Die Zürauer Aphorismen

Autor:Franz Kafka
Erscheinungsjahr:2006
Verlag:Suhrkamp Verlag


Besprochen von Beatrice Eichmann-Leutenegger
Am 12. September 1917 kommt ein Mann an, den alle im Dorf sofort als den Fremden wahrnehmen. Hier kennt jeder jeden, es ereignet sich kaum etwas, nur das Gras wächst, und im Speicher liegt der Hopfen zum Trocknen ausgebreitet, denn hier, im Saazer Becken, erstreckt sich ein bekanntes Hopfenanbaugebiet. Indessen ist Zürau im Nordwesten Böhmens eines jener "böhmischen Dörfer", die auf der grossen Landkarte keine Rolle spielen. Was hat der Ankömmling, eindeutig einer aus der Hauptstadt, hier verloren? Jahrzehnte später, gegen 1960, werden zwei Studenten aus Prag den Zürauer Bürgermeister Lojza nach dem Fremden fragen und seinen Namen nennen, auch ein Foto vorweisen, aber der Befragte kann mit dem Namen nichts anfangen, kommentiert nur das Bild ("der Mann schaut verdammt gut aus") und wendet sich wieder der Arbeit zu. Die beiden Besucher, Vaclav Havel und Milos Forman, werden sich noch etwas umgeschaut haben, bevor sie das Dorf wieder verliessen. Wer sollte auch in diesem Provinznest FRANZ KAFKA kennen!
Viel lag hinter dem Dichter, als er im Kriegsjahr 1917 die Hauptstadt mit dem Dorf vertauschte: die zweite Verlobung mit seiner Berliner Braut Felice Bauer, eine gemeinsame Reise nach dem ungarischen Arad, von der Kafka jedoch wegen Zwistigkeiten allein zurückkehrte, der Blutsturz in der Nacht vom 9. auf den 10. August, die am 4. September durch Prof. Pick diagnostizierte Lungentuberkulose und endlich ein jahrelanger Kampf um den ausschliesslichen Platz für die Literatur in seinem Leben. Immer standen die berufliche Tätigkeit als Vice-Sekretär in der "Arbeiter- und Unfall-Versicherungsanstalt des Königreichs Böhmen" sowie die drohende Eheschliessung diesem Ideal entgegen. Da bot sich ein Aufenthalt in Zürau an, wo die Lieblingsschwester Ottla das Landgut ihres Schwagers Karl Hermann bewirtschaftete. Dieser Ausbruch bedeutete: weg von der Büroarbeit, weg von "Mütterchen Prag", weg von der Familie mit ihren Erwartungen, weg von der quälenden Verlobungsgeschichte. Vom Landleben versprach sich Kafka günstige Auswirkungen auf seine Erkrankung, verhielt er sich doch misstrauisch gegenüber der Schulmedizin und schwor dafür auf die Naturheilpraxis.
Acht Monate blieb Franz Kafka in dieser Abgeschiedenheit, wo Strom und fliessendes Wasser, Kohle und Petroleum fehlten. Doch er erlebte glückhafte Momente, wie man aus dem Tagebuch vernimmt. Seine Freunde bat er dringlich, von Visiten abzusehen. Unterbrochen wurde diese Ruhephase nur durch einen Besuch von Felice und einen Aufenthalt in Prag während der Weihnachtstage, an denen die Braut erneut erschien – nun aber zum letzten Mal, denn das Verlöbnis wurde endgültig gelöst. Kafka war jetzt in seinem "Unglück glücklich" (wie der Freund Max Brod feststellte) und konnte sich ungehindert dem Schreiben zuwenden. "Ich habe kein litterarisches (sic!) Interesse, sondern bestehe aus Litteratur, ich bin nichts anderes und kann nichts anderes sein", hatte er an Felice Bauer am 14. August 1913 geschrieben.
Mehrere Erzählungen entstanden in Zürau. Ebenso half Kafka seiner Schwester bei den landwirtschaftlichen Arbeiten, er lenkte das Fuhrwerk, pflückte Hagebutten, fütterte die Ziegen. Und er schrieb die "Zürauer Aphorismen", die Max Brod posthum 1931 unter dem von ihm gesetzten Titel "Betrachtungen über Sünde, Hoffnung, Leid und den wahren Weg" veröffentlichte. Einer grossen Leserschaft blieben diese durchnummerierten Kurztexte lange verborgen. Erst die Ausgaben bei Suhrkamp und später jene im Wallstein-Verlag erreichten einen grösseren Kreis. Es handelt sich um 109 aphorismenartige Notate, die nicht immer leicht zu entschlüsseln sind. Eine der bekanntesten Aussagen ist diese:
DU BIST DER AUFTRAG. KEIN SCHÜLER WEIT UND BREIT
Was irritiert? Normalerweise würde es heissen: Du hast den Auftrag. Der Auftrag wäre das Objekt, den das Subjekt übernommen hat. Hier aber ist der Mensch selbst der Auftrag; es passiert eine Ineinssetzung, wodurch die Aussage eine enorme Steigerung erfährt. Erinnert wird man an das Dictum des Absolutismus "L’état c’est moi" (Der Staat bin ich), welches nach dem gleichen syntaktischen Muster verfährt. Ist also Kafka auf einen imperialen Sprachgestus verfallen? Aber es lässt sich auch ein Exempel in der Bibel finden: "Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben" (Joh 14,6). Überrascht stellt man fest, dass es zwischen den Aussagen von Kafka, der französischen Staats-Maxime und dem neutestamentarischen Jesus eine Gemeinsamkeit gibt: Jedes Mal drückt die Formulierung einen Absolutheitsanspruch aus, der durch nichts und niemanden zu überbieten ist. Kafka wählt diese Form der Personifikation nicht zum ersten Mal, hat er doch an Felice Bauer geschrieben, er sei und könne nichts anderes sein als Literatur.
Das Du in diesem Zürauer Aphorismus darf man sich als ein Ich denken. Kafka, nicht zum ersten Mal, führt Zwiesprache mit sich selbst – im Sinne einer Selbstermahnung. Da gibt es kein reales Gegenüber, so wenig wie die zu erwartenden Schüler. Aber warum bleiben diese aus? Erinnert sei an den Schluss der Erzählung «Vor dem Gesetz», die im November/Dezember 1914 entstanden ist. Der Türhüter teilt dem sterbenden Mann, der ein Leben lang auf den Einlass gehofft hat, brüllend mit: "Hier konnte niemand sonst Einlass erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schliesse ihn." So ist auch der Auftrag nur für einen Einzigen bestimmt, er ist exklusiv und weder teilbar noch mitteilbar. Einer, der alles abverlangt. Kein Schüler könnte in dieser dünnen Luft nachfolgen.
Worin der AUFTRAG für Kafka gründet, steht zweifellos fest: das Schreiben, um das während der vergangenen Jahre seine Gedanken unablässig gekreist sind. Es gab jene rauschhafte Nacht, in der "Das Urteil" entstand, es gab peinigende Leere, es gab das Ringen um Felice, das heisst die Frage, ob sich Kafkas hoher Schreibanspruch mit den Forderungen des Ehelebens vertragen würde. Die Antwort lautete: NEIN. Franz Grillparzer, den Kafka wegen der lebensgeschichtlichen Ähnlichkeit schätzte, steckte im gleichen Dilemma fest. So blieb Kati Fröhlich seine "ewige Braut". Felice Bauer heiratete zwei Jahre nach dem Bruch mit Kafka den Bankier Moritz Marasse. "Ich bin der Auftrag": Dies heisst Einsamkeit ohnegleichen.