Wohl denen die gelebt

Erinnerung an Marie Luise Kaschnitz

Autor:Christoph Meckel
Erscheinungsjahr:2008
Genre:Prosaband
Verlag:Libelle Verlag


Besprochen von Peter Frömmig
„Nebel und Rauhreif im Dezember. Lautloser Tagbeginn auf dem Land. Die badischen Obstgärten hochzeitlich weiß, kristallweiße Weinberge des südlichen Schwarzwalds und das Dorf Sankt Ulrich lichtlos hell verschollen. An einem solchen Tag besuchte ich Marie Luise Kaschnitz in Bollschweil.“ Wieder einmal, denn da kannte der junge Dichter „die Dame“ bereits aus mehreren Sommern. Inzwischen war die Schriftstellerin fast zur Greisin geworden. Im Gedächtnisbild, das Christoph Meckel mit feinen, präzisen Linien gezeichnet hat, sitzt sie während des besagten winterlichen Besuchs schief auf dem Sofa, mit fahler Gesichtshaut, müden Mundwinkeln. Doch klar seien die Augen gewesen, belebt durch das Gespräch, denn „Neugier und Interesse machten sie jung“. Ein Anknüpfen von Besuch zu Besuch, ob in Bollschweil bei Freiburg, Rom oder Frankfurt, wo Marie Luise Kaschnitz ihre Wohnsitze hatte, war immer möglich. Trotz des großen Altersunterschieds und anderer Gegensätze von Anschauung, Gewohnheit und Lebensweise.
Diesmal in einem Winter, über drei Jahrzehnte nach dem Tod der Dichterin, nahm Christoph Meckel in einem der alten Schwarzwaldwaldhöfe nahe Bollschweil Quartier, um seinen Erinnerungen an die verehrte Kollegin nachzugehen. Die große alte Dame der deutschen Nachkriegsliteratur war auf den Lyriker aufmerksam geworden und hatte ihm geschrieben. So war der Kontakt entstanden. Das ermutigte den Unruhegeist („Ich suche Glück auf leeren Straßen“), der Christoph Meckel damals war, eines Tages vor ihrem Familiensitz in Bollschweil seinen alten VW-Käfer anzuhalten, um einen spontanen Besuch zu wagen. Begünstigt durch den schönen Sommertag, vielleicht mit Hilfe sonstiger guter Geister, gelang die Begegnung. Und so wiederholten sich „die Rituale des Besuchs im Schloss“.
Vielleicht hatte Marie Luise Kaschnitz in ihrer metaphorischen Erzählung „Der alte Garten“ auch die Gefährdung ihrer Bollschweiler Idylle im Sinn, wenn sie schreibt: „Eines Tages wurde um den Garten eine Mauer aufgerichtet, gerade als wollte man ihn davor schützen, von der Stadt aufgefressen zu werden. Jenseits dieser hohen Mauern aber wurden Bäume gefällt, wurden Straßen angelegt und hohe Häuser gebaut. Und als die Stadt den alten Garten umschlossen hatte, wuchs sie sogar an ihm vorbei, immer weiter tief in das Land hinein.“ Wie eine Antwort darauf, auch auf das Geschehen in unseren Tagen, erscheinen Christoph Meckels Sätze aus der Erzählung „Im Land der Umbramauten“: „Mit den Bäumen, die man im Lande hat, sollte man in gutem Verhältnis stehen, denn es ist nicht erwiesen, daß sie es nötig haben, sich in unseren Landschaften aufzuhalten. Sie kennen vielleicht schönere, und es bedarf nur eines kleinen Vorfalls und sie siedeln dorthin über. Nicht umsonst stehen ganze Gebirgszüge leer, nicht umsonst. Man sollte vorsichtiger sein, dem vorbeugen und ihrer gedenken, wenn man an Freunde schreibt.“
Mit Sympathie und Hochachtung bemerkte der junge Dichter bei seinem ersten Besuch im Schloss und danach immer wieder, dass „die Dame“ nie Konservation machte. Zu ihrer Kunst des Gesprächs habe es gehört, Fragen zu stellen und aufmerksam zuzuhören. Von den Möglichkeiten des Sprechens, schreibt Christoph Meckel in seinen Erinnerungen, habe er vor allem das Nichtgesagte behalten. „Nicht gesagt / Was von der Sonne zu sagen gewesen wäre / Und vom Blitz nicht das einzig Richtige / Geschweige denn von der Liebe“, so benennt es Marie Luise Kaschnitz in einem Gedicht.
Es blieb ein Schwebezustand zwischen Nähe und Distanz, die von der Älteren bisweilen ausging und vom viel Jüngeren anerkannt wurde: „Ich fühlte mich gut und leicht in ihrer Gesellschaft“. Jegliches Fehlen von Hochmut und Besserwisserei blieb ihm im Gedächtnis. Christoph Meckel geht den Stationen der Annäherung nach, beschreibt die „Umständlichkeit des Teetrinkens“, kleine Gesten, die viel aussagen. „Nebensächliches schien ihr Freude zu machen.“ Unsentimental und knapp vergegenwärtigt Meckel sowohl Vergnüglichkeiten als auch Verstimmungen.
Der Titel von Meckels Erinnerungsbuch „Wohl denen die gelebt“, bezieht sich auf die abschließenden Zeilen eines Gedichts von Marie Luise Kaschnitz, das sie zu Lebzeiten in keines ihrer Bücher aufgenommen hat. Es heißt „Vater Feuerwerker“ und enthält Verse, die, so Meckel, „zu ihren leichtesten, schönsten gehören“. Obwohl sie im Bewusstsein der bedrohlichen Atomwaffen geschrieben wurden. Vollständig lauten die Schlusszeilen „Wohl denen die gelebt / Ehe sie starben.“ Christoph Meckel meinte zuerst, diese Verse in Stein gemeißelt, auf der „ungewöhnlich finsteren Familien-Grabstätte im Friedhof zu Bollschweil“ gesehen zu haben. Doch dann entdeckte er sie viele Jahre später wieder als Inschrift des Brunnens im Schlosshof, wo an schönen Sommertagen die Teestunden abgehalten worden sind.
In „Beschreibung eines Dorfes“, einem ihrer schönsten Prosatexte, hat Marie Luise Kaschnitz ihrem Heimatort Bollschweil ein Denkmal gesetzt. Hier konnte sie immer Kraft schöpfen, zu ihrer Mitte finden: „Es schien mir oft, als würde ich nicht derselbe Mensch sein, wenn ich nicht wenigstens einmal im Jahr unter dem Rinnen des Brunnens und dem Rauschen der Linden zur Ruhe gehen, nicht einmal vom Kamm des Rebbergs hinüberschauen könnte auf das Haus, das inmitten seiner dunklen Bäume wie ein trotziges Tier in der Talmulde liegt... Es kam mir auch vor, als habe ich aus dieser Erde alljährlich meine Lebenskraft gezogen, als flössen dort recht eigentlich die Quellen der Liebe und Freude, deren die Welt so sehr ermangelte."
Marie Luise Kaschnitz, die Grande Dame, stellte sich immer den Fragen der Zeit und scheute sich nicht zu sagen: "Ohne Kopfstoß kann keine Kunst gedeihen.“ Ihre eindringliche Stimme ist längst in Raum und Zeit verhallt, auch das macht die Notwendigkeit von Meckels Erinnerungen aus. In ihrem Gedicht „Selbstbildnis mit sechzig Jahren“ schreibt sie: „Von weitem könnte man dich / Für eine Dame halten / Wären da nicht / Die Schatten unter den Augen / Spuren des Nachtmahrs / Und der vergeblichen Tränen // Überdruss les ich zugleich / Und Neugier aus deinen Zügen / Und die dich bewohnen, die Worte / Geistern dir über die Stirn.“
Christoph Meckel hat das Älterwerden von Marie Luise Kaschnitz über die Jahre begleitet. Im Bollschweiler Schloss laufen alle ihre Lebensfäden zusammen. Als sie 1974 in Rom starb, wurde sie in ihre "Familienheimat", überführt. Die ihr geistesverwandte Lyrikerin Elisabeth Borchers nahm in einem Gedicht Bezug auf „Das Begräbnis in Bollschweil“: „Wenn jemand gestorben ist, / den wir gut kannten, / prüfe ich unser Gedächtnis. / Es taugt nichts, / stelle ich fest. / Es ist nicht haltbar. / Wir sind bald verloren.“ Und am Ende heißt es: „Zwischen uns die kleinen langsamen Gespenster.“ Gegen diese Gespenster des Vergessens hat Meckel, der in Freiburg aufwuchs und immer der Landschaft am Oberrhein verbunden blieb, seine Erinnerung an Marie Luise Kaschnitz verfasst.
Unter den verschiedenen Handwerkern in der deutschen Nachkriegs- und Gegenwartsliteratur ist Christoph Meckel als Erzähler und Lyriker ein Künstler gewesen. Und ein außerordentlicher Künstler zudem als Zeichner und Graphiker. „Weltkomödie“ heißt sein umfangreiches graphisches Lebenswerk, mit dem er einen ganz eigenen Bilderkosmos geschaffen hat, in dem seine Zeit gebannt ist. Einige Radierungen von Meckels Hand sind in dem überaus schönen Buch „Wohl denen, die gelebt. Erinnerungen an Marie Luise Kaschnitz“ zu finden.
Am 30. Januar 2020 ist Christoph Meckel im Alter von 84 Jahren in Freiburg gestorben. Er hat sich in seinem Leben als Mensch, Dichter und Künstler verwirklicht wie kaum ein anderer.