In allem Anfang wohnen Zauberinnen

Ein seithin gesprochener Dialog



Von Elmar Schenkel
Über den Anfang sprechen, heißt über das Wort Anfang, das fast kling wie Anstand. Nur wird eben etwas gefangen – es ist ein Wort aus der Jagd-und Beutesprache. Windfang, Rauchfang, Blickfang, Anfang. Engl: fang, der Reißzahn des Raubtiers. Fangan: etwas festmachen. Frage: Anfangen heißt also das Fangen von An? Was ist an?
Das A im Wort ist auffällig – wie anmachen, andenken, andrehen, anwerben, ansehen, anreden. Es ist ein Gegenüber, etwas, das entgegensteht, das man anfassen und angehen muss, dieses An. A ist Alpha/aleph und das sind eigentlich die umgekehrten Hörner des Bullen. Anfang: Stierkampf.
Das kommt: wenn man ungewohnte Fragen gestellt bekommt, wie die vom Seitenhaften Blickwechsel. Mein literarischer Anfang war tatsächlich der Seitenblick: ich wollte mein erstes Buch mit Erzählungen so nennen, es hieß dann später Die andere Reise. Seitenblicke waren mir aus dem Okkultismus vertraut: auf der unauffälligen Seite, die wir nicht fokussieren, hüpfen die Gespenster, sie wollen nicht gesehen werden, aber sie wollen doch wahrgenommen werden. Okkultismus: der wollte ein Anfang sein mit dem Zutritt zur übernatürlichen Welt und war natürlich Endmoräne solchen Begehrens. Die Wissenschaft vernagelte alle Türen für Geistersucher und Seitenblicker , zumal in Leipzig, der einstigen Hauptstadt der Vierten Dimensionen, der Kapitale der Séancen - und nun irren die Okulisten in Leipzig und in Lindenau herum uns suchen wieder nach ihren Anfängen, nach Augenmerk und Augenfalle.
Seitenblick heißt auch schnelles Missverständnis, und dafür sollte jetzt eine Stange gebrochen werden, eine Salzstange wenigstens, denn Missverständnisse sind der Urkeim der Evolution. Missverständnisse helfen beim Überleben, beim Anpassen – wir passen ja das Gehörte und nicht Verstandene an unser Vorverständnis und unsere Vorurteile an. Deshalb die Zauberinnen, würdige Verwandte des weißen Neger Wumbaba.
Ich stelle mir also den Anfang vor als einen Turm, in dem Zauberinnen wohnen. Strahlen gehen aus von diesem Turm, charismatische Lichter umtanzen ihn und die Zauberinnen hypnotisieren die halbe Welt um sich herum. Alles was sich ihnen nähert, strauchelt, hinkt, wankt (sorry, Kalauerwarnung). Die Zauberinnen aber gehen einmal des nachts hinaus und setzen den Mond richtig nach der Uhr, sie geben ihm die Form, die er an diesem Tag in Monat verdient. Sie lehren die Vögel das stilvolle Schweigen und die Fische werden gesprächig. Der Anfang, den sie verkörpern, verdreht die Dinge. Die Zauberinnen sind Verdreherinnen, Herrinnen der Spiegelordnung.
Jeder Anfang ist ein Spiegel, in den wir hineintreten. Zunächst, wie bei Alice, scheint alles nur umgekehrt zu sein von dem, was vor dem Spiegel liegt. Je weiter man in das Spiegelland hineingeht, desto fremder wird alles.
Anfang also: Turm, Spiegel
Ich habe mit Metaphern angefangen. Die Suche nach Metaphern ist voller Fallen und Hirnrissigkeiten. Ähnlichkeiten. Was ist einem Anfang ähnlich?
Das A.
Hast du sonst noch Missverständnisse zu bieten?
Wie Bücher anfangen: manchmal ist das zuerst geschriebene Kapitel in der Mitte des Buches gelandet. Ein mittelloser Anfang besorgt sich die Mittel, um mitreden zu können, etwa die Erschaffung von Frankensteins Monster im 5. Kapitel. Die geht auf einen Traum zurück oder mehrere Alpträume Mary Shelleys. Und um diesen Anfangstraum schart sich der Rest der Geschichte. Um einen Anfang bildet sich eine Mitte.
Der Anfang ist also nicht nur das A im Alphabet, sondern auch die Mitte eines Kreises: M. A und M, Amen.
Buchanfänge, berühmte Sätze. Tolstois Anna Karenina. „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich.“
Musil gibt den Wetterbericht eines Augusttages 1914.
Alice: jemand schläft ein und folgt einem weißen Kaninchen.
In diesen Anfängen wohnen nicht nur Zauberinnen, sondern auch Psychologinnen oder Schamaninnen, Hypnotiseure, Fallensteller, Schrebergärtner. Im Anfang wohnt eine Person, die was kann oder zu können vorgibt. Aber es ist nur eine person dh nach per-sonare, eine Maske. Setz dir eine Maske auf und fange an.
Am Anfang war die Maske, am Anfang war der Schein.
Man wird hypnotisiert und in ein Ritual gelockt. Der Anfang heißt: wie erringe ich Aufmerksamkeit beim Leser, so dass er oder sie nicht mehr aufhören will.
Das ist die Grundlage jeder Didaktik. Aufmerksamkeit.
Grundlage aller Werbung auch. Aufmerksamkeit kostet jetzt Geld.
La veuve Click, oh!
Und gilt das für den Anfang des Lebens? Wenn die Spermie an der Eihülle anklopft, um Neugier zu erwecken, ei wer kommt denn da?
Und als Gott die Welt erschuf, ging es ihm darum, auf sich aufmerksam zu machen? Hier ist jemand, der einen Anfang wagt, einen mehr oder weniger guten oder schlechten Roman.
Am Anfang war doch das Wort.
Oder die Tat, die Kraft, nein, am Anfang war die Faust, äh der Faust.
Am Anfang war das Bier, das schreiben jetzt Evolutionsforscher. Die Hälfte des sumerischen Getreides vor 5000 Jahren soll für Bier draufgegangen sein, ein trübes süßliches Getränk aus gequollenen Körnern! Man habe Getreide also erstmal für Bier angebaut, alles andere ist Beigabe und Nebenwirkung.
Über Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie die Göttin des Bieres! Die gab es gleich mit dazu. Nansi oder so.
Erfunden wurde das Bier möglicherweise wie so viele Erfindungen durch Zufall. Jemand hatte mögl. Weise Körner in Wasser liegen lassen.
So auch die erste Photographie, die die Sonne vermittels einer Chemikalie im Süden Frankreichs bei Herrn Niepce-Nicéphore hinterlassen hat. Ein Selfie der Sonne ist der Anfang der Photographie.
Im Anfang also war der Zufall? Oder der Anfall?
In welchem Anfall erschuf Gott die Welt? In welchem Anfall begann die Evolution. Survival of the fittest? Fit heißt bekanntlich sowohl angepaßt als auch Anfall. Also meinte Darwin vielleicht, dass die Spezies am besten überlebt, die die meisten Anfälle hat?
Fitness-Studio: Studio für Anfälle, besonders der Reue nach den Feiertagen.
Zufall oder Anfall. Fassen wir es zusammen: am Anfang war der Fall oder war es eher: die Falle? Oder der Einfall?
Am Anfang hatte Gott solch einen Einfall, den Menschen, Adam. Einer reichte bald nicht mehr, da wurde es ein Fall für zwei, ein Zweifall. Dann gab es den Abfall vom Glauben und Gehorsam und Gott vertrieb die Menschen aus dem Paradies, aber vorher schneiderte er ihnen noch Fälle: ein Fell für zwei, ein Zwei-Fell. Das Zweifell war das Symbol des Zweifels, keine Frage.
Satans Fall vom Himmel, Alices Fall durch einen Tunnel, wo sie glaubt zu den Antipathien gelangen. Das rumpelnde Fallen eines Teddybärs auf einer Treppe: Winnie-the-Pooh. Eine Geschichte kann gar nicht anfangen, wenn nicht etwas fällt. George MacDonald, The Light Princess. She has to fall in love.
Wo nichts fällt, gefällt auch nichts. Wo etwas fällt oder gefällt wird, da muss Schwerkraft sein. Das Schwere wird vom Leichten getrennt, das Oben von Unten, Himmel von Erde, Licht von Dunkel. Dann beginnt das Fallen.
Die Welt ist alles, was der Fall ist, sagte Lichtenstein, und Wittgenberg fügte hinzu: worüber du nicht reden kannst, darüber sollst du schweigen. Jetzt also raus mit dem Fall, dem Wort, der Kraft, der Tat, des Unsinns. Schluss mit dem Anfang!