Tamangur

Autor:Leta Semadeni
Erscheinungsjahr:2015
Genre:Prosaband
Verlag:Rotpunktverlag


Vorgestellt von Klaus Isele
Weil immer wieder Ziegen in diesem bezaubernden Buch vorkommen (nicht immer positiv konnotiert), ist es eigentlich nur konsequent, daß eine von ihnen aufs Buchcover gekraxelt ist. Sicherlich eine Seltenheit in der Sparte Belletristik. Die zurückhaltend-vornehme Aufmachung des Buches entspricht durchaus dem Inhalt. Nicht mehr scheinen als sein (wie sonst fast überall in der Literatur und im Alltagsleben), sondern das Gegenteil davon. Wohltuend. Beeindruckend. Zur Nachahmung wärmstens empfohlen.
Die 1944 geborene Leta Semadeni, die sich bislang vor allem als Lyrikerin und als Übersetzerin aus dem Rätoromanischen hervorgetan hat, könnte eine wichtige Information für den Leser ihres Buches auch wie folgt mitteilen: »Der Großvater des Kindes, der Jäger war, ist gestorben.« Stattdessen heißt es bei ihr: »Der Großvater ist in Tamangur. (…) Im Moment, in dem ein Jäger in Tamangur empfangen wird, verliert er einundzwanzig Gramm, weil sich die Seele aus dem Körper davonmacht, um dorthin zurückzukehren, wo sie vorher gewohnt hat.« Ähnlich poetische Formulierungen finden sich zuhauf in diesem Roman, der vermutlich den bisherigen Höhepunkt des literarischen Werkes von Leta Semadini bildet.
Die Großmutter des Kindes (Vater und Mutter sind weggezogen) hat kein gutes Wort für das kleine Dorf tief unten zwischen den Bergen, die möglicherweise zum Engadin gehören. »Es fängt dort an, wo es aufhört, es ist nichts mehr als ein Fliegendreck auf der Karte.« Die berührenden Erinnerungen aus fernen Kindertagen sind nicht immer hell und freundlich, aber in einer so poetisch-sensiblen Sprache formuliert, dass das Leichte über das Schwere dominiert. Neben der Großmutter und dem Großvater kommen in diesem bewegenden Erinnerungsbuch auch noch die skurrile Elsa, ihr Freund Elvis und der Hund Chan vor. Mehr Personal braucht die große Erzählerin Semadini nicht, um ein prall gefülltes Buch voller kleiner, eindringlicher Geschichten zu schreiben.
Weil es aber keine Gerechtigkeit auf der Welt gibt (oder viel zu selten) – und auch nicht in der Literaturwelt – , wird die Jury, die beispielsweise den Schweizer Buchpreis vergibt, dieses wunderbare Buch wahrscheinlich nicht auszeichnen, weil es ihr zu handlungsarm, zu feinsinnig, zu still ist. Hoffen wir aber trotzdem, dass es anders kommen möge und die Gesetze des Marktes und des Marketings für einmal ausgehebelt werden. Das Kind bekommt von der Großmutter, die ein echtes Original ist, die Welt erklärt. Und wir Leser dürfen daran teilhaben. Viel mehr kann ein Buch nicht leisten, finde ich.