Vom Gehen im Eis
Werner Herzogs Fußreise von München nach Paris. 23.11. - 14.12.1974
Autor: | Werner Herzog |
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Erscheinungsjahr: | 2012 |
Genre: | Reisebuch |
Verlag: | Hanser Verlag |
Besprochen von Peter Frömmig
Es war das Jahr, als "Jeder für sich und Gott gegen alle" in die Kinos kam, ein Film über Kaspar Hauser. Ende November, kurz vor der Uraufführung, erhielt der Regisseur einen Anruf aus Paris. Ein Freund sagte ihm, die Schauspielerin Lotte Eisner sei krank und werde wahrscheinlich sterben. Werner Herzog antwortete, das dürfe nicht sein, nicht zu diesem Zeitpunkt, der deutsche Film könne sie gerade jetzt noch nicht entbehren, man dürfe das nicht zulassen. Er fasst einen Entschluss: "Ich nahm eine Jacke, einen Kompass und einen Matchsack mit dem Nötigsten. Meine Stiefel waren so fest und neu, dass ich Vertrauen in sie hatte. Ich ging auf dem geradesten Weg nach Paris, in dem sicheren Glauben, sie werde am leben bleiben, wenn ich zu Fuß käme. Außerdem wollte ich allein mit mir sein." Werner Herzog war Anfang Dreißig und bereit, sich alles zuzumuten. Auch als Regisseur verlangte er sich und allen Beteiligten immer das Äußerste ab. Er würde "auch zur Hölle fahren und dort drehen", wenn es einem Film nütze, bekannte er. Mit "Aguirre, der Zorn Gottes" und "Fitzcarraldo" hat er es bewiesen.Seine besten Filme, Höhepunkte des deutschen Kinos, bevor es verflachte, waren von einer verhaltenen Intensität. Wie nur wenige deutsche Produktionen fanden sie international Anerkennung. Werner Herzog war als Filmemacher Autodidakt. Das Geld für seine ersten Versuche verdiente er sich als Punktschweißer in nächtlicher Akkordarbeit. Seine kaum bekannten Dokumentarfilme, darunter das "Land des Schweigens und der Finsternis", in dem er über das Schicksal taubblinder Menschen berichtet, sind von ungewöhnlicher Einfühlsamkeit. "Auch Zwerge haben einmal klein angefangen" heißt einer seiner ersten Spielfilme, den er ausschließlich mit Liliputanern drehte. Helden seiner Filme sind Außenseiter und Beschädigte.
Ein Film, sagte Werner Herzog einmal, sei sein "Ticket zum Leben". Solch ein Ticket sollte durch den Kraftakt seiner Fußreise der verehrten, todkranken Schauspielerin zukommen. Er tat etwas, das man nicht lange plant, ohne Rücksicht auf sich selbst tun muss, unter Missachtung der Jahreszeit und der Witterungsbedingungen. Das, was er unterwegs äußerst knapp und genau notierte, war zunächst nicht für Leser gedacht. Er klammerte nicht die Zweifel an seiner Unternehmung aus, die Misere. Erst vier Jahre später entschied er sich, die Aufzeichnungen unter dem Titel "Vom Gehen im Eis" zu veröffentlichen. Es ist der literarische Bericht einer Grenzerfahrung, ein schmales Buch, das eine große Fülle des Erlebens enthält. Fasziniert folgt man Herzogs (Kamera-)Blick auf eine Realität im Abseits, die einer allgemeinen Wahrnehmung sonst verschlossen ist.
Wer weiß, vielleicht wird die Fußreise einmal wiederentdeckt werden als eine andere Form der Selbst- und Welterkundung. Es gibt schon Zeichen, die dafür sprechen. Jetzt, da das Reisen mit längst überlasteten Verkehrsmitteln, in ihrer überspannten Form an seine Grenzen stößt. War Werner Herzog ein Vorbild? Nein. Zu einzigartig war sein Gang nach Paris, zu ungewöhnlich sein Motiv. Was auch nicht verschwiegen werden soll: seine grenzgängerisches Unternehmen brachte auch eine Überschreitung der Legalität mit sich. Etwa wenn er durch die Wucht der Elemente auf freier Strecke gezwungen war, sich gewaltsam Zugang zu einem Unterschlupf zu verschaffen. Er muss nach einigen Tagesetappen so ramponiert und erschöpft ausgesehen haben, dass manche ihn für verwahrlost oder verrückt hielten und seine Anfrage nach Unterkunft abwiesen.
Während der einundzwanzig Tage, die der junge Regisseur in der Kälte, auf zumeist nassen Feldwegen und Straßen zu Fuß unterwegs ist, übernachtet er in Scheunen, Wochenendhäusern und Wohnwagen. Die Menschen, die ihn dann doch freundlich aufnehmen in ihre Privathäuser, sind keine Normalbürger, sondern Randexistenzen, die etwas von sich selbst in ihm erkennen. Unverhofftes, spontanes Vertrauen erfährt er nur durch die Ärmsten der Armen, durch Frauen. Sie sind es, die teilen, Hilfe anbieten und sich offen zeigen. Zum Beispiel in Bösingen: "Aufnahme in einem Privathaus, zwei Frauen, eine Großmutter und ihre Tochter fassen sofort ein Herz für mich, und das tut gut. Ich bekomme Pfefferminztee, Spiegeleier, ein heißes Bad. Die Frau macht in Heimarbeit rosa Büstenhalter, ein ganzer Berg davon ist in der Küche aufgehäuft. Ich wollte mich zu ihr setzten, ihr zusehen, bin aber zu müde."
Nach dem ersten Advent steht die Überquerung des Schwarzwalds bevor. Am Montag den 2. Dezember geht es über Schramberg, Hornberg, Gutach. Er trifft in einem Hochtal eine alte, ärmliche Frau, die ihn anspricht. Sie zählt ihre Kinder auf: wann geboren, wann gestorben. Mit Mühe folgt er ihrem Dialekt. Und muss schon weiter. Im Prechtal wird er in einem Bauernhof, von zwei älteren Frauen und zwei Mädchen bewohnt und bewirtschaftet, aufgenommen. "Die Küche ist sehr ärmlich, die Verhältnisse bedrückend, aber die beiden Frauen haben mir ohne Nachdenken einen Winkel zum Übernachten gegeben". Eines der Mädchen fragt, was aus Freddy geworden sei, "der habe doch so schön gesungen und die Gitarre sei sein Freund." Auch das eine Begegnung, die ihm Kraft gibt. Doch in Elzach, nach einem Anruf Zuhause, überkommen ihn wieder Zweifel. "Ich aß erst einmal eine Semmel an einem Brunnen und überlegte, ob ich umkehren muss."
Die Telefonate sind die Verbindungen zu der Welt, aus der er vorübergehend herausgetreten ist. Die Pole, zwischen denen er sich jetzt bewegt, heißen München und Paris. Er fragt bei der Familie nach, stellt sich seinen kleinen Sohn vor, wie er mit beiden Händen den Rand der Bettdecke umfasst. Der Freund in Paris kann nur von einem unveränderten Zustand der Schauspielerin berichten. Unterwegs, wenn ihm der Wind eisig entgegen bläst, fragt er sich: "Lotte Eisner, wie es ihr geht? Lebt sie? Komme ich zügig genug voran? Ich glaube nicht." Wie es in dieser Jahreszeit draußen, in öden, verlassenen Landstrichen zwischen den Städten aussieht, welche Gewalten sich da abspielen können, vergisst sich leicht, wenn man im Warmen sitzt. Werner Herzog erlebt es hautnah: mit infernalischer Wucht, in entsetzlicher Verlassenheit und in dem "Gefühl der vollkommenen Sinnlosigkeit“. Er verbringt eine Nacht auf einem Heuboden, in der ein Tier an seinem Körper Wärme und Schutz sucht.
In der Rheinebene, nachdem er den Schwarzwald hinter sich hat, fasst er wieder Mut. Und hat Zeit für weitere Notizen: "Ich sitze am Rhein, Fähre bei Kappel, ruhiges Wetter, kaum Menschen. Es ist dunstig, die Vogesen sehe ich nicht... Ich wollte, die Fähre hätte länger gewartet, bis sie vom anderen Ufer herüberkäme, diese Überschreitung des Flusses muss der Mensch ja verkraften." Er kommt auf seinem Weg durchs Elsass zu der Erkenntnis, dass der Witz der Menschen hier von einem Jahrtausend der Sesshaftigkeit herrühre und es für sie besser sei, zu Frankreich zu gehören. Er prüft seine Beine und kann außer Ermüdung keine Beschwerden feststellen, und "die Achillesferse links sieht nicht mehr so kritisch aus, seit ich die Knickstelle des Stiefels hinten mit allem Schaumstoff, den ich habe, ausgepolstert habe". Er muss Trikot und Hemd waschen, denn es "riecht so intensiv nach mir, dass ich meine Jacke dicht mache, wenn ich unter Menschen komme." Er kauft sich eine Salbe, eine Taschenlampe und einen neuen Kompass, da er seinen im Schwarzwald verloren hat. Seine Hauptnahrung besteht aus großen Mengen Mandarinen und Milch.
In Andlau genießt er noch einen kleinen Wochenmarkt und die Rast an einem "Steinbrunnen, wie ich ihn mein Lebtag noch nicht gesehen habe." Doch der Schwung, den er aus der Ebene mitgebracht hat, ist in den Vogesen bald dahin. Nach dem Aufstieg, oberhalb der Schneegrenze, nur noch nasser Nebel, nasser Schnee. Ein Bergbauer erklärt ihm, wie er die Straße le Champ du Feu erreichen kann, durch Schnee, einen Buchenwald. Weiter nach Westen: "Es ist keine andere Lösung möglich". Die Achillesferse schwillt an. In einem Bistro in Charmes, nachdem er ein Sandwich verzehrt hat, schreibt er: "Die Sohlen kochen von dem glühenden Kern im Innern der Erde. Die Vereinsamung ist heute noch tiefer als sonst." Aber er muss nur an „die Eisner“ denken, dann verliert das Wort "Unmöglich" seine erste Silbe. Er weicht von seiner westlichen Route etwas nördlich nach Domremy ab, um das Haus, wo Jeanne d' Arc geboren ist, zu sehen.
Das Land öffnet sich, die Orte liegen weit auseinander. Trostlose Wege, Ödnis weit und breit: "Seit der Rheinebene habe ich niemanden auf den Feldern gesehen". Doch Werner Herzog bekommt einen unerwarteten Begleiter: "Ein grauer Reiher fliegt kilometerweit immer vor mir her, lässt sich nieder und wenn ich nahe komme, fliegt er ein Stück weiter voraus." Der einsame Wanderer entscheidet sich, dem Vogel zu folgen, "wohin er auch fliegt". Am zweiten Advent überquert er bei Joinville die Marne. Zwei Tage später erstmals klares Wetter: "ein Hochgefühl die Sonne zu sehen, alles dampft." Hinter Troyes erreicht er das Seinetal. Mit nahendem Ziel stellt sich Gelassenheit ein: "Ich gehe gar nicht mehr richtig, ich lasse mich driften". Bevor er die Seine überquert, kauft er sich Milch. Auf dem Brückengeländer sitzend trinkt er sie und wirft den leeren Milchkarton ins Wasser und denkt sich, dass er vor ihm in Paris ankommen wird.
Gelöst ereicht Werner Herzog den Rand der Seinemetropole und weiß, dass er noch einmal einen halben Tag bis zur Champs Elysees braucht. "Ich kaufte Käse von einer dicken Verkäuferin... Durch das Wetter gestärkt, hielt ich auch den Gesichtern heute leichter stand." Am Ende ist es so, als könnte es anders nicht sein: Lotte Eisner ist am Leben und über den Berg. Die letzte, seltsam lapidare Eintragung Werner Herzogs ist vom Samstag, den 14. Dezember: "Im Nachhinein noch dieses: Ich ging zur Eisnerin, sie war noch müde und von der Krankheit gezeichnet. Irgendwer musste ihr am Telefon gesagt haben, dass ich zu Fuß gekommen war, ich wollte es nicht sagen. Ich war verlegen und legte meine wehen Beine auf einen zweiten Sessel hoch, den sie mir hinschob. In der Verlegenheit ging mir ein Wort durch den Kopf, und da die Situation ohnedies seltsam war, sagte ich es ihr. Zusammen, sagte ich, werden wir Feuer kochen und Fische anhalten. Da sah sie mich an und lächelte ganz fein und weil sie wusste, dass ich einer zu Fuß war und daher ungeschützt, verstand sie mich. Einen feinen, kurzen Moment lang ging etwas Mildes durch meinen todmüden Körper hindurch. Ich sagte, öffnen Sie das Fenster, seit einigen Tagen kann ich fliegen."
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