Gernegroß



Von Elmar Schenkel
Größe (Relevanz, Exzellenz) ist uns sehr wichtig. Ich sehe immer das Glänzen in den Augen der Leitenden Organe, wenn wir ihnen mit großen Zahlen kommen. Etwas hat erst Bedeutung, wenn es mehrfach auftritt. Das hypnotische Gesetz der Serie gilt beim Kirchenbesuch ebenso wie bei Drittmittelanträgen. Je mehr Gläubige, desto größer der Gott; je höher die beantragte Summe, desto bedeutender die Erkenntnis. Macht durch Masse bleibt ein Faktor in unserem Gehirn. Dummerweise hat die Forschung auch ergeben, dass die Größe des Gehirns nicht auf seine Leistung schließen lässt.
Doch Meldungen über Riesenkraken und gigantische Pilze haken sich fest ins Gedächtnis, sie scheinen Sieger der Evolution zu sein wie Apple oder Facebook. Doch wenn Datenberge kreißen, werden oft Mousepads geboren. Evolutionär erfolgreich sind eben auch Kleinstlebewesen. Bakterien waren lange vor uns und anderen Tieren da, sie werden uns zweifellos überleben. Woran immer auch die Dinosaurier starben, kleinere Organismen haben dieses Desaster überstanden. Dass es das Gigantische auf Dauer nicht leicht hat, lehrt uns schon das Märchen. Ein Däumling ist den großen Tölpeln eindeutig überlegen. Riesen wie Goliath machen Angst, sind aber nicht recht dauerhaft. Vielleicht ist die Globalisierung mit ihrem Wachstumsmantra auch ein solcher Märchenriese.
Daher ist es schön zu beobachten, wenn ‚große’ Wissenschaftler sich auch den kleinen Dingen nähern. Johannes Kepler, um sich vom Weltall zu erholen, studierte die sechseckigen Kristalle der Schneeflocken, die 1610 in Prag fielen, und entdeckte ihre Schönheit und Funktionalität. Faraday hielt vor Jugendlichen eine Vorlesung über eine Kerze (und begründete damit gleichsam die Kinderuniversität). Darwin widmete sein letztes Buch den Regenwürmern. Der „Schüler der Ameisen und Bienen“, Jean-Henri Fabre, schrieb die schönste französische Prosa. So verbeugen sich Wissenschaftler vor dem Kleinen und Unscheinbaren. Ich frage mich auch, warum die Aphorismen eines Lichtenbergs überlebt haben, wo doch alle voluminösen Bestseller seiner Zeit in den Archiven verbleichen. Hängt es damit zusammen, dass Aphorismen wie Bakterien sich leichter molekular verbinden als große Organismen? Sind sie vielseitiger und bindungsfähiger? Kepler gab das Problem der Schneekristalle übrigens an die Zukunft weiter. Heute wissen wir, dass die banalen Schneeflocken Strukturbildungen auch kosmischer Art verdeutlichen. Revolutionen beginnen unscheinbar. Das Globale wird durch lokale Krisen in Frage gestellt, das Regionale verändert sich unmerklich durch globale Bewegungen.
Letztlich entscheidet natürlich die Proportion, das Verhältnis der Größen zueinander. Das musste der Schiffsarzt Gulliver entdecken, als er sich in Lilliput aufhielt, dessen Bewohner nur ein Zwölftel seiner Größe aufwiesen. Man hat herausgefunden, dass sie nicht einfach Miniaturausgaben von uns wären. Ihre Stimmbänder hätten eine viel höhere Schwingung. Sie würden so schnell und hoch sprechen, dass Gulliver sie kaum verstehen könnte –ein Zeitfaktor tritt damit hinzu. Größe verändert Gestalt – eine Erkenntnis unter anderem von Galilei, die der schottische Universalist D’Arcy Thompson zu einer grandiosen Biomathematik ausgebaut hat (Über Wachstum und Form, 1917).
Es gibt keine Größe ohne Bezug, räumlich wie zeitlich. Ein Großteil unserer Probleme könnte mit Bezugsgrößen zu tun haben. Schon kleine Missverständnisse beruhen oft darauf, dass die Größenordnungen nicht übereinstimmen. Der eine hält für einen leichten Witz, was der andere erst abwägen muss. Politisch kann sich dies zu internationalen Problemen auswachsen. Alices Abenteuer im Wunderland entstehen dadurch, dass sie nicht zu ihrer Größe im Verhältnis zu den anderen Wesen findet. So knabbert sie an Kuchen und Pilzen, um endlich zu ‚passen’. Das Gesetz Nr. 42 im Wunderland aber lautet: Alle Personen, die mehr als eine Meile hoch sind, haben den Gerichtshof zu verlassen. Sollte man es umformulieren? Alle Projekte, die eine bestimmte Größenordnung überschreiten, sind genauso hinfällig wie Geldvermögen, die das Genussvermögen des Einzelnen überschreiten. Small ist nicht beautiful, aber die Proportion ist es – oder: das Maß.