Mobbing auf Bibliothekarisch



Von Konrad Heyde
Im Paradies wurde nicht gemobbt, aber dann ging’s los. Mobbing gehört zum Erfahrungsschatz aller Menschen. Ob in der Familie, im Kindergarten, in der Klasse, im Lehrerkollegium, im Orchester, im Ärzteteam, in der Forschungsabteilung, im Handwerks­betrieb, am Gericht, in der Reisegruppe, in der Raumschiffbesatzung, im Verein, im Konzernvorstand, im Nonnenkloster, im Parlament, im Fußballverband, in der Schrebergartenkolonie – gemobbt wird in jeder menschlichen Gemeinschaft.
Es gibt Mobber, Gemobbte und Zuschauer. Die Zuschauer könnten auch Abwarter genannt werden; sie können, müssen aber nicht, früher bereits die Erfahrung des Gemobbtwerdens gemacht haben, sind jedenfalls vorsichtig und distanziert und warten den Ausgang eines Mobbens ab, um sich dann auf die siegreiche Seite zu stellen. Siegreich sind ganz oft die Mobber, manchmal behalten aber auch die Gemobbten die Oberhand – etwa wenn sie sich, für die Mobber überraschend, sehr heftig zur Wehr setzen (aber auch dann wird nach einiger Zeit das Mobben vorsichtiger und subtiler wieder einsetzen) oder wenn äußere Bedingungen sich ungünstig für die Mobber und günstig für die Gemobbten verändern.
Es scheint, als wolle der Mobber etwas erreichen, das er für gut und richtig hält, ohne jedoch dafür (ausreichend) argumentieren zu müssen, weil er aus Erfahrung weiß, dass sein Argumentieren hilflos ist und nichts bewirkt. Er hätte gern, dass sein Mobben so aussieht, als geschähe es zum Wohle aller (der Menschheit, zumindest jedoch der Umgebung, in der er mobbt). Er stellt sein Mobben (sein Bösesein) dar, als sei es die (unbeholfene) Reaktion auf die Verweigerung der Anerkennung seines positiven Strebens. Die Tarnkappe der mobbenden Bestie soll humanes Wirken vorgaukeln.
Das ist wortwörtlich zu nehmen: Wer mobbt, geht über Leichen. Wer mobbt, handelt unerbittlich, brutal und enthemmt. Ziel ist es, jemanden aus der Gruppe oder vom Arbeitsplatz zu ver­drängen. Dabei sind bekräftigende Kollateralschäden nur recht, das Zerbrechen einer beruflichen Laufbahn sowieso, aber auch der Durchschlag des Mobbens am Arbeitsplatz in den privaten Bereich, etwa die Ehescheidung, das Absacken in Alkoholismus, der Suizid des Verzweifelten. Die Frau, die ihre heranwachsenden Kin­der durch Mobbing zu psychischen Krüppeln gemacht hat und noch als Rentnerin auf Campingplätzen herummobbt, brüstet sich mit dem, was sie für den größten Erfolg in ihrem Leben hält, die Ehe ihrer Tochter zermobbt zu haben. Dem Außenstehenden erscheinen die Folgen des Mobbens derart ungeheuerlich, der Mobber derart bar jeglicher Moral, dass er dazu neigt, dessen Tun damit zu erklären, der bemerke gar nicht, was er anrichte. Und doch wird beim Entschuldigung suchenden Außenstehenden ein Restzweifel bleiben und der Verdacht, der Mobber genieße klammheim­lich.
Tatsächlich geht es dem Mobber um den Genuss der Macht über Menschen. Im Gegensatz zu Krieg, Gewaltmenschen, menschenverachtenden Systemen, wo, um Macht über Menschen zu erlangen, zu technischen Mitteln, Waffen, Folterwerkzeugen, Guillotine, Giftgas gegriffen wird, tun Mobber sich etwas darauf zugute, dass sie Macht über Menschen auf subtilere Weise erlangen, durch Kommunikation. Das stimmt insoweit, als Mobber
ihren Opfern zu verstehen geben, dass sie von ihnen nichts halten, aber das stimmt insoweit nicht, als es sich dabei um keine voll­ständige Kommunikation handelt. Der Mobber ist gegenüber dem Gemobbten nicht offen. Mobbing geschieht in einer Weise, die verhindert, dass der Gemobbte angemessen reagieren kann; Argumentation und Diskussion werden vom Mobber nicht gewünscht und darum vermieden. Der Gemobbte erfährt wenig, manches wird angedeutet, vieles bleibt unausgesprochen, er nimmt nur den Abglanz von Argumenten, Besprochenem, Gedachtem wahr, das aber anderswo, so muss er vermuten und befürchten, und mit anderen besprochen und bedacht wurde – und dieser Abglanz ist vor allem ein mimisches und gestisches Getue des Mobbers, das Verachtung ausdrückt. Auf diese Weise wird dem Gemobbten die Würde genommen (und die Selbstsicherheit, die Lebensfreude, die Tatkraft). Dem Mobber geht es um den Genuss der Macht über einen Menschen durch dessen Entwürdigung.
Wer einmal erfolgreich gemobbt hat, sich also einmal den Genuss von Macht über einen Menschen durch dessen Entwürdigung verschaffen konnte, wird nach Wiederholung gieren. Er wird alles daran setzen, neue Mobbingopfer zu finden. Je öfter er mobbt,
desto sicherer wird er geeignete Opfer erkennen, desto geübter mobbt er. Aber durch die immer dichter werdende Abfolge des Mobbens und die immer routinierter betriebenen einzelnen Mobbingvorgänge wird sich der daraus zu ziehende Genuss nicht, wie erwartet, steigern lassen, im Gegenteil, es wird ein Mobbing kommen, bei dem der Genuss in Anhedonie umschlägt. Spätestens dann wird sich der Mobber Mitmobber suchen, durch deren Mobben er einen gesteigerten, sublimeren Sekundärgenuss gewinnt, wodurch er die Anhedonie (wenigstens noch eine Weile) zur Seite zwingen kann. Wie die Gemobbten werden auch die Mitmobber Opfer des Mobbers; er lässt sie zwar an seiner Macht und seinem Genuss teilhaben, achtet aber darauf, dass sie nachrangig bleiben und vorrangig ihm Genuss verschaffen. Mitmobber (und Gemobbte) sind seine Untertanen; er ist einzigartig. Es ist klar: Mobber sind süchtige Psychopathen, Opfer ihres eigenen Verhaltens, sie agieren in einem viziösen Zirkel, aus dem sie nicht ausbrechen können, bedauernswerte Menschen. »Sollten sie nicht als Kranke gesehen werden?« »Dafür sind sie zu mächtig, zu uneinsichtig, zu rücksichtslos.«
Es gibt die These, dass sich Mobbingopfer den Mobbern geradezu anbieten, sich ihnen als zu Mobbende präsentieren, dass Gemobbte und Mobber eine Einheit bilden, in der beide voneinander abhängig sind. Aber unabhängig davon, ob das stimmt oder nicht – am Ende des Mobbens ist das Opfer erledigt, und der Mobber triumphiert und sucht sich das nächste Opfer.
Anstatt den Mobber durch vermutetes Nichtwissen zu entschuldigen, darf angenommen werden, dass eher der Gemobbte sein Gemobbtwerden nicht als solches erkennt und eine Schuld für sein Nichtzurechtkommen mit anderen bei sich sieht. Denn Mobben bestärkt die Befürchtung, die viele Menschen mit sich tragen, andere seien kompetenter als man selbst. Wenn diese Befürchtung stark wird, verhindert sie zu erkennen, dass man gemobbt wird – und das ist es, was der Mobber ausnutzt.
Aber wenn das Gemobbtwerden erkannt wird, sollte der Gemobbte das nicht verstecken und in sich hineinfressen, er sollte es vielmehr publik machen: vielen erzählen, dass er und von wem er gemobbt wird. Wichtig wäre auch, ein Tagebuch des Gemobbtwerdens zu führen, in dem jedes Mobben verzeichnet wird: Datum, Uhrzeit, Ort, Anwesende, wer gemobbt hat und wie das vonstatten ging. Im Umfeld des Mobbens sollte bekannt sein, dass der Gemobbte ein Tagebuch führt, mit dem er notfalls sein Gemobbtwerden dokumentieren kann.
Vorgesetzte mobben Mitarbeiter, Mitarbeiter mobben Vorgesetzte, Mitarbeiter mobben Mitarbeiter, Erfahrene mobben Berufsanfänger, Studierte mobben Nichtstudierte, Rüpel mobben Zu­rückhaltende, Schüchterne mobben Lautstarke, Spießbürger mobben Bildungsbürger, Bildungsbürger mobben Schrumpfbürger. Beim Mobben und Gemobbtwerden ist jede Konstellation möglich. Sogar Mobber können früher gemobbt worden sein oder später einmal gemobbt werden, und Mobbingopfer können früher Mobber gewesen sein oder später einmal Mobber werden.
Eine Belegschaft aus lediglich zwei Personen ist paradiesisch; denn zwischen zweien gibt es kein Mobbing, dazu braucht es noch Schlangen und Erzengel. Der paradiesische Apfel kann nur symbolisch gemeint sein, weil Inhalt von Mobbing keine Gegenstände oder Sachverhalte sind, sondern ausschließlich Machtgenuss. Deshalb kann der Apfel nicht vom Baum gepflückt worden sein, es muss sich mindestens um einen Reichsapfel gehandelt haben, der Macht symbolisiert. Zwischen zweien wird nicht gemobbt, aber je größer eine Belegschaft ist, desto eher geschieht es, und in großen Belegschaften gibt es eventuell mehrere Mobber, oder es bilden sich Mobbingherde. Es wäre zu untersuchen, ob in traditionellen hierarchischen Strukturen weniger gemobbt wird als in flachen Hierarchien; denn wo es wenige Ebenen gibt, auf jeder Ebene aber viele Gleiche, könnten die Gleichen zu vermehrtem Mobben neigen, um doch wieder Unterschiede herzustellen.
Es ist schier nicht zu glauben, dass »Mobbing« erst zwanzig Jahre in der deutschen Sprache ist, häufig, selbstverständlich, sicher und eindeutig, wie es gebraucht wird. Zwar hatte schon Konrad Lorenz 1963 das Wort erstmals verwendet, es allerdings mit der Bedeutung »Gruppenangriff von Tieren auf einen überlegenen Gegner« (Gänse verteidigen sich gegen einen Fuchs) ausgestattet. Erst Heinz Leymann, der jahrelang über Beziehungen am Arbeitsplatz geforscht hatte und 1993 seine Untersuchungsergebnisse in der Schrift »Mobbing – Psychoterror am Arbeitsplatz und wie man sich dagegen wehren kann« präsentierte, gab dem Wort seine heutige Bedeutung; und weil Arbeitgeber und Gewerkschaften seine Veröffentlichung aufgriffen und eine breite Debatte zum Thema anstießen, fand das Wort in seiner jetzigen Bedeutung rasch breiten Eingang in die Sprache und ins allgemeine Bewusstsein. Davor wurde das Phänomen mit Wörtern wie drangsalieren, schikanieren, wegekeln, tyrannisieren, demütigen, ausgrenzen eher um­schrieben.
»Mobbing« scheint ein Anglizismus zu sein, aber im Englischen gibt es das Wort nicht, dort heißt das Phänomen »bullying«. Im Deutschen ist es also ein Para- oder Pseudoanglizismus. Mobbing ist abgeleitet von Mob, der zusammengerotteten, aggressiven Menge, deren Bewegung ziellos ist, weshalb sie einen Demagogen braucht, der ihr ein Ziel weist (Lynch). »Mobbing« ist als Wort vergleichbar mit »Handy«, das auch erst zwanzig Jahre in der deutschen Sprache ist, im Englischen unbekannt, ebenfalls ein Paraanglizismus. Oder es ist vergleichbar mit »Maut«, einem veralteten süddeutschen, eher alpendeutschen Regionalwort, das vor ein paar Jahren revitalisiert und auf ganz Deutschland ausgedehnt wurde, wobei verwunderlich ist, dass bei dem zeitgemäßen Bedürfnis, sich international verständlich zu machen, gerade für die international relevante Straßenbenutzungsgebühr kein anglizistischer oder paraanglizistischer Begriff gefunden, sondern einer aus dem hintersten Winkel hervorgekramt wurde.
Selbstverständlich gilt das zum Mobben Gesagte auch fürs Mobben in Bibliotheken. In öffentlichen Bibliotheken scheint es darüber hinausgehende spezielle Tendenzen zu geben. So könnte man sagen: In öffentlichen Bibliotheken mobben keine Männer, sondern Frauen, insbesondere Bibliothekarinnen. Das könnte einfach zu erklären sein, weil im Bereich der öffentlichen Bibliotheken von allen bibliothekarisch ausgebildeten Fachkräften nur sieben Prozent Männer sind. Bibliothekare sind selten, wenn einer mobbt, wird das – insgesamt gesehen – nicht zur Kenntnis genommen. Zum Zweiten könnte man sagen, Bibliothekarinnen, die mob­ben, übernehmen keine volle Verantwortung, sie sind z. B. keine Bibliotheksleiterinnen, sondern »nur« Stellvertreterinnen oder Mitarbeiterinnen, sie übernehmen lediglich partielle Verantwortung und vermeiden, letztendlich verantwortlich gemacht zu werden. Drittens könnte gesagt werden, dass Bibliothekarinnen, die mobben, ihren Beruf verachten. Es fällt auf, dass solche Bibliothekarinnen sehr oft mit Lebenspartnern liiert sind, die in traditionell bürgerlichen Berufen auf der Basis eines akademischen Studiums arbeiten; es ist vorstellbar, dass mit solchen Lebenspartnern ein Minderwertigkeitsgefühl kompensiert wird, das daraus resultiert, nicht mehr aus sich gemacht zu haben als eine Bibliothekarin mit einem kleinen Fachhochschulstudium. Und schließlich muss gesagt werden, dass Bibliothekarinnen, die mobben, schlecht kommunizieren. Vor allem können sie nicht überzeugen, weil sie selbst nicht überzeugt sind und das durch ihre Mimik und Gestik den anderen offensichtlich machen.
Wer in dem Text eine Retourkutsche sieht, liegt richtig. Er will Mobberinnen, in der Hoffnung, dass sie sich wiedererkennen, einen Spiegel vorhalten. Gegen das bessere Wissen, dass Mobbing ein psychopathisches Suchtverhalten ist, dem nicht, und schon gar nicht, indem man darüber schreibt, beizukommen ist, setzt er – optimistisch – auf die Intelligenz der Mobberinnen, darauf, dass sie fähig sind, ihr Verhalten zu erkennen, und die Disziplin und Kraft aufbringen, die unentwegte Abfolge ihres Mobbens noch zu Lebzeiten zu beenden.

Anmerkungen

Ich war versucht, diesem Aufsatz einen Satz von Elfriede Jelinek als Motto voranzustellen, der einem Interview aus dem Jahr 1991 über das Verhältnis von Männern und Frauen in ihrem Werk entstammt: »Sobald die Frauen sich zu Komplizinnen der Männer machen, um sich dadurch einen besseren sozialen Status zu verschaffen, muss das schief gehen.« Weil der Aufsatz gegen Ende zu der Vorstellung führt, mobbende Bibliothekarinnen kompensierten ein Minderwertigkeitsgefühl durch die Wahl bestimmter Lebenspartner, wäre durch die Voranstellung des Jelinek-Zitats der Aufsatz insgesamt von dieser Vor­stellung geklammert und dominiert worden, eine Betonung, die verzerrt hätte. –
Seite 1: »Mobben zum Wohle aller« tut so, als gäbe es objektive
Gesichtspunkte, für die mobbendes Engagement gerechtfertigt sei. Diese »Gesichtspunkte« werden unter Mobbenden ausgetauscht, und zwar so intensiv und immer und immer wieder, wodurch der Austausch den Charakter einer irrationalen Einschwörung hat. Mobber und ihre Mitmobber erkennt man daran, dass sie, wenn sie überrascht werden, mit hochroten Köpfen auseinanderfahren und betreten schwei­gen; wenn das am Arbeitsplatz bemerkt wird, kann davon ausgegangen werden, dass viel Arbeitszeit fürs Mobben, also für egoistischen Lustgewinn draufgeht. –
Seite 1: Die Macht über Menschen evoziert hier den Spruch von Mao Tse-tung »Die Macht wächst aus dem Gewehrlauf«. Außerdem sei an den Zusammenhang von Macht, Reiz der Gefahr, Sammeln von Siegen, Erregung von Schrecken, Gewöhnung ans Überleben, Massenhaftigkeit der Opfer, Nekrophilie erinnert, wie ihn Elias Canetti im Essay »Macht und Überleben« darstellt (in: Elias Canetti, Das Gewissen der Worte, München, Wien 1975); daraus zwei Zitate: »Der Schrecken über den Toten, wie er vor einem daliegt, wird abgelöst von der Genugtuung: man ist nicht selbst der Tote. Man hätte es sein können. Aber es ist der andere, der liegt.« Und: »Es ist nie ganz ungefährlich, sich zu den sogenannten Primitiven zu begeben. Man sucht sie auf, um von ihnen her ein schonungsloses Licht auf sich selbst
zu werfen; doch ist die Wirkung, die sie haben, oft die entgegengesetzte.« –
Seite 2: Ein Tagebuch des Gemobbtwerdens könnte auch so geführt werden, dass es sich zur Veröffentlichung eignet. –
Seite 4: Aus Verzweiflung über ihr Unvermögen, angemessen zu überzeugen, zog einmal eine Fachstellenbibliothekarin diese Konsequenz: »Ich werde doch keinem Bürgermeister etwas aufschwatzen, was er nicht haben will.« Damit hatte sie sich gleich in mehrfacher Hinsicht für Fachstellenarbeit disqualifiziert; einmal durch die Saloppheit der Formulierung, tatsächlich hatte sie niemals an sich gearbeitet, um durch gute Argumentation zu überzeugen, eine permanent zu leistende Arbeit, mit der die Sprache der Argumentation, ihre Frische und Kraft, immer wieder aufs neue gewonnen werden muss, denn die Wiederholung einer Argumentation mit denselben Wörtern zerstört binnen kurzem ihre Überzeugungskraft; dann durch die Verweigerung des wichtigsten Teils von Fachstellenarbeit, der Argumentationsarbeit gegenüber kommunalen Entscheidungsträgern; und schließ­lich, indem sie sich so vor anderen Fachstellenmitarbeitern ausließ, diese mit ihrer Verweigerungshaltung zu infizieren und damit Fach­stellenarbeit weitgehend zu sabotieren suchte. Die Bibliothekarin zog jedoch die andere mögliche Konsequenz und wechselte bald in eine Bibliothek.