Die Macht der Bücher



Von Elmar Schenkel
Das Buch ist im Laufe der Geschichte nicht ohne Grund immer wieder Objekt einer magisch-religiösen Verehrung gewesen. Die abrahamitischen Religionen des Buches halten ihre Heiligen Schriften hoch und beziehen aus ihnen Handlungsanweisungen. Die Kabbalisten glauben an die Macht von Buchstaben. Der Buchstabe kaf etwa steht für die Macht über das Leben. Mit seiner Hilfe wurde die Sonne erschaffen, er regiert, was die Zeit angeht, den Mittwoch, und was den Menschen angeht, das Ohr. Auch im säkularen Bereich sind Bücher Kultgegenstände – sei es eine Antiquität, sei es der Geheimtipp, den man unbedingt lesen muss. Für Bücher haben Menschen sich ins finanzielle und familiäre Unglück gestürzt, ihre Häuser unbewohnbar gemacht ob der vielen Bücherkisten und –Regale oder gar gemordet. Dahinter kann nur Zauberei stecken.
Was anders ist es denn, wenn Menschen, die merkwürdige Reihen von schwarzen Symbolen auf weißem Papier (oder elektronisch) anschauen, sich nach dem Lesen anders verhalten, sich anders zu fühlen beginnen, ihre Zeitgenossen plötzlich misstrauisch ansehen oder sie besonders heftig lieben? Mit einem analytischeren Blick durch den Tag gehen? Sich scheiden lassen oder hypochondrisch werden, euphorisch oder einfach glücklich? Manchmal, kaum dass sie von einem Buch aufgestanden sind, beginnen sie eine Revolution,. Die Geschichte des Lesens ist die Geschichte eines magischen Aktes: Menschen werden von unsichtbaren Kräften beeinflusst, die sich auf dem Papier manifestieren.
Das scheinen unsere Vorfahren geahnt zu haben, als sie in den Lesekundigen Priester sahen, Herrscher über geheime Künste, die besondere Verbindungen zur übernatürlichen Welt pflegten. Die Alten verehrten Bäume, in deren Holz die ersten Buchstaben geritzt wurden. Deutsch schreiben, englisch write sind verwandt mit ritzen. Und wer in englisch buchstabieren kann, weiß how to spell. Dasselbe Wort spell bedeutet auch Zauberspruch. Die Tatsache, dass das Wort grammar und glamour denselben Ursprung haben, deutet auf die blendende, magische Erscheinung dessen hin, der die Sprache, das Lesen und die Bücher beherrscht. Wäre es doch heute noch so… dann würde sich hinter Playboy ein Journal für Linguistik verbergen.
Für den Glauben an die Macht der Bücher findet sich kein stärkerer Beleg als in den vielen Bücherverbrennungen, die mit der Geschichte des Buches einhergehen. Angefangen bei einem chinesischen Kaiser, der alle Werke bis auf einige vernichten ließ, da er glaubte, seine Herrschaft sei durch sie bedroht (er ließ auch die Große Mauer errichten) und hundertfach weiter praktiziert von der Inquisition bis zu den Nationalsozialisten.
Und dann gibt es den freiwilligen Verzicht auf das Buch, das Aufgeben der Magie durch den Magier – schön dargestellt in Shakespeares Sturm, wo Prospero sein Zauberbuch (wie Shakespeare sein gesamtes Werk, denn mit dem Stück verabschiedet er sich von der Bühne) ins Wasser wirft.
Wie in der Religion äußert sich magisches Denken, indem es Teilhabe am Geist durch den Verzehr des Geheiligten verspricht. Beim Lesen von Schmökern sprechen wir gerne vom Verschlingen. Die Germanen pflegten mit Runen beschriebene Täfelchen in ihren Met zu tunken, um etwas von deren Macht zu erhalten. Ich erinnere mich auch, dass ich als Student eine Zeitlang nach dem Mensaessen immer unbedingt, sozusagen als Dessert, in eine Buchhandlung einrücken musste. Das Essen von Büchern führte auch zu unmetaphorischen Exzessen. So hatte Menelik II., der Kaiser von Äthiopien, die Angewohnheit, einige Seiten aus der Bibel zu essen, wenn er sich krank fühlte. Kurz vor seinem Tod aß er das gesamte „Buch der Könige“ auf, es half nichts. Leider hat man das Bücheressen auch als Strafe für Ketzer eingesetzt, die ihre eigenen Werke verzehren mussten. Bis heute hält sich der Verdacht, dass Bücher heilsam sein können – von Kästners lyrischer Hausapotheke bis hin zur Romantherapie. Bulwer-Lytton rät in einem seiner Romane, man solle bei seelischen Konflikten Biographien und bei Geldverlusten Verse lesen. Hypochondern empfiehlt er Reisebeschreibungen. Man kann es auch so kurz sagen wie Jorge Luis Borges: „Ich halte die Lektüre für eine der Formen der Glückseligkeit.“