieser Expedition sind abwechselnd 600 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus siebzehn Nationen. Weitere Eisbrecher sowie Flugzeuge versorgen das Team, während Helikopter, Raupenfahrzeuge und Schneemobile Menschen und Material transportieren. Auch Abenteuer und Risiko sind in unseren Tagen berechenbarer geworden.