Ist Goethe geil? Oder wenigstens cool?

Gedichte in der Zeitung



Von Wolfgang Brenneisen
Es war einmal vor vielen, vielen Jahren, in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, da wanderten zwei Herren gesetzten Alters nebeneinander, man ist versucht zu sagen: fürbaß. Es handelte sich um den Verleger Wolf Jobst Siedler und den Historiker und Schriftsteller Golo Mann. »Wenn man sechs oder acht Stunden zusammen wandert, so wird vieles gesprochen«, erinnert sich Siedler. Das musste wohl so sein, denn in jener kargen, fast schon prähistorischen Zeit kannte man kein Smartphone, weder iPod noch iPad, sondern war gewissermaßen auf sich selbst zurückgeworfen und auf seine im Hirn verankerten Ressourcen angewiesen.
In dieser misslichen Situation überraschte nun Golo Mann seinen mitmarschierenden Kameraden. Siedler fährt fort: »Aber in meiner Erinnerung sind hauptsächlich Verse, die Golo Mann, ohne viel auf mich zu achten, gleichsam vor sich hin sagte - immer wieder August von Platen, Eduard Mörike, Theodor Storm, vieles aus der ›Matratzengruft‹ von Heinrich Heine und dann ganze Szenen aus ›Wallensteins Tod‹. Hunderte von Gedichten habe Golo Mann auswendig gewusst.
Was soll man als moderner Mensch des 21. Jahrhunderts von einer solchen Gedächtnisleistung halten? Ist sie bewundernswert oder ein krasses Beispiel dafür, dass man es damals noch nicht besser wusste und sich den kostbaren Speicherplatz im Gehirn mit Informationen voll stopfte, weil es noch keine externe Festplatte zur Entlastung gab?
Lassen wir erst einmal diese Frage im Raume stehen, und beschäftigen wir uns mit dem Thema Gedicht unter einem anderen Aspekt. Etwa zur selben Zeit, als sich die beiden gebildeten Wanderer Gedichte aufzusagen und anzuhören pflegten, räumten auch Zeitungen regelmäßig Gedichten Platz ein, meist am Samstag, um mit etwas Festlichkeit auf das Wochenende einzustimmen. Damit scheint es jetzt ziemlich vorbei zu sein. Hin und wieder die Besprechung eines neuen Gedichtbandes mit ein paar eingesprengten Zeilen – das war’s dann schon. Eine Ausnahme bildete die Frankfurter Allgemeine Zeitung, in der Marcel Reich-Ranicki mit seiner »Frankfurter Anthologie« Woche für Woche, geradezu heroisch, eine Lanze für das deutsche Gedicht brach. Ob diese »Institution», wie sie das Blatt selbst nennt, nach seinem Tod fortgeführt wird, erscheint trotz treuherziger Beteuerungen zweifelhaft. Die übrigen Zeitungen, hat man den Eindruck, machen sich nicht sonderlich viel aus Gedichten.
Zwar verursachte die Verleihung des Literaturnobelpreises im Jahre 2011 an einen Lyriker, nämlich Tomas Tranströmer, ein gewisses Aufsehen (pflichtschuldigst druckte man das eine oder andere seiner Gedichte ab), aber schon wenige Wochen nach dem Ereignis war die kleine Aufregung fast schon vergessen.
Und wieder beherrschen wie gewohnt Fotos das Feld. Zwischen dem Dahinsiechen der lyrischen Texte und dem Erstarken der Bilder könnte durchaus ein Zusammenhang bestehen. Was erwartet der Zeitungsleser? Handfeste Information, solide Fakten, pralle Wirklichkeit. Da scheinen die Fotos die richtige Antwort zu sein. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Die Patronenhülse auf dem Asphalt, die Warze auf der Nase des Rebellenführers – wirklicher geht es nicht, und wir sind dabei, in der ersten Reihe sozusagen.
Und dennoch, trotz aller Plastizität und Suggestivität haben diese Bilder eine entscheidende Schwäche: Es ist ihre Vergänglichkeit. Schon morgen öffnet sich an derselben Stelle ein neues Fenster, und wir blicken in einen anderen Teil der Welt. Ein Bild überlagert das andere, eine neue Aktualität löscht die alte aus (die keine mehr ist), das Einzelbild ist nur Teil eines endlos flackernden Films. Die meisten Fotos sind von hervorragender Qualität, doch nur wenige bleiben als Ikone der Zeit in Erinnerung. Ein Verdacht steigt auf. Könnte es auch heißen: Ein paar Worte sagen mehr als tausend Bilder?
Machen wir einmal ein Gedankenexperiment. Nehmen wir an, die Redaktion einer Zeitung sei durch einen Streik (das soll es ja schon gegeben haben) in eine schwierige Situation geraten. Die Zeitung kann nicht im gewohnten Umfang erscheinen, es klemmt vorne und hinten. Wird gar der Abonnent am nächsten Morgen
in seinem Briefkasten ein bloßes Nichts vorfinden? In dieser Not­situation sind fast alle Mittel erlaubt. Ein besonders befähigter Computer wird also kommissarisch Chef vom Dienst, und er macht seine Aufgabe recht ordentlich.
Allerdings ergibt sich eine Besonderheit: Dieser Computer schöpft aus der Tiefe seines Unterbewussten und platziert an prominenter Stelle, wo man eigentlich das Bild des Tages erwartet - ein Gedicht! Ausgerechnet! Die verbliebenen Journalisten sind im Prinzip entsetzt, doch ist man sich letztlich einig: The show must go on. Man könne ja später noch alles auf den Azubi schieben und die Leserschaft nachträglich um Nachsicht bitten, beruhigt man sich gegenseitig. Die Zeitung erscheint also, der Leser schlägt das Blatt auf und stößt auf Seite drei unübersehbar, in bester Lage, als Anzeige enorm teuer, auf folgendes Textgebilde:

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Wie würde nun ein solches poetisches Einsprengsel auf die Leser wirken? Ich nehme an, die Reaktion wäre gespalten. Die einen würden monieren, kostbarer Informationsraum sei für eine überflüssige Antiquität verschwendet worden. Die anderen wären überrascht. Sie würden sich vielleicht an eine Straßenszene erinnert fühlen: Ein Quartett junger Musiker spielt in der Hauptstraße Mozarts »Kleine Nachtmusik«. Das ist, könnte man sagen, völlig deplatziert, so eine Musik gehört in den Konzertsaal! Andererseits hat es einen eigentümlichen Reiz, solche Klänge über dem Gewirr der Stimmen und den vielfältigen Motorengeräuschen zu vernehmen. So etwas erinnert an sehnsuchtsvolle Waldhornklänge aus einer unbestimmten Ferne.
Schon recht, aber was wäre nun der »Mehrwert« des Gedichtes im Vergleich zu einer brandneuen Information, die, zumindest an dieser prominenten Stelle, nicht das Licht der Welt erblickt hat? Immerhin ist »Wanderers Nachtlied« von Johann Wolfgang von Goethe, am 6. September 1780 mit Bleistift an die Holzwand einer Jagdhütte geschrieben, seit gut zweihundert Jahren das berühmteste Gedicht deutscher Sprache – also über diesen unvorstellbar langen Zeitraum hinweg die Nummer eins in den Lyrik-Charts. Da können die Konkurrenten nur vor Neid erblassen, aber auch unsere erfolgsverwöhnte Musikszene müsste einen Hauch des Erschreckens verspüren.
Trotzdem: Was hat uns Goethe heute noch zu sagen? Ist das nicht eher ein Gedicht für empfindsame Seelen, die der harten Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts nicht ins Auge blicken wollen? Gipfel, Wipfel, Vögelein im Walde – kann man das als moderner Mensch überhaupt ernst nehmen?
Das sollte man. Man sollte sich nicht durch die Erfindungen moderner Technologie vorgaukeln lassen, dass die uralten Probleme und Menschheitsfragen gelöst wären. Das Thema oder besser ein Thema dieses Gedichtes heißt: Vergänglichkeit. Darüber gibt es lange philosophische Abhandlungen, doch sicher gelingt es dem Gedicht eindrücklicher, uns in den Abgrund des Vergänglichen blicken zu lassen. Dabei sind die Darstellungsmittel unspektakulär. Die knapp skizzierte Szenerie ist friedlich, schön, beru­higend, scheinbar für die Ewigkeit geschaffen. Doch ein bloßer Gedanke, dem sanften Windhauch in den Wipfeln ähnlich, genügt, um eine Schatten auf das Ganze fallen und uns erschauern zu lassen.
Das Gedicht schrieb Goethe als junger Mann. Da kann man schon einmal an die Vergänglichkeit denken, wenn auch das eigene Vergehen nicht recht vorstellbar ist. Viele Jahre verstrichen. Ein halbes Jahr vor seinem Tod besuchte Goethe zum letzten Mal die Jagdhütte auf dem Kickelhahn, »überlas diese wenigen Verse, und Tränen flossen über seine Wangen … und sprach in sanftem, wehmütigen Ton: Ja: warte nur, balde ruhest du auch!«
Nachdenkenswert ist auch die Darstellung der Natur in diesem Gedicht. Ein solch naives, ungebrochenes Naturbild dürfte uns ein moderner Autor wohl nicht zumuten. Heute geht es um Umwelt, Biosphäre, Artenschutz, Klimawandel usw. und die damit verbundene Betroffenheit. So gut wie Goethe im 18. Jahrhundert hätte man es diesbezüglich auch gerne, dann würde man ebenfalls wohlgemut die Vögelein in ihrem Walde bedichten.
Nun liegen die Dinge aber nicht so einfach. Trotz aller gegenteiligen Erfahrungen, trotz nicht abreißender Katastrophenmeldungen scheint uns Nachgeborenen die Natur im Prinzip beherrschbar zu sein. Wenn man die Dämme etwas höher gebaut, die Atomkraftwerke besser gesichert oder von vornherein auf eine andere Energiegewinnung gesetzt, die Kohlebergwerke mit effizienten Filtern ausgestattet hätte, wenn man mit anderen Worten etwas vernünftiger gewesen wäre, ja dann könnten wir auf dieser Erde nach unserem Gusto leben, oder nicht?
Diese Naturauffassung finden wir in Goethes Gedicht nicht. Hier ist die Natur trotz anmutiger Seiten eine Schicksalsmacht, die der Mensch keineswegs nach seinen Vorstellungen formen kann. Implizit wird angedeutet, dass die menschliche Unruhe und Geschäftigkeit wieder ausgelöscht wird, und sogar »balde«. Der Mensch: hervorgebracht von der Natur und wieder in sie zurückkehrend, als Namenloser.
Welche Naturauffassung ist nun die »richtige«? »Bleibt es, im großen und ganzen, unentschieden«?, wie es Hans Magnus Enzensberger einmal formuliert hat. Einiges spricht dafür, dass der Dichter des 18. Jahrhunderts näher bei der Wahrheit liegt.
Es zeigt sich also bei näherer Betrachtung, dass das altmodische Goethe-Gedicht im Vergleich zu dem unterdrückten aktuellen Foto gar nicht so schlecht abschneidet. Im Wirbel der sich überstürzenden Neuigkeiten hat ein Innehalten und Nachdenken durchaus seinen Sinn. Über seinen Erkenntnisgewinn hinaus erfreut das Gedicht durch seine Sprachmelodie, seine Musikalität, seinen ruhigen Rhythmus, durch die Klarheit seiner Bilder, seine Ordnung, seine unangestrengte Natürlichkeit.
So hat also der diensthabende Computer in seinem dunklen Drange eine glückliche Hand bewiesen. Er hätte auch Zeilen der Dichter aufführen können, die Golo Mann als Seelenverwandte betrachtete. Dabei wäre es kein Nachteil gewesen, wenn allseits be­kannte, uns innig vertraute Gedichte vorgestellt worden wären. Im Gegenteil, die Begegnung mit lieben alten Bekannten hätte uns erfreut und gerührt. Denn wie es mit Bekannten ist, alles weiß man nicht über sie. »Der Mond ist aufgegangen« von Matthias Claudius wäre ein solcher Bekannter. Die schönste deutsche Strophe, ist gesagt worden – aber wer von uns könnte wie Golo Mann die sechs anderen aufsagen? Der Abdruck des gesamten Gedichtes auf der Seite drei der Zeitung hätte den Redakteuren natürlich eine gehörige Portion Wage- und Opfermut abverlangt.
Diese bekannten, berühmten, populären Gedichte haben für uns eine besondere Bedeutung: Sie sind in unserem kollektiven Gedächtnis (auch wenn sie bei den wenigsten so abrufbar sind wie bei Golo Mann), sie stellen unser kulturelles Erbe dar, sie schaffen eine geistige Gemeinschaft. Deswegen wäre es schon wichtig, sie nicht bloß in Büchern und Bibliotheken aufzubewahren und abzuspeichern, sondern sich ihrer immer aufs Neue bewusst zu werden. Sie also auch in den Medien zu aktualisieren.
Merkwürdig an der Sache ist, dass die so genannte moderne Lyrik, also die nach der »Stunde null«, nach Kriegsende, kaum oder gar nicht den Sprung in das kollektive Gedächtnis geschafft hat. Aus der ersten Jahrhunderthälfte: Trakl, Benn, Brecht, ja, die sind präsent – aber was kommt dann? Kann man sich vorstellen, dass heutige Nachfahren von Golo Mann und Wolf Jobst Siedler durch die deutschen Wälder wandern und sich aus dem Kopf Gedichte von Ingeborg Bachmann, Günter Eich bzw. Grass oder Hans Magnus Enzensberger vorsagen? Von Sarah Kirsch, Rolf Die­ter Brinkmann oder Thomas Kling?
Natürlich kann argumentiert werden, Gedichte dieser Art seien gar nicht zum Aufsagen gedacht, man müsse sie lesend erfassen, schon allein weil sie so komplex, vielschichtig, subtil, innovativ etc. seien. Aber genau da liegt das Problem: Diese Texte sind ins Papier eingeschlossen. Nur selten schaffen sie den Sprung aus dem Kopf der Dichter in das Herz der Leser.
Doch seien wir fair, die modernen Lyriker haben es nicht leicht. Die klassische Einfachheit von früher ist nicht mehr möglich. Herz darf nicht mehr auf Schmerz gereimt werden, überhaupt ist das penetrante »Reimgeklingel« total out. Regelmäßige Verstakte, Strophen, Sonette – fast das ganze Repertoire, das in Jahrtausenden erarbeitet worden ist, gehört jetzt in die Rumpelkammer. Es bleiben meist nur prosaähnliche Gebilde, die sich mit einiger Gewalt und verwegener Zeilenanordnung von bloßer Prosa abheben müssen.
Und trotzdem: Es gibt schon einige bemerkenswerte Gedichte dieser schwierigen Machart. Wenn unser Computer dergleichen im Zeitungsumfeld präsentiert hätte, wäre auch das eine interessante Überraschung gewesen. Links berichtet Korrespondent A. aus L., rechts Korrespondent B. aus M., und dazwischen wie der rätselhafte Einschlag eines Meteoriten die harten, rauen Zeilen eines modernen Stürmers und Drängers. Vielleicht befasst auch er sich mit den Themen Umwelt und Vergänglichkeit. Vielleicht sind es die Aufsehen erregenden Worte eines neuen Goethe.
Ach ja, Goethe. Die Titelfrage muss ja noch beantwortet werden. Ist Goethe geil? Oder wenigstens cool? Weder noch. Goethe ist einfach gut.