Hygiene – Wo fängt sie an, wo kehrt sie sich ins Gegenteil um?



Von Peter Frömmig
Der Nachteil von Sauberkeit ist,
dass durch sie
der Dreck noch mehr auffällt.


P. F.


Mit Hygieia, der Gesundheit, wurde Asklepiós, dem Gott der Heilkunde, die passende Tochter geboren. So will es die griechische Mythologie. Hygiene nennen wir heute sowohl ein Fachgebiet der Medizin als auch "die Lehre von der Gesundheit, einschließlich Gesundheitspflege und Gesundheitsfürsorge sowie die dafür getroffenen Maßnahmen, die sich mit den Wechselbeziehungen zwischen Mensch und seiner belebten und unbelebten Umwelt befasst" (Meyers Lexikonverlag).
DER ASOZIALE, DAS KIND
Der Asoziale verkommt mangels zwischenmenschlicher Beziehungen, wird unhygienisch, unappetitlich - aber vielleicht will er gerade das sein.
Zur Erziehungspflicht der Eltern gehört es, Kindern die Maßregeln der Hygiene fürs Leben in der Gemeinschaft bei zu bringen. Doch das Kleinkind findet zu seinem Erdendasein zunächst vor allem durch den Schmutz, durch die Erkenntnis der Exkremente, ist magisch "von jedem Dreck" angezogen, im wahrsten Sinne des Wortes. Dreck, der umso besser Bindung schafft je klebriger er ist. Dreck, der das Äußere der festen Materie umgibt als das, was sich in die Hände schmiegt, durch sie in einem frühschöpferischen Anflug geformt werden kann. Das Kind lebt den Anarchismus des Beginnenden und Unfertigen, zeigt uns die Quellen des Kreativen, sabotiert die Ordnung und Routine, damit sie nicht in Sterilität erstarrt. Wir Erwachsenen sind es, die Kindern den Spiegel der Sauberkeit vor Augen halten, zum Waschen der Hände mahnen und nach dem Essen "Gesichtskontrolle" üben: "So kannst du nicht auf die Straße...!" Doch wie steht es mit der Selbstwahrnehmung unserer Kinder? Viel- leicht sind ja die Kleinen erst dann ganz bei sich, wenn sie Rotznasen und Dreckspatzen sind. Um Abwehrkräfte zu entwickeln, heißt es, braucht das Kind die Berührung mit dem Schmutz.
"Spiel nicht mit den Schmuddelkindern" sang Franz Josef Degenhardt ironisch in den frühen Tagen unserer Bundesrepublik, deren Bürger durch Ordnung und Sauberkeit vergessen machen wollten, durch welch unsäglichen Dreck sie vor nicht allzu langer Zeit nicht ganz schuldlos gegangen waren. Es gab Kampagnen gegen Schmutz und Schund, doch die Schmeißfliege dringt ein in jedes noch so gepflegte Heim.
DEMONSTRATIVE VERNACHLÄSSIGUNG
Viele, die das Kindsein hinter sich gelassen haben, rebellieren gegen Vorgaben, Erwartungen und Kontrollen der Erwachsenen, gerade auch gegen die hygienischen. Jugendliche macht ganz anderes zu schaffen: biologische Umwälzungen, Pickel, emotionale und seelische Schwankungen, unkontrollierbare Erektionen und beginnende Menstruation. Der ungewaschene Flegel will nichts anderes sein als ein solcher. Die Vernachlässigung der Hygiene ist demonstrativ. Wenn überhaupt, wird sie nur beiläufig, flüchtig oder verstohlen ausgeführt.
Auch Kleidung gehört zur Hygiene. Die Mode stellt sich auf die Jugend ein. Kleider sollen ebenso wenig passen, wie die Jugendlichen nach ihrem Gefühl in die Welt der Erwachsenen. Kleider sollen Klamotten sein, schräg, schlampig, abgewetzt, verschlissen und "durch den Wind" wie das Befinden.
Erst durch den Kontakt mit dem andern Geschlecht, den ersten leiblichen Berührungen, stellt sich bei Jugendlichen ein eigenes Hygienebedürfnis ein. Man will gefallen, ansprechen, appetitlich und gut zu riechen sein. Schlichte Erkenntnis: man muss etwas dafür tun, damit sich ein körperliches Wohlgefühl und Akzeptanz einstellen können. Oder man wählt den anderen Weg, was vor allem bei den Jungens der Fall ist: geliebt sein wollen, egal, wie rotzig und ruppig man ist. Oder gerade deswegen. Verkommen und verwegen sein ist sexy. Männer und Frauen sind auch verschieden in ihrem Hygieneverständnis. Zu fragen wäre, warum das so ist.
EIN FEST DER SEKRETE
Auch wenn romantische Bilder und Vorstellungen es so wollen und vortäuschen, Sexualität ist, ob inner- oder außerehelich, keine "saubere Sache", die mit einem Kleenex oder Tempo schnell wieder abgerubbelt werden kann. Es ist schon einige Zeit her, als vor allem in amerikanischen Filmen vorgemacht wurde, wie der Weg zur sexuellen Ausübung zunächst über den Hygieneort Badezimmer führt. Doch die Sekrete sind nicht aufzuhalten, wenn Lust aufkommt. Und die kommt nur auf, wenn Mann und Frau sich gehen lassen, nicht mehr die Abfolge von Hygienemaßnahmen im Sinn haben.
In neueren Filmen, die Sitten ändern sich eben, zeigen Kameraeinstellungen am Boden verstreute Kleidungstücke. Leidenschaft erlaubt es nicht, sie vorher ordentlich zu falten und über den Bettrand zu schlagen. Schon in archaischen Zeiten versprach der Fleck, der sich nach der Hochzeitsnacht auf dem Lager zeigte, Familienglück.
EIGENNÜTZIG VERORDNETE HYGIENE
Wenn es nach unseren Krankenkassen ginge, unzweifelhaft genau so an Profit wie am Gemeinwohl interessiert, wären wir alle Muster- beispiele der Gesundheit und Hygiene. In ihren Magazinen einer "Schönen neuen Welt", eben unweit von Huxley angesiedelt, wird es uns vorgemacht, wie wir gesund und fit werden und bleiben - damit wir den Kassen nicht auf den Taschen liegen. Für einen jeden, der nicht in allen seinen Handlungen nur zweckorientiert sein mag, der blanke Horror. Seltsam leer und steril wirken diese Vorbilder der Krankenkassen, eher der Retorte entlaufen als aus dem Hygienevergnügen, neudeutsch auch Wellness genannt, hervorgegangen.
Wo sonst noch sehen wir unsere Interessen der Gesundheitspflege und -erhaltung vertreten? Man muss nur die Werbung beachten. Eine ganze Industrie gibt vor, Hygiene sei das, was man kaufen kann. Man schmiert sich ein, bis jeder natürliche Körpergeruch erstickt ist. Zur Erfüllung der Haushaltspflicht gehört das Töten von Keimen durch Chemikalien, zum Körpergebot das andauernde Duschen, das Überdecken aller körpereigenen Gerüche. Ist dieser Aufwand am Sein als Schein nur Ausdruck der Angst vor dem Nichtmehrsein? Jedenfalls dort, wo Hygiene manische, zwanghafte Züge annimmt. Grinst nicht dem durch Körperpflege und Kosmetik maskenhaft gewordenen Menschen tagtäglich die Fratze des Todes aus dem Spiegel entgegen?
Ingeborg Bachmann schreibt in einem Gedicht unter dem Titel „Gerüche“, einem ihrer letzten:

Immer hab ich den Geruch geliebt, den Schweiß,
die Ausdünstungen am Morgen, auch die Exkremente,
den Schmutz nach langer Bahnfahrt und in einem Bett.

Mein Geruch ist verdammt geworden, ich war eine
Schnapsfahne in einem wohlbestellten Haus.
Dreimal Baden auch keine Seltenheit. Am Monatsende
bin ich gemieden worden wie ein Kadaver.

Ich habe viel bereut, am meisten aber meinen Geruch.
Am meisten, daß mein Geruch nicht gefallen hat.
Es erzeugt Haß, Rachsucht, Verdammung werden noch so erzeugt.

In einer Anwandlung von Sozialromantik sang Bertolt Brecht ein Loblied auf die Gerüche proletarischer Männer und Frauen. Es gibt eine Ästhethik des Schmutzes in der modernen Kunst und Literatur. Unsere Klassiker, als gestrenge Überväter, haben sie konditioniert.
STERILITÄT IN LETZTER KONSEQUENZ IST SELBSTMORD
Hygiene kann schlicht heißen: Wie lasse ich die Sau nicht heraus? Aber ist es nicht das Tier, das sich zur Körperpflege in Staub und Dreck wälzt, im Schlamm badet? Längst hat ja auch der Mensch das Schlammbad für sich entdeckt.
Hygiene ist zweifellos auch eine Frage ästhetischen Empfindens. Aber wenn Hygiene nicht selbstverständlich ist, ist sie ein Aufwand, eine Selbstzumutung. Hygiene kann über die Notwendigkeit hinaus Freude an der Reinlichkeit sein oder aber Perversion.
Auf die Spitze getrieben, zur wahren Speerspitze des modernen, pragmatischen Puritanismus wurde Hygiene in Amerika. Verdrängung, Ausklammerung von Krankheit, Altern und Sterben prägen bis heute das Weltbild des ewig gutgelaunten, alterslosen Paradeamerikaners. Dazu gehörte vor einigen Jahren noch (jetzt durch andere elektrische Geräte ersetzt) der Umgang mit Rasierklingen nicht nur der Jungen bald nach der Pubertät, sondern auch der Mädchen; peinlich gepflegte Enthaarung, die Makellosigkeit glatter Haut. (Man beachte die Statistiken der Selbstmorde und Selbsttötungsversuche junger Menschen mit Rasierklingen aus dieser Zeit.)
Wo Reinlichkeit oberstes Gebot ist, kann man sich leicht vorstellen, dass da einiges unter dem Teppich verborgen liegt, wie die Leichen im Keller. Wer sich nicht die Hände schmutzig machen will, hat oft schon genug Dreck am Stecken. Zwischen Verweigerung und Übertreibung findet Gesundheitspflege ihre Goldene Mitte.