Hermann Hesse und Max Frisch



Von Adolf Muschg
Meines Wissens sind sie einander nie persönlich begegnet. Die Lebenszeichen, die sie gewechselt haben – erhalten sind, mit einer Ausnahme, nur die Briefe Frischs an Hesse – wirken immer ein wenig angestrengt. Im ersten Brief, datiert vom 21. Oktober 1937, stellt sich Frisch dem verehrten Hesse maschinenschriftlich als 26jähriger vor, der nach dem Tode seines Vaters sein germanistisches Studium aufgegeben und mehrere Jahre für die Zeitung – vor allem die NZZ – gearbeitet hat, jetzt habe er sich aufgerafft, noch einen andern und sozusagen weltgerechten Beruf hinzu zu lernen, den Beruf des Architekten nämlich. Er hat aber auch schon zwei Bücher veröffentlicht, und das zweite, das er ausdrücklich »sehr klein« nennt – es ist »Antwort aus der Stille« – legt er bei, denn man glaubt als junger Mensch mitunter, daß uns ein Meister, der es nicht mehr nötig hat, sich in seinem Urteil immer nur selbst in Szene zu setzen, helfen kann, indem er uns vielleicht in einer Richtung bestärkt oder in einer andern vor den Gefahren unserer Anlage warnt, sei es nun, daß dies auf brieflichem Weg geschehe oder in einem öffentlichen Urteil, wie Sie es oftmals tun. Also die verklausulierte Bitte um eine Rezension; erfüllt hat sie sich noch nicht. Aber die Ratlosigkeit des Verfassers ist nicht gespielt. Er hat im selben Jahr sein Jugendwerk dem Feuer überantwortet und fühlt sich als Schriftsteller ohne Perspektive. Sicher glaubt er nur zu wissen, daß seine journalistische Existenz, selbst wenn sie zum Leben ausreichte, einer literarischen Zukunft im Wege stünde. Aber diese hat sich durch den Eintritt in den »sozusagen weltgerechten Beruf« keineswegs er­ledigt, soll nur auf einen solideren Boden gestellt sein. Von seiner Einbürgerung in die honorige Gesellschaft – zuerst verkörpert im Studium an der ETH, das ihn zum Diplom, einer selbständigen Stellung und später in die Ehe mit seiner Kommilitonin und späteren Assistentin Constanze bzw. Trudy von Meyenburg führen sollte – verspricht er sich dasselbe wir von der Erfüllung der militärischen Dienstpflicht: die Reife eines schwebenden Ich zu einer verantwortlichen Person. Aber diese zeigt sich für ihn immer als Aufgabe im doppelten Sinn: Was man anpackt, um davon angepackt zu werden, muß man auch aufzugeben fähig sein, wie er im Herbst 1938 in »Offenbarung durch den Abschied« geschrieben hat: Nur wer das könnte: mit dem Tod Arm in Arm gehen und bei allem wissen, daß er es zum ersten und zum letzten Mal hat. Wer das könnte, was wir zum Abschied können, wo wir uns auf keine Zukunft vertrösten dürfen: ganz und gar die Gegenwart empfinden und erfüllen, als ein immer Vergängliches … – Da ist der Hesse-Ton ganz nahe: »Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!«
Und doch sind die Klangräume durch mehr als eine Generation getrennt. Frischs Programm – das beim späten Goethe »wiederholte Pubertät« heißt – ist auch bei Hesse eine sauer erworbene, aber diskret gewordene Alterserrungenschaft, auch wenn es in der äußeren Lage, in der sie sich zu bewähren hat, zwischen beiden Autoren Parallelen gibt. Beide leben in der neutralen Schweiz und werden im Dritten Reich verlegt; beide finden starke Gründe, sich, zur Rettung ihrer inneren Freiheit, von politischen Stellungnahmen öffentlich zurückzuhalten; wobei allerdings Hesse, durch Schaden klug, eine schon vor Hitler geübte Praxis fortführt, während sich der jüngere Frisch mit seinem virulenten Entscheidungsbedarf dem Verdacht des Opportunismus aussetzt. Er ist nicht so weise, und will es nicht werden, sich bei einem erkannten Missverhältnis – sei es privat oder politisch – zu beruhigen; wird es unerträglich, muß er sich zeigen. Dabei kann ihm Hesse kein Vorbild sein: Seine Dichtung, schreibt er dem Bruder 1937, empfinde man nach dem Umbruch, der sich in der Literatur vollziehe, als unzeitgemäß, als zurückliegend, als tot, als ein Ende und eine Sackgasse.
Dennoch wendet sich Frisch in seiner eigenen Sackgasse um Orientierung an Hesse und weist sich mit einem Buch – eben der »Antwort aus der Stille« aus, das einer geschrieben hat, der, wie der »Steppenwolf«, ein Ende machen will, auch wenn am Ende kein Pablo und Mozart auf ihn wartet, sondern die radikale Desillusion über sich selbst, als Beschei­dung verkleidet. Aber dahinter ahnt man schon die nächste Wand, an der sich der Bergsteiger wird bewähren müssen. Hesses Antwort ist nicht erhalten – vielleicht, vermutet Frischs Biograph Julian Schütt, hat er sie auch in sei­nem Autodafé vernichtet. Dies, nachdem er immerhin schon einmal, wenn auch unfreiwillig, mit Hesse zusammen aufgetreten ist – mit seinem ersten veröffentlichten Gedicht »An ein venezianisches Weinglas«. Das lyrische Wag­nis, auf des­­sen Publikation er mit »gymnasiastenhafter Bange« wartete, erschien im Sonntagsblatt der »Basler Nachrichten« vom 19. Januar 1936, eingerahmt von einem Essay von Hermann Hesse mit dem Titel »Schlechte Gedichte«. Und auch wenn er solchen viel abgewinnen kann und gesteht, daß sie ihm lieber seien als jene, welche »nur schön sein wollen« und »Pralinen fürs Publikum« seien, hat Frisch gewiß nicht gern als Illustration dafür gedient. Er habe die Würdigung »natürlich mit besonderer Aufmerksamkeit gelesen«, schrieb Frisch dem zuständigen Redaktor. Für solches Zusammentreffen pflegte Frisch ein nachhaltiges Gedächtnis zu haben.
Dennoch bleibt Hesse einstweilen eine Instanz. Frischs nächster Brief, handgeschrieben, trägt das Datum »Anfang 1940«, stammt also aus der Zeit der Grenzbesetzung; er bedankt sich verspätet und etwas gewunden für »Zehn Gedichte«, die ihm Hesse geschickt hat, ohne inhaltlich darauf einzugehen; aber sie hätten ihn auf sommerlicher Wanderung in den Bergen als einzige Lektüre begleitet. Stolz und Scham hätten verhindert, daß er Hesse im Herbst, als Kanonier ziemlich in Ihrer Nähe, geradezu besucht hätte, an Leuten, die nur als Nehmende auftauchen, werden Sie genug haben. Aus Frisch nächstem Brief, datiert 6. Juni 1945, geht immerhin hervor, daß zwischen Montagnola und Zürich Post hin und her gegangen sein muß. Hesse hat Frisch Gedichte und Betrachtungen zukommen lassen, Frisch die »Blätter aus dem Brotsack« geschickt und wundert sich mehr und mehr über die Anmaßung, die ich damals mit meinen beiden Sendungen beging. Und doch wagt er, eine neue Publikation nachzuschieben, ein Büchlein, das ich als meine erste gelungene Arbeit empfinde. Es ist »Bin oder die Reise nach Peking«, ein Pseudonym für die Ich-Form und zugleich eine Hommage an den 1941 verstorbenen Zürcher Dichter Albin Zol­linger. Es komme zu Ihnen nicht mit dem Anspruch auf Teilnahme und Urteil, sondern als Dank für frühere Teilnahme und früheres Urteil.
Jahre später, 1951, tritt Frisch in einem Grußblatt zum ersten Mal als Mit-Autor des Suhrkamp Verlags auf – und bekommt von Hesse in einer Weltwoche-Rezension zu »Stil­ler« am 19. November 1954 eine öffentlich sichtbare Reaktion auf seine literarische Existenz. Sie ist anfangs distanziert: Ich, der ich aus einer andern Generation und Welt stamme, stehe den Problemen dieses bemerkenswerten Romans eher etwas fremd gegenüber. Und: Mir scheint es ein Fehler dieser breit ausgesponnenen Erzählung zu sein, daß sie sich als eine Art Roman des modernen Ehelebens zu geben scheint. Damit kann Hesse nichts anfangen, ebensowenig mit der Expa­triate- oder Identitätsproblematik – die Romanfiguren seien gut gezeichnet, aber man werde sie mit hundert andern vermutlich bald wieder vergessen. Hohes Lob erhält allein Stiller selbst, denn er ist keine Romanfigur, sondern ein Individuum, ein in jedem Zug erlebter und überzeugender Charakter. Hesse rühmt, daß wir seine Nöte und beinahe tödliche Problematik auch als über-individuell, als typisch, als stellvertretend für zahllose andere empfinden. Gerade daß er seine schwere Malaise nicht nach einem existentialistischen Schema darstellt, sondern ganz und gar individuell, gibt ihm diesen Mehrwert über das Literarische hin­aus. Das Lob dieses »unbedeutenden Künstlers« als »liebenswerten Menschen« kann Frisch nicht nur erbaut haben. Es beleuchtet den Abstand der ungleichen Sensorien schärfer, als es eine offene Kritik getan hätte.
In einem Brief an den gemeinsamen Verleger Suhrkamp, dem die Uraufführung von Frischs »Öderland« in Frankfurt und Zürich – wo sie ein Misserfolg war – viel zu schaffen macht, äußert sich Hesse diplomatisch ausweichend: Wir haben Frischs »Stiller« gelesen, kein ganz reiner, aber ein starker Eindruck, wir sprechen einmal darüber. Immerhin folgt 1950 in der »Weltwoche« noch sein Vorschlag für ein Buchgeschenk: »Für einen Freund: Martin Buber, »Zwei Glaubensweisen«, Manesse-Verlag, Zürich. Für eine Freundin: Max Frisch, »Tagebuch«, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main«.
Schließlich der einzige bekannte Brief Hesses an Frisch »im Februar 62«, ein halbes Jahr vor seinem Tod, in dem das Zuspät selbst eine merkwürdige Rolle spielt.

Ich hatte eine Dichtung gelesen, die mir starken Eindruck machte. Eine gewisse Schüchternheit überwindend schrieb ich dem Autor ein paar
Zeilen dankbarer Bewunderung. Wenige Tage nach dem Abgang meines Briefes erfuhr ich, daß der Dichter schon seit ein paar Jahren nicht mehr am Leben sei.
Das fürchte ich bei Ihnen nicht. Aber es wird vermutlich bald bei mir vollends die Fähigkeit erlöschen, einem Kameraden gegenüber meiner Teilnahme und mei­nem Dank Ausdruck zu geben. Ich möchte das, nach der Lektüre von Andorra, heute tun, hätte es wohl schon bei früheren Gelegenheiten tun sollen.
Nehmen Sie meinen Gruß freundlich auf.


Wie indirekt, wie beziehungsvoll verschämt er hier appliziert wird, der Ritterschlag des »Kameraden«! Doch einmal steht das Wort da, und bei Hesse steht es für viel – aber auch bei dem jüngeren Frisch. In seinen persönlichsten Skiz­zen – nicht nur den »Blättern aus dem Brotsack« – erscheinen Freunde als »Kameraden« – gewiß kein Zufall, daß Frisch gerade diesen Brief aufbewahrt hat. Seine Antwort ist zum ersten Mal geradezu und warm. Ich bin sehr gerührt (wenn ich dieses Wort brauchen darf) über ihren so freundlichen Brief, über Ihre Teilnahme an meiner Arbeit, nicht zuletzt einfach über die Tatsache, daß Sie mir schreiben. So antwortet er, diesmal ohne Verzug, am 12. März 1962. Auch ich erinnere mich an manche Versäumnisse, die mich beschämen. Die Jugend ist halt ein Biest. Man merkt es erst, wenn man nicht mehr dazu gehört. Sie schreiben von Schüchternheit, das verstehe ich seit einigen Jahren; es gibt eine seltsame Schüchternheit gerade vom Älteren zum Jüngeren, ich habe sie auch schon. »Nahe auf getrenntesten Bergen«, wie es bei Hölderlin heißt: Diese Nähe signalisieren die Korrespondenten einander in diesen letzten Worten zum ersten Mal.
Aber das ist keine üppige Quellenlage. Frisch hat ge­genüber Volker Michels, auf Anfrage, 1973 bemerkt, mehr finde er bei sich nicht; Kopien, die ich an Hermann Hesse geschrieben habe, wären mir sehr willkommen; ich habe ein wenig Angst davor. Angst, in der Haltung des Bittstellers ertappt zu werden, des beflissenen Verehrers. Aber sein Gedächtnis an alles, was gewesen und nicht gewesen ist, zeigt sich überaus exakt; auf Gleichgültigkeit deutet das so wenig wie der Satz: Ich bitte Sie um Verständnis dafür, daß ich Ihnen keinen Beitrag für das Hesse-Buch versprechen kann. Es drängt mich nicht. Bei Brecht drängte es ihn; hier stand mit der geistigen Nachbarschaft – und einer unbequemen Musterhaftigkeit – der eigene Selbstwert auf dem Spiel. Hier war nicht Verehrung gefragt, von dieser Größe ging eine Herausforderung aus, der sich Frisch auch in eindringlichen Brecht-Porträts gestellt hat. Bei wenigen Zeitgenossen war er sich diese Mühe schuldig, und die durfte er auch mit der Gnade des Humors behandeln, den Pseudo-Dioskuren Dürrenmatt, Gottfried Honegger, Günter Grass. Hesse empfand er nicht als seinesgleichen – das ist kein Werturteil, sondern eine Tatsachenfeststellung; auch Hesse hätte sie wohl unterschrieben. Sie wurden einander, als der Rang der Jüngeren etabliert war, nicht einmal Antipoden. Immerhin glaube ich mich daran zu er­innern, daß Frisch sich – ohne Schärfe oder gar Häme – dagegen verwahrte, mit dem andern bekannten Tessiner verwechselt zu werden. Der Hesse nachgesagte Rückzug in die Innerlichkeit – damals ein gemeindeutsches Schimpfwort – wollte er nicht auf sich sitzen lassen, suchte aber auch keinen Anlaß, das Klischee zu re­vidieren. Die Hesse-Verehrung überließ er quasi ex officio Suhrkamps Nachfolger im Verlag, Siegfried Unseld, der über Hesse dissertiert hatte. Die Spur von Abwehr galt aber gewiß auch Hesses Patronage durch das Groß- und Bildungsbürgertum, namentlich dasjenige Zürichs, mit dem Frisch selbst eine intime Rechnung
offen hatte. Hinter Hesses Mon­tagnola-Kulisse zu sehen »drängte ihn nichts« – er ließ ihn einen guten Mann sein, und einen gewiß achtbaren Autor.
Nun geht es mir hier und heute auch nicht darum, aus einem augenscheinlichen Nicht-Verhältnis zweier Autoren einen Paarlauf zu konstruieren, die Lücken ihres Austauschs mit Vermutungen
zu stopfen oder gar in ihrem Schweigen übereinander schlafende Hunde auszumachen. Ich erlaube mir nichts Größeres als einen persönlichen Vers auf zwei Autoren, die ich beide – Hesse schon
in der Pubertät, mit den für eine solche Bekanntschaft typischen Reaktionen – intensiv gelesen und von denen ich nur den einen freundschaftlich gekannt habe – fast dreißig Jahre lang, in denen mein Frisch-Bild sich von selbst überholte, während ich für die Korrektur meines Hesse-Bildes auf fortgesetzte Lektüre und natürlich: auf die unschätzbare Nachhilfe dieser Tagungen (Gemeint sind die regelmäßig stattfindenden Hesse-Tage in Sils-Maria, wo Adolf Muschg diesen Text als Vortrag hielt. Für den Druck wurde er ergänzt und überarbeitet.) und des »Waldhauses« angewiesen war. Erlauben Sie mir also, die Bilder zweier Dichter, und zugleich das verschiedene Bild, das sie von ihrem Beruf hatten, nebeneinander zu halten, in der Hoffnung, daß sich daraus eine fruchtbare Spannung ergibt. Ich verfahre dabei ohne Methode, natürlich auch ohne Gewähr – und greife bestimmte strukturelle Verwandtschaften und Differenzen heraus, mit denen ich nicht zu Kurzschlüssen einladen, sondern die literarische, vielleicht auch die historische und politische Vorstellungskraft anregen möchte.
Daß Hermann Hesse für Frisch, grob gesprochen, kein Thema war, muß ja nicht Indifferenz bedeuten; es ist aber auch nicht
nur die persönliche Angelegenheit der Beteiligten. Man kann bei Frisch, anders als bei Hesse, die Tendenz beobachten, bestimmte Quellen der eigenen Herkunft – sowohl der literarischen wie der bürgerlichen Person – zu verdunkeln, aber auch anzuschwärzen und zu dementieren. Bei Hesse erkenne ich keinen Versuch der Selbstzensur, was das eigene Frühwerk betrifft, während Frisch ihm zum größten Teil die Aufnahme in einen von ihm bestimmten Kanon der »Gesammelten Werke« verweigert hat. Den Nachdruck etwa der »Antwort aus der Stille« – die Peter von Matt gerade neu herausgegeben hat – hat Frisch geradezu untersagt, und bestimmte Passagen in »J’adore ce qui me brûle« waren ihm nur noch peinlich. Eigentlich setzt das Lebens-Werk, das er für seine literarische Person gelten ließ, erst mit dem Ersten Tagebuch ein; alles zuvor hielt er für juvenil-selbstbezogen und lyrisch redselig; seiner Selbst­revision seit den fünfziger Jahren hielt es nicht stand. Das gilt auch für Stücke wie »Als der Krieg zu Ende war« oder »Nun singen sie wieder«, die durchaus politisch exponiert waren – Anfänge, deren sich, sollte man meinen, kein werdender Autor zu schämen brauchte und die auch – wie Julian Schütts Biographie vorführt – seine Motive – Motive im doppelten Sinn des Wortes – nicht nur besser erkennen lassen, sondern auch ihre Entwicklung erst begründen. Frisch aber verübelte sich ihre Treuherzigkeit und ließ nur we­niges, immer wieder radikal bearbeitet, durchgehen – wie »Don Juan« oder »Graf Öderland«, aber auch die »Blätter aus dem Brotsack«, die das »Dienstbüchlein« totalrevidiert hat. Frisch erfand, nein: Er statuierte sich neu auf dem Boden des Ersten
Tagebuches, das seine persönliche Konfrontation mit der europäischen Nachkriegssituation festhält und von seinem Damaskus, verkörpert in der Erscheinung Bert Brechts, geprägt ist. Was dort gesammelt ist, dient ihm nicht nur als Magazin für seine kommenden Stoffe, es spurt auch ihre Behandlung vor, von »Andorra« über »Biedermann« bis zu »Gantenbein«. Das Ende des ausschweifenden Subjekts ist der Anfang eines neuen Spiels um die und mit der literarischen Person. Im Zug dieser Selbstüberholung hat er etwa das großbürgerliche Milieu, in dem er sich hatte festmachen wollen, abgestoßen, aber durchaus nicht alle seine Attribute. Er hatte damit die verbürgerte Schweiz in Frage gestellt – aber durchaus nicht auf ihre Anerkennung verzichtet. Er hatte auch die Bezugspersonen der einheimischen literarischen Szene verabschiedet, die er als provinziell emp­fand, die Traugott Vogel, Hermann Hiltbrunner, Kurt Gug­genheim, sogar Albin Zollinger, dessen Pfannenstiel er auch geographisch lebenslang verbunden blieb und dem er im Vor­wort zu einer Neuausgabe seiner Gedichte ein kritisches und selbstkritisches Denkmal setzt.
Zu den Exorzierten gehörte auch sein Freund Emil Staiger, der Literaturpapst, dem er nach seiner Rede zum Zürcher Literaturpreis in den sechziger Jahren in der Du-Form eine Art Todesstoß versetzte. Gegen dieses Milieu des gehobenen Milizoffiziers blieb er unversöhnlich bis zum Ende, auch etwa in seiner Absage an die Respektperson Karl Schmid, meinen Vorgänger an der ETH-Z. Eine Ausnahme blieb der Outsider und Poéte maudit Ludwig Hohl, dem er – wenigstens darin mit Dürrenmatt vereint – seine Keller-Existenz in Genf ermöglichte.
Vor diesem Horizont leuchtet ein, daß kein Raum für so etwas wie unbürgerliche Gerechtigkeit gegen Hermann Hesse übrig war, zumal er gerade ihn für seine literarischen Jugendsünden in Anspruch genommen hatte. Der Frisch, den ich kennenlernte, hatte so gut wie keinen Verkehr mehr mit Schweizer Autoren der älteren Generation – auch nicht seiner eigenen; der einzige gleichaltrige Freund seiner späteren Jahre war ein bildender Künstler, Gottfried Hon­egger. Um so intensiver war die Rolle, die er als
etablierter Autor für einen Kreis jüngerer Kollegen spielte; der Gruppe 47 hatte er nicht angehört, wie ihr Wunderkind Ingeborg Bachmann, aber nach der Periode der Verbindung mit ihr, in den sechziger und siebziger Jahren, sammelte er einen Kreis jüngerer Kollegen um sich, wobei die Vermittlung Mariannes, seiner zweiten Frau, eine wichtige Rolle spielte. Sie war für ihn der Scout der Gegenwartsliteratur, auch die wirkliche Leserin von beiden – er war ein Lippenleser und bediente sich dieses Handicaps nicht ungern zur eigenen Entlastung. Das abgelegene Berzona im Onsernone-Tal wurde zu einem Treffpunkt jüngerer Kollegen, während sich die Beziehung zum früher schon dort angesiedelten Nachbarn Alfred Andersch bald abkühlte. Die deutschen Gäste stammten aus beiden Teilen Deutschlands, vor allem aus dem geteilten Berlin, wo das Ehepaar Frisch eine Zweitwohnung in Friedenau kaufte; die Gesellschaft fand sich im Sommer auch in Berzona wieder, Grass, Johnson, Höllerer, Jurek Becker, um nur die engsten Bekannten aufzuzählen. Da war zwischen Schwimmbad, Pingpongtisch und Bocciabahn für politischen Diskurs und den nötigen literarischen Klatsch gesorgt, aber auch für Werkstattgespräche, die Frisch ein Bedürfnis waren. Er konnte Anfänger das Fürchten lernen mit seinem »So und nicht irgendwie!« oder »Warum muß der Leser das wissen?«, aber bei aller Unerbittlichkeit seiner Ansprüche war er immer bereit, sich eines ganz anderen belehren zu lassen, nur mußten Text und Autor ihrer Sache sicher sein. Natürlich lief auch Privates und Intimes mit: Die Jüngeren kamen oft genug mit ihren Beziehungskisten an. Frisch rate einem bei Eheproblemen zuverlässig zur Scheidung, war eines der Bon­mots, das ich Otto F. Walter verdanke, und kann bestätigen, daß es nicht ganz aus der Luft gegriffen war. Zum Freundeskreis gehörten auch Peter Bichsel, Jörg Steiner oder Jürg Federspiel, der die Beziehung
zu New York eröffnete, das zum dritten Wohnsitz des Ehepaars Frisch werden sollte. In seinem zweiten Tagebuch kann man die Entwicklung des Weltbürgers Frisch verfolgen, seine Beziehung zum Amerika der Bürgerrechtsbewegung und des Vietnamkriegs, die ihn – in Begleitung des Verlegers – zum Gespräch mit Kissinger ins Weiße Haus führte: Er lernte auch die Avantgarde der amerikanischen Literatur persönlich kennen, etwa Donald Barthelme, und die Übersetzung, die ich damals von einem seiner Bücher unternahm, führte anfangs der siebziger Jahre zu meinem eigenen Eintritt in den Suhrkamp Ver­lag.
Die Innenseite von Frischs Versuch, sich mit sechzig Jah­ren in den USA anzusiedeln, das Ende seiner zweiten Ehe und die Beziehung zur Verlagsangestellten »Lynn« ist in »Montauk« dokumentiert – ein Buch, das man nur mit dem Frisch eigenen Kunstvor­behalt als »autobiographisch« lesen darf: Schreiben heißt hier, wie im »Stiller«, wie auch schon in »J’adore ce qui me brûle«, im Sinne Ibsens »Gerichtstag halten« – das Urteil spricht nicht das Material, sondern die Diskretion seiner Behandlung, das heißt: das Gelingen der Form. Der Abschied der realen Person Frisch von ihrer Erwartung an sich selbst ist nicht ebenso gut gelungen. Er empfand die Einschränkung seiner Beweglichkeit als Verlust nicht nur der Illusion, sondern auch der Produktivität. Nachdem nach New York auch Berlin nicht mehr bewohnbar war, zog sich sein Lebenskreis zu einer Ellipse mit den Zentren Berzona und nun wieder Zürich zusammen. Sein kargstes Buch, »Der Mensch entsteht im Holozän«, schöpft aus der eingeschränkten Reichweite des Alters und gewinnt dem Irrgarten der Einsamkeit noch einmal einen Spielraum für große Kunst ab. Bevor er selbst auf – wie er’s nannte – die »Zielgerade« einbog, hatte er sich als Begleiter seines todkranken Freundes Peter Noll Sterben und Tod so bewußt wie möglich vergegenwärtigt – damit vertrauter zu werden, bildete er sich nicht ein. Es war kein gefaßter, aber doch ein gelassener Max Frisch, der sich in seiner letzten Wohnung beim Zürcher Bahnhof Stadel­hofen von seinen Freunden verabschiedet hat. Dabei scheute er auch den Ausdruck der Nähe nicht mehr und hatte – wie Peter Noll – für alles, was nach seinem Tod in seinem Namen noch zu tun war, ein exaktes Szenario hinterlassen – von der Behandlung seines Nachlasses bis zur Ausrichtung der Totenfeier. »So und nicht irgendwie.« Die Begleiterin seiner letzten Lebensphase war Karin Pillod, die Tochter einer früheren und auch lebenslangen Liebe; dem geschiedenen Mann dieser Frau, Philipp Pillod, hat er das Vermächt­nis einer Video-Reihe hinterlassen, deren Altersweisheit nur daran zu erkennen ist, daß er einen Bogen um sie macht. Seine Selbstbehauptung ist diskret geworden, aber in ihrer unweh­leidigen Empfindlichkeit bleibt sie intakt.
Das ist, in ihrem Verlauf, eine ganz andere Geschichte als das Leben Hermann Hesses, und die Differenz springt um so deut­licher ins Auge, wenn einem bestimmte strukturelle Verwandtschaften auffallen. Beides sind Teil-Auswanderer aus ihrem Kulturraum, in dem sie – wenn auch unterschiedlich beweglich – ihre persönlichen Orte suchen; und beide Male liegt das Epizentrum im Tessin. Aber der eine – Hesse – verdichtet es zum persönlichen Schutzraum und symbolischen Lebensmittelpunkt, den er ohne Not nicht mehr verläßt. Montagnola war kein Basislager für Erfahrungen, die man nur als Reisender machen kann. Hesse hat seine exemplarische Reise – nach Hinterindien – gewissermaßen ein- für allemal absolviert; und gerade sie hat ihm gezeigt, daß sie bestenfalls ein Vorgeschmack, ein dürftiges Gleich­nis für andere Wege ist, die über Raum und Zeit hinaus führen, Wege zum Erwachen, welche die Seele allein und eigen-sinnig gehen muß, um bei sich selbst und zugleich im Reich einer wahren Realität anzukommen, das man mit ver­wandten Brüdern und Schwestern aller Zeiten und Räume teilt. Das größte Hindernis auf diesem Weg ist die eigene Spaltung in einen wilden und einen domestizierten Anteil der Person. Harry und den Steppenwolf zu versöhnen, Narziß und Goldmund zusammenzuführen, ist eine Lebensarbeit, die sich, ebenso in der dichterischen Produktion und in persönlicher Lebenskunst niederschlägt. Die Leidens­geschichte der Individuation enthält zugleich das Potential zur Überwindung des Subjektiven in einem – mit Goethe zu reden – oberen Leitenden; in seinem Bann steht auch das Kunstwerk. Und neben dieser persönlichen Heilsgeschichte ist – zugespitzt gesagt – die Weltgeschichte zweit- oder drittrangig.
Frischs Existenz folgt einem ganz anderen Entwurf – sie ist dieser Entwurf, um es zugleich im Geist des Architeken und an­gemessen existentialistisch zu sagen. Ihr Problem ist nicht die Spaltung der Person, sondern ihr Bedürfnis und ihre Fähigkeit, ein anderer zu sein, und als Versuchsperson braucht sie die Andern, und das Andere, für die lebenslang fortgesetzte Erprobung ihrer Identität. Diesen Spielraum verteidigt sie in ihrer Biographie, und sie nützt ihn in ihrer Kunst. Der Ausgang dieses Selbstversuchs will offen bleiben, von Fall zu Fall, und Reisen sind für einen jungen Mann, der in einem kleinen, in entscheidenden Jahren auch noch verschlossenen Land aufgewachsen ist, keine Metaphern. Es sind Ausbrüche, bei denen die ganze Person auf dem Spiel steht und ihre Möglichkeitsform getestet wird. Ihr Element ist das, was in der Schweiz am meisten fehlt: der weite Horizont. Die erste große Reise des jungen Frisch führte ans Meer, bei Dubrovnik, er hat
sie seinem Brotberuf abgenötigt; diesen Dispens von bestehenden Verhältnissen wiederholt er zeitlebens und läßt sich als über Sechzigjähriger noch von Ossi Wiener zu einer Expedition ins Innere Islands herausfordern. Solche Männlichkeitsprüfungen hatte Hesse nicht nötig, weder als alter noch als junger Mann – schon eine Badereise konnte ihn gewissermaßen ans Ende der Welt führen. Für Frisch aber waren Reisen zwar ein Credo quia absurdum, aber auch eine Conditio sine qua non: Was für einen die Kunst der Einkehr war, blieb für den andern das Abenteuer der Bewährung.
Was die beiden sich selbst zu schulden überzeugt sind, sieht so verschieden aus wie ihr Verhältnis zu einer festen Bleibe. Frisch, der Architekt, mußte sein Haus in Berzona besitzen, um es desto eher verlassen zu können. Hesse durfte das seine geliehen haben – ein Zustand, den Frisch, wie ich mir vorstelle, gehindert hätte, es zu bewohnen; geschenkt nehmen konnte er nichts. Auch nach ihrem Tod spiegelt das Schicksal der Häuser noch die unterschied­liche Lebensart ihrer Bewohner. Die Casa rossa hat neue Besitzer und ist für literarische Interessenten nicht mehr zugänglich. Frisch aber hat sein Haus seinen Erben hinterlassen, und seine Asche, die im Garten verstreut ist, wird ihnen, was man »Nutzung« nennt, nicht leichter machen. Er ist verschwunden und präsent zugleich; die Anonymität seiner Hinterlassenschaft hat einen Haken, wie das Denkmal im Zürcher Rosenhof, das ausdrücklich für niemand errichtet sein will, aber mit einem bestimmten Datum versehen ist: »zur Zeit des Krieges in Vietnam«. Es betont seine Freiheit, aber diese selbst stellt sie nicht frei: es verpflichtet zu ihr. Dagegen ist die Casa rossa ein Denkmal der Gelassenheit, dem Lauf der Dinge anheimgestellt: in seinem Sinn dürfte sie auch spurlos verschwinden, wie jeder Aufenthalt auf Zeit.
Beide, Hesse wie Frisch, waren Beziehungsproblema­ti­ker, wenn auch, was ihre Bücher betrifft, unterschiedlich relevanten und reflektierten Grades – auch das gehört zu den Parallelen ohne Schnittpunkt. Hesse ist vom Ehrgeiz, den Geschlechterkampf
wenigstens literarisch zu meistern, so gründlich abgekommen, daß im »Glasperlenspiel«, für das er den Nobelpreis erhalten hat, von Frauen gar keine Rede mehr ist. Frisch dagegen bleibt von seinem möglichen Versagen als Mann – der Angst vor Versagen überhaupt – zeitlebens gebannt und erreicht gerade darin eine eigene Meis­terschaft: diesem Zustand immer neue Varianten der Enthüllung auf eigene Kosten abzugewinnen. Dieser Spielanlage verdanken wir eine Figur wie Biedermann, der seinen Brandstiftern nicht das Wasser, sehr wohl aber die Streich­hölzer reicht, oder den fleischfarbenen Stoff, den Stillers Freund, der Staatsanwalt, in einer Hintergasse Genuas von einem Ganoven als Pfand angehängt bekommt und nicht mehr los wird. Das Modell dafür muß der Stoff gewesen sein, den der junge Frisch in Dubrovnik von seinen adligen Pensionsdamen geschenkt erhielt, das einzige Erinnerungs­stück an den verstorbenen Vater, aus dem er sich einen Anzug schnei­­dern ließ. Im Konstruieren radikaler Engpässe für den eigenen Macho ist Frisch unübertrefflich, im Witz auf eigene Kosten. »J’adore ce qui me brûle« – auch in seinem Leben war der beste Freund, der ihm sein Architekturstudium bezahlt hat, auch sein schärfster Richter.
Kein Mann von Würde, so lautet die Moral von Frischs Geschichten, darf sich einen Freispruch gefallen lassen. Nichts, fast nicht in Hesses Werk ist für eine solche Wette mit dem eigenen Stolz zu haben; seine Figuren suchen die Freiheit auch von der eigenen Überforderung und lernen dem tyrannischen Über-Ich mit Ruhe begegnen. Zur Empathie mit den Schwachen gehört auch das Verständnis für die eigene Schwäche.
Frisch gilt immer noch, und natürlich nicht zu Unrecht, als ein Exponent jenes Engagements, wie es Sartre in der Nachkriegszeit verkündet hat. Um die heimliche Ambivalenz dieses Engagements aufzudecken, muß man seine Vorgeschichte heranziehen. Die Nazi-­Besetzung hatte es der französischen Intelligenz leichter gemacht als anderswo, den Schein ihrer Autonomie zu wahren. Bedeutende Werke des nachmaligen Existentialismus sind unter deutscher Okkupation publiziert und aufgeführt worden. Nachträglich ließ sich das Odium der Kollaboration am wirksamsten abschütteln, wenn man die Geschichte des Subjekts bei Null anfangen ließ: Es verfaßte sich aus eigener Entscheidung ganz neu und definierte seine Verpflichtung beispiellos, also auch ohne den Ballast der Vergangenheit. Auch Frisch, nie ein Kollaborateur, wohl aber
einer, der in den dreißiger Jahren an der leidigen Politik vorbei­gedichtet hatte, beendete die Unverbindlichkeit seiner Selbstverpflichtung, nach­dem er die Trümmer Europas mit eigenen Augen gesehen hatte. In diesem Sinn war er ein Existentialist; aber die Fiktion einer Stunde Null, mit der sich viele deutsche Kollegen über ihre Haftung für die Geschichte hinwegmogelten, konnte er nicht mitmachen, zu sehr war der Aufsteiger sich selbst der Gefälligkeit gegen ein bürgerlich-schweizerisches Milieu verdächtig geworden, das gerade in seiner Politikverachtung sehr wohl mit dem Faschismus kollaboriert hatte, und diesen bösen Blick gab er nicht mehr her. Der Dichter wohnte doch nicht, wie es bei Freiligrath heißt, »auf einer höheren Warte als auf der Zinne der Partei«. Partei nehmen, hieß für Frisch aber auch jetzt nicht: in eine Partei eintreten, auch wenn er den Sozial­demokraten bei Bedarf »nahestand«. Seine Gewissensfrage lautet: War er, als Genosse sei­ner Zeit, sich selbst treu oder nur der Erwartung anderer gefällig gewesen?
Gefällig, Gefälligkeit – kein Wort habe ich Frisch mit größerer Geringschätzung aussprechen hören. Gefällige Sprache, das war für ihn ein Leben lang das Letzte, weil für die literarische Arbeit tödlich, nicht weniger als für die Arbeit an der eigenen Person. Hier liegt der Ursprung der berühm­ten Fragebogen, der permanenten Frageform, für die es keine Antwort gibt als größere Fragen. Man hat die Suche nach Identität als Passe-Partout zu Frischs litera­rischer Identität verwendet, aber sein Interesse galt, wenn schon, gerade dem Wagnis der Nicht-Identität, der Verlockung, ein ganz anderer zu sein. »Ich bin nicht Stiller« ist ja nicht nur die Absage an eine bürgerlich aktenkundige Person, es ist auch die Freiheit, eine unbekannte Identität auszuprobieren – der Einstieg in ein weit offenes Universum der Einbildungskraft. »J’adore ce qui me brûle« – das ist die masochis­tische Lesart der verschriebenen Metamorphose; die kämpferische lautet: Nur was brennt, lebt; darum dient man auch seinen Zeitgenossen nicht, wenn man ihnen gefällt; man muß sie anzünden. Biedermann ist der heimliche Komplize seiner Brandstifter, sie sind nichts als die verkörperten bösen Geis­ter seiner Unehrlichkeit und nähren sich von seiner Lebensangst. Diese verdient nichts Besseres, als ihre Erfüllung zu er­leben. Man hat »Biedermann« für ein politisches Stück gehalten, aber im Kern ist es ein Selbstgericht. Das Urteil »schuldig« wird lebenslang gelten, aber zugleich ist diese Schuld eine plastische Materie, die sich in jeden möglichen Stoff verwandeln läßt – und in jedem unauslöschlich bleibt.
»Ich bin gekommen, ein Feuer anzuzünden auf Erden, und was wäre mir lieber, als es brennete schon!« Es scheint unpassend, ein Bibelwort für einen so wenig bekennenden Christen wie Frisch in Anspruch zu nehmen, und doch beleuchtet es – auch in seiner Ungeduld – den Kontrast zu Hesse in der nötigen Schärfe, und es stimmt zu der letzten öffentlichen Rede, die Frisch zu seinem 75. Geburtstag in Solothurn vor versammelten Kollegen gehalten hat. Im Namen der Aufklärung band er ihnen den Unfrieden mit bestehenden Verhältnissen auf die Seele. Am Ende brach er selbst in das Grölen des alten und kranken Ezra Pound aus, der, aus seinem Fenster in Venedig, an die Menschheit nur noch einen Wunsch hatte: »Désordre! Désordre!« Dieser Aufschrei wirkte damals, als der Zeitgeist sein Amüsement als Ende der Geschichte betrachtete, anachronistisch und prophetisch zugleich. Frisch verstand Aufklärung als Fanal; statt Anpassung verlangte er Widerstand, ja Anarchie, und rief noch in seinem letzten Artikel in der »WoZ« zur Empörung auf gegen den »verluderten Staat«, dessen Bürger er war – weil er es war. In meiner Lebenszeit habe ich keinen berühmten Kollegen »auf der Zielgerade« weniger versöhn­lich gefunden.
Nun – auch Hesse war, seiner bürgerlichen Verkleidung und dem Strohhut des Rosenpflegers zum Trotz, auf seine Weise Anarchist, nämlich Praktiker eines herrschaftsfreien, keinem Zwang unterworfenen Lebens gewesen; und nach dem Ersten Weltkrieg hat man ihm immerhin die Ehre erwiesen, ihn auch politisch als solchen zu brandmarken. Die Gartenfeuerchen, die er in Montagnola anzündete, waren so harmlos nicht, wie sie – und ihn – die Karikatur des SPIEGEL in den fünfziger Jahren malen wollte. »Cultiver son jardin« – das war schon für Voltaires »Candide« nicht das Ende der Aufklärung, nur das Ende ihrer Illusionen gewesen. Wer seinen Garten pflegte, verbesserte immer noch das, was in seiner Reichweite lag – klaglos, da der Welt auch mit Jammern nicht geholfen ist. Hesses Engagement, avant la lettre, war historisch oder moralisch solider als das der Existentialisten, denn es war das Resultat einer persönlichen Er­fahrung von Versuch und Irrtum. Der Erz-Irrtum blieb für ihn jede Form nationaler Selbstgefälligkeit, und er hatte lebenslänglich keine andere Ideologie nötig, um sie zu kompensieren, sondern wahrte seinen eigensinnigen Abstand zu jeder.
Daß dieser mit Neutralität – auch schweizerischer – nichts gemein hatte, zeigte sich an Hesses Reichweite, welche die Grenzen von Kulturen und Generationen überschritt. Auf ihn schwor in den USA eine Jugend, die entschlossen war, mit der Veränderung der Welt bei sich selbst anzufangen, auch wenn sich ihre Morgenlandfahrt manchmal in einem Trip erschöpfte. Gewiß war die Indienstnahme Hesses als Patron der Blumenkinder ein Missverständnis; er hatte sich durch die Zurückwendung auf sich selbst nie ganz von der Pflicht zur Zeitgenossenschaft entbunden gefühlt. Nicht einmal den Waffendienst konnte er verweigern, ohne Gefangenen des Krieges – nicht nur denjenigen in Lagern – durch Bücher, Lektürehinweise, Rezensionen die Gren­zen ihrer Gefangenschaft aufzuzeigen. Damit hatte er den grausamen Unfug an der Stelle unterlaufen, wo allein er gewendet werden konnte: im Gewissen und Vorstellungsvermögen seiner betroffenen Einzelnen – ein En­gagement, das diesen Namen verdient und das seinen Träger etwas kostete: seine Ruhe, die Gnade der Obrigkeiten, Jahre versäumter literarischer Beschäftigung, nicht zuletzt auch das Augenlicht. Ohne Brisanz, gefällig gar war dieser Friedensdienst nicht, alles andere. Andy Warhols bekannte Seriographie, die den Dichter des »Steppenwolf« als Feuerfresser zeigt, ist begründet. Dennoch hat ihn die akademische Rezeption – jedenfalls die deutsche – gern in die Ecke des romantischen Idyllikers geschoben, wäh­rend Frisch, noch vor kurzem der Miesmacher vom Dienst, mit seinem 100. Geburtstag in die durchschlagende Wirkungslosigkeit des Klas­sikers hineinwächst, die er selbst Brecht bescheinigt hat.
Aber Frischs Fragebogen sind Kunstwerke abgründig-witziger Gewissensforschung; und wären auch Politiker fähig, sie sich selbst zu stellen, und das hieß: sich ihrem Konfliktpotential aus­zusetzen, wir hätten eine ganz andere Politik. Es sind spielverderberische Fragen, darin besteht ihr paradoxer Nutzen. Frisch selbst hat sich gehütet, sie anders als in Kunstwerken zu beantworten. Hesse aber hat sich als Briefschreiber der Not gebeugt, die er auch in der einfältigsten Frage spürte, und nicht nur die Frage als offene behandelt, sondern sich selbst offen gezeigt. Auch wenn er kei­nen Rat wußte; er hat geantwortet, als Einzelner dem Einzelnen, als gäbe es nichts Wichtigeres, und so war es für ihn: Es gab nichts Wichtigeres als den Einzelnen. »Was ist das Allgemeinste? Der besondere Fall«, heißt es beim alten Goethe, und gegen die statistische Vernunft setzt er noch einen drauf: »Was ist das Besondere? Millionen Fälle.«
Hesse hat sich den Luxus erlaubt, im Rahmen des Möglichen, diese Wahrheit der Kunst, Wahrhaftigkeit der Person auch als Mitmensch zu praktizieren, aber auch als Leser. Daß diese Kategorien in der Literaturgeschichte nicht zählen, zeugt gegen ihre Verfasser; die Zunft hat Versucher immer höher geschätzt als sogenannte Gutmenschen. Auch in Frischs Fall lautete das veröffentlichte Urteil in den vergangenen Jahren dahin, daß er eigentlich nichts mehr zu sagen habe. Jetzt, unter dem Druck von Ju­biläen, kommen neue Dokumente ans Licht, erscheinen Biographien, kritische und selbstkritische Rückblicke; man entdeckt Frischs Verhältnis zu den Frauen neu, auch Verhältnisse mit neuen Frauen, man sieht dasjenige zur Gewalt näher an, auch derjenigen, die er sich selbst getan hat. Die Schweizer Herkunft erfährt einerseits eine unvoreingenommene Betrachtung, tritt andererseits deutlich zurück. Kurzum: neue Frisch-Bilder, im Plural, entwachsen dem Frisch-Klischee, sein Format rückt sich zurecht, seine Grenzen, kaum noch anstößig, werden interessant, das Nachleben kann beginnen. Vieles deutet darauf, daß er präsent bleiben wird, auf immer neue Art, mit andern Motiven, weil auch das Publikum andere hat, ihn zu lesen. Es ist zuverlässig zu erwarten, daß immer neue Leser sich von ihm herausnehmen können, was sie brauchen, daß er ihnen als Spiegel und Reflektor ihrer Erfahrungen dient, von denen der Autor nichts wissen konn­te. Aber sein Werk hielt den Platz dafür offen, und seine Freiheit bleibt vielsagend genug und – im Sinne Brechts – brauch­bar für eine andere Generation.
Wenn Sachgehalt und Wahrheitsgehalt eines Werks auseinandertreten, sagt Walter Benjamin in seinem »Wahlverwandt­schaf­ten«-Essay, dann entscheiden sie über seine Unsterblichkeit. Damit ist nicht gemeint, daß ein Werk für seine Leser auch dann wahr bleibt, wenn sie sich seine Kostüme nicht mehr anziehen können und nicht mehr seine Sprache sprechen. Benjamin meint vielmehr, daß das ganze scheinbar vergangene Universum eines Autors, gerade weil seine Zeitgebundenheit unübersehbar und auch befremdlich aufscheint, immer durchsichtiger wird auf die Kraft, wel­che dem Autor selbst ein Geheimnis war, über das er nicht verfügte, dessen Unverfügbarkeit sein Werk aber zu bezeugen fortfährt. Benjamin redet davon, daß der Kunstcharakter eines Werks seine Wahrheit besiegle, mit einem Zeichen, das der Autor ihm aufgedrückt hatte, ohne es selbst lesen zu können. Die Nachgeborenen aber beginnen es in immer neuer Lesart zu entziffern und kommen, von einer Generation zur nächsten, an kein Ende damit. Sie erfahren dabei: Es ist nicht ihr Medium, in dem sich das Werk der Kunst immer neu und anders spiegelt; umgekehrt spiegelt sich ihre Zeit, ihre Kultur in ihm.
Dieses Siegel nennt Benjamin, im prophetischen Sinne, »Unsterblichkeit«. Es sei unauslöschlich, aber auch in seiner Wirkung unbegrenzt, wie diejenige Shakespeares, Goethes oder der heiligen Schriften; immer die gleichen, bleiben sie niemals dieselben. Und jeder Leser begegnet in ihnen sich selbst als einem Andern: Das sei die mythische Kraft des großen Kunstwerks.
Eine Nummer kleiner: Es besteht einigermaßen Gewähr, daß Max Frisch nie ausgelesen ist und daß seine Lektüre, im Sinne Benjamins, erst begonnen hat. Was die Lektüre des Älteren, Hermann Hesses, betrifft, so hat sie schon einige Runden schöpferischen Nachlebens hinter sich. Und es zeugt für seine Lebendigkeit, daß seine Wirkung auf Leser so widersprüchlich geblieben ist wie vor einem halben Jahrhundert. Diejenigen, die ihn aus ihrem Kanon abtransportieren wollten, sind tot, sein Werk ist es nicht. Aber auch die Verehrung derjenigen, für die er eine indiskutable Größe sein und bleiben sollte, hat er schon mehrfach überlebt. Die Aussicht ist gut, daß wir es mit Autoren zu tun haben, an denen auch unsere Kindeskinder noch das Ihre herauszunehmen finden, an denen sie anzuecken, die sie zu vergöttern Lust haben: Auch das werden die Werke überleben. So lange überhaupt gelesen wird, werden sie Leser haben und bieten ihrerseits einen starken Anreiz dafür, daß diese Spezies nicht ausstirbt. Und wenn die Trockenzeiten des Geistes einmal kein Ende nehmen wollen, denken Sie an die Rosen von Jericho: Sie sind strohdürre Gebilde, aber es genügt ein einziger Wasserguß, ein bißchen Tau, vielleicht sogar eine einzige Träne, die wir einem verlorenen Paradies nachweinen. Und siehe, das Gebilde beginnt wieder zu grünen, mag es auch ein Jahrhundert im Staub gelegen und selbst wie solcher ausgesehen haben.
Natürlich gilt, was ich da als epochalen Trost ausmale, auch für die beschränkte Zeit eines einzelnen Lebens, Ihres und meines. Man muß Frisch – oder Hesse – nur eine Zeit lang ruhen gelassen, sogar vergessen haben: Und siehe da, sie bescheren einem das unverhoffte Glück, daß man nicht nur ihnen ganz neu begegnet, sondern sich selbst. Sie haben nicht auf uns gewartet, aber plötzlich sind sie da. Das ist – um auch dies noch mit Walter Benjamin zu sagen – »eine schwache messianische Kraft.«