muschelverschlossene zeit
Autor: | Helle Trede |
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Erscheinungsjahr: | 2017 |
Genre: | Gedichtband |
Besprochen von Markus Manfred Jung
„Poetisches Tagebuch“ nennt Helle Trede ihre Texte, dem Lauf des Jahres 2017 folgend. Sie orientieren sich aber beileibe nicht an gesellschaftspolitischen Tages-Ereignissen, nicht an privaten Geschehnissen, nicht einmal an persönlichen Begegnungen. Die Gedichte sind Resultate einer Introspektion, einer persönlichen Gestimmtheit eines sensitiven Ichs, das sich im Lebenszyklus eines Jahres eingebunden weiß. Dieses Ich befindet sich im intimen Gespräch mit einem Du, wobei nicht eröffnet wird, wo dies Gegenüber wohnt. Ist es weltimmanent, ein persönliches Pendant, ein geliebter Mensch? Ist es der Leser, der sich berührt fühlt, angerührt, ist es gar das Du im Selbstgespräch, der Andere im Ich? Oder ist dies Du transzendent, ein weltenthobenes Du? Viele religiöse Formulierungen weisen darauf hin, in zwei Gedichten wird Gott persönlich angesprochen. Die Zwiesprache von Ich und Du entspinnt sich manchmal aus Zitaten, aus Worten biblischer Wucht: den menschen/ feuer fangen lassend/ am menschen; mitten/ im/ leben/ umkehren; den schritt/ zu gehen; fugen und verwerfungen; laß dir/ deine tröstungen/ nicht rauben. Die ungewöhnlich schlanke Form der Texte, oft bildet ein einziges Wort eine Verszeile, gibt jedem der Worte seinen Atemraum und seine Bedeutungsaura. Der Text entwickelt sich in Gelassenheit, jedem Wort wird seine Eigenständigkeit, im wahrsten Sinne des Wortes, gelassen. Es darf zu seiner Bedeutung kommen, seine Bedeutsamkeit wird abgetastet. Es gibt drei gewinnbringende Arten, Helle Tredes Gedichte zu lesen. Es gibt die Wort-für-Wort-Leseweise, am schlanken Gedichtkörper entlang, gemäß der Zeilenbrechung mit Pausen. Es gibt die gebundene Leseweise, die schnell am Text entlang Bindung herstellt zum Gesamtbild und -verstehen und die Musikalität der Sprache hervorlockt. Und es gibt die additive Leseweise, sozusagen die hermeneutische Spirale auskostend, das Vor und Zurück und Weiterschreiten: von Zeile 1 zu Zeile 1 und 2, zu Zeile 1, 2 und 3, zu 1, 2, 3 und 4 und so weiter. Ich rate jeder Leserin, jedem Leser den Kosmos der Gedichte auszuloten mit allen drei Möglichkeiten, denn nur so kann man sich der Evokation der Texte mit einem tieferen Verstehen stellen und sich in die Poesie einfühlen: ein bezaubernder Gewinn. Die Aufmachung des Hardcover-Bandes gewinnt noch einmal deutlich durch die beigefügten Landschaftsimpressionen der Künstlerin Bettina Bohn.
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