Alles war

Autor:Esther Spinner
Erscheinungsjahr:2017
Genre:Prosaband
Verlag:edition 8


Rezensiert von Rainer Stöckli
Ein Ich, gesetzte Frau, Schriftstellerin, sechzig vorbei, stellt sich ihren Erinnerungen. Motto: All dies war einmal und ist nun nicht mehr! Sind wir LeserInnen denn nicht seit Jahrzehnten mit Vaterbüchern, Muttergedenken, Kindheitsschilderungen befasst? Nicht bloss von bestandenen Zeitgenossinnen, die ihr Leben nachschreiben (wie Bärbel Schröder, Jahrgang 1955), auch von Jüngeren wie Michelle Steinbeck (Jg. 1990) oder Laura Vogt (Jg. 1989), die sich zeitig aufmachen, die Spur zur Elterngeneration zu suchen, zu überprüfen, zu bewerten? Hat man nicht schon vor 40 und mehr Jahren Sammelrezensionen lesen dürfen über sukzessiv erschienene Romane, welche aufs gewiss auch damals schwierige Aufwachsen eingetreten sind? Auf Rechtfertigungen innerhalb komplizierter Familiengefüge. Auf buchbreite Darlegungen der Not oder Enge zwischen Kind und Elternteil. Auf die Narben junger Menschen und ihrer Fremderzieher? Jeroen Brouwers, Werner Bucher, Barbara Frischmuth, Manfred Gsteiger, Margit Schreiner, Gabriele Wohmann, Josef Zoderer.
Die literarische Beschäftigung mit dem familiären Herkommen reisst nicht ab. Vor knapp einem Jahr hat Esther Spinner ihre Re­cherche verlebter Kindheit, versäumter Mutterjahre herausgebracht. Ihre ungefähr sechste Erzählprosa. Es hätten sie (so sagt’s der erste Satz im Buch) die Erinnerungen verfolgt, seit die Mutter besorgniserregend gekränkelt habe. Tatsächlich könnte man den Roman als Krankengeschichte lesen – oder, vom Buchschluss aus, als Nachruf. Als Abschied, Klage, nicht zuletzt Rechtfertigung. Aber aussergewöhnlich wär nicht dies oder jenes, hingegen das halbe Dutzend Passagen mit dem Kindheitsbericht.
Die erste setzt rund zwanzig Seiten nach der Buch-Eröffnung ein, wird ausdrücklich als »Annäherung« an die Jahre der Adoleszenz bezeichnet und wechselt glückhaft die Perspektive vom Ich zu »das Kind«, so dass der davor (S. 12) angesagte, ja angedrohte! »einzige Kindheitsbrei« changiert vom Erzähltwerden, Plaudern, Schwätzen in eine sichtende, berichtende, beschreiberische Stillage. Spinner versprachlicht das im Gedächtnis bewahrte Zürcher Quartier Seefeld, verortet eine ehemals patrizianische, nunmehr vernachlässigte Wohn­situation.
Die Stillage schlägt um von der Ich-Form, worin die Jetztzeit, die Schreibzeit erfasst ist – meine Mutter / meine Schwindelanfälligkeit / mein Kamillentee / meine Lektüren / die Strassen meiner Kindheit / mein Papa (verstorben? verschwunden?) / meine Freundinnen / meine Römer Wohnung – zur Sicht einer Viertel-, dann Halbwüchsigen im zeitlosen Präsens: Das Kind darf oder darf nicht. Das Kind fragt. Das Kind gelangt. Das Kind nimmt For­sanose. Das Kind sinnt Wörtern nach. Das Kind schleicht durch den Korridor. Das Kind beobachtet Elsie, die Hausdienerin. Das Kind kennt das Meer von Postkarten her. Und dabei, bei all dem, werden zum Vorschein gebracht Zimmer und Salon, deren Einrichtung, das Mobiliar einer Grosswohnung, darin der Buchschatz bzw. Schund und Fauteuil, Buffet, Bett, Schrank, Vitrine, Besteck.
Die Passagen mit dieser Optik, im Umfang zirka eines Buchviertels, machen das Glück dieses 2017er Erzähltexts aus. Eine Vaterdemontage, ein Mutterporträt und Geschwisterkritik hat Esther Spinner bereits 1996 vorgelegt, im so attraktiv wie sonderbar getitelten Roman »Meine Mutter hat meinem Vater mit einer Pfanne das Leben gerettet«, nochmals gesprächiger als und so anekdotenvoll wie der unlängst erschienene Erinnerungsband. Mit der jetzt aber distanzierten, vorwiegend beschreiberischen Perspektive ist ein Erzähl-Verfahren »gefunden«, das Kindheits-Wirklichkeit objektiviert. Es ist Abstand gewonnen und ist Verbindlichkeit gelungen, wie Mariella Mehr sie in ihrem 1995er Buch »Daskind« geschaffen hat: in ihrer sprachgewaltigen Schilderung einer in jeder Beziehung harten Adoleszenz. Mehrs Buch (seinerzeit bei Nagel & Kimche) ist übrigens soeben neu aufgelegt worden: im Limmat Verlag, zusammen mit den zwei – ebenfalls radikal geheissenen – Romanen von 1998 und 2002, den Geschwisterbüchern »Brandzauber« und »Angeklagt«. Seit vergangenem November werden sie als Trilogie angeboten.