Der Poet Paulus Böhmer



Von Peter Frömmig
Paulus Böhmer hat 2015 den Peter-Huchel-Preis erhalten. Der Grund der Auszeichnung ist, so lässt sich vermuten, nicht nur eine herausragende Neuerscheinung des Vorjahres, sondern auch ein grandioses lyrisches Lebenswerk. Waren die Träger des Peter-Huchel-Preises in den vergangenen Jahren vor allem junge, schon vorab mit zahlreichen Preisen und Stipendien bedachte Autorinnen und Autoren, die in der Nachfolge von Friederike Mayröcker der Lyrik durch das Experiment noch einmal etwas Neues, Advantgardistisches abzuringen versuchen, ist es jetzt ein Mann in den Jahren, ein Außenseiter der deutschen Gegenwartsliteratur, der in seinen Langgedichten mit Beharrlichkeit und Sprachgewalt eine große Strecke an Leben und Schreiben zurückgelegt hat. Erst sehr spät wurde er wahrgenommen, für sein Lebenswerk geehrt, so mit dem Hölty-Preis für Lyrik (2010) und der Goethe-Plakette des Landes Hessen (2011). »Zum Wasser will alles Wasser will weg« ist der Titel des preisgekrönten Buches. Erschienen ist es im Verlag Peter Engstler, der sich der neuen Avantgarde verschrieben hat und mit Monika Rinck und Ulf Stolterfoht auch zwei frühere Peter-Huchel-Preisträger vertritt.
Was die fließenden, überquellenden, doch von durchgehendem Rhythmus getragenen Langgedichte von Paulus Böhmer mit sich tragen, ist Lebensfülle, ist neben Zeit- und Naturgeschichte auch die eigene Lebensgeschichte. Paulus Böhmer wurde 1936 in Berlin geboren und lebt heute in Frankfurt am Main. Nach dem Abitur begann er in der Mainmetropole ein Jurastudium, das er bald wieder abbrach, um sich sein Geld als Bauarbeiter zu verdienen. Danach ging er nach Berlin, schrieb sich an der Technischen Universität für die Studiengänge Architektur und Literatur ein, und blieb auch da nicht lange dabei. Nichts konnte Paulus Böhmer halten. Er tauchte ein in die Berliner Bohème, verdingte sich unter anderem als Werbetexter. Als er genug vom Großstadtleben hatte, zog er sich ins oberhessische Nieder-Ofleiden zurück, zu seinen Wurzeln, um Stauden- und Ziergraszüchter zu werden. Und bei allem hat er immer wie besessen geschrieben, auch gemalt. Als er dann von 1985 bis 2001 das hessische Literaturbüro leitete, begann sein Leben in festeren Bahnen zu verlaufen, rückte er dem Literaturbetrieb näher, wurde er Mitglied des deutschen PEN-Clubs.
Vor über zwanzig Jahren schon stellte Christoph Meckel in einer Jubiläumsausgabe der Literaturzeitschrift Akzente den bis dahin übergangenen Paulus Böhmer und dessen Lyrik vor. Meckel vermeldete damals: »P. B. hat viel Zeit gebraucht, um aus der eigenen Wildnis herauszufinden. Er schreibt ausschließlich Gedichte. Fast alle sind lange Poeme, in deren schlingerndem, endlos erscheinendem Gefälle Schrott, Schutt und Kaprolalien der Epoche auf aberwitzige Weise hin und her bewegt werden – er selbst spricht vom WEISSEN RAUSCHEN DER SPRACHE. Sein Hauptwerk ist das poem in progress KADDISH, der Titel bezeichnet die Tonart seiner Lyrik. Durchgehendes Bauprinzip der Gedichte ist die Mittelachse. P. B. setzt, scheint mir, in Lebensgefühl und Sprache fort, auf eigene Weise, was in den USA die Beat Generation und in Deutschland vor allem Rolf Brinkmann war. Das alles hat noch seine Gültigkeit. »Kaddisch«, das schließlich auf 600 Seiten angewachsene Hauptwerk von Paulus Böhmer, ist derzeit vergriffen. In einem der von Meckel vorgestellten Gedichte hebt eine Verszeile an: »Einst brach ich mich in Gewässern...«
Panta rhei, alles fließt, lautet ein von dem griechischen Philosphen Heraklit überlieferter Satz. Alles fließt bei Paulus Böhmer, so ist er in seinem Element. Alle Sedimente des Lebens und der Zeit, alles Erlebte, Erdachte, Phantasierte werden von seiner Lyrik mitgerissen, vermischen sich, kommen ins Fließen und Strömen, Sprudeln und Pulsieren, werden zu einem großen Gesang. Vergleichbar den »Cantos« von Ezra Pound, dem »Geheul« von Allen Ginsberg und den »Grashalmen« von Walt Whitman, eines noch früheren Vorgängers. Neben der Beatliteratur war es die Rockmusik seiner jüngeren Jahre, die Paulus Böhmer geprägt haben. Mit »Zum Wasser will alles Wasser will weg« hat er eine Wendung gefunden, die in Variationen immer wieder kehrt, die die Versstruktur seines jüngsten langen Poems durchzieht. Ein engmaschiges Textgefüge mit narrativen Zügen, bestehend aus einer zugleich manischen, schöpferischen wie formbewussten Sprache, die in dem und um den durchgehend axial gesetzten Text schwingt und tanzt. Böhmer ist ein Sprachbesessener, der alle Spielarten der Lyrik sowie die musikalische Repetition beherrscht und virtuos einzusetzen versteht. Lässt man sich einmal von diesem Strömen erfassen, kann man sich lösen von ästhetischen Gewohnheiten und verbindlichen Denksystemen, wird man durch dieses großartige Sprachkunstwerk reichlich belohnt.
Paulus Böhmers mitreißender Sprach- und Bewußtseinsstrom, bei offenen Schleusen, mit langem Atem ins Fließen gebracht, trägt in sich die Momente des Daseinsglücks und die Schrecknisse der Zeit, ist durchmischt von Erhabenem und Skurrilem, Mythischem und Realem, Rauschhaftem und Reflektiertem. Alle Schaltstellen des Lebens, von seinem Beginn bis zu seinem Ende, sind in Betrieb – bis sich der Kreis schließt. Es ist verblüffend, wie ein solcher Schluss nach einem über 230 Seiten verlaufenden, auf DIN A4 großen Seiten wie entfesselt fließenden Text gelingt, wie daraus eine derart geschlossene Form entstehen kann. Und so schön kommt sie zum Ausklang: »... / Daß es weder Rettung noch Nicht-Rettung gibt. / Dass es Euch gibt! // Daß ich, klein, eingerollt / ins Bauchfell meines Katers, sterben werde. / Daß er dabei schnurrt. / Daß ich schnurre. Daß ich, sterbend, / im Bauchfell meines Katers schnurre: / Daß es Euch gibt! // Daß es so war: / Als ich geboren wurde, schimmerte / die Erde wie ein Ferkel. / Wir waren nichts als ein wenig Phosphor / in der Hirnhaut der Erde. / Eine Unruhe lang war die Liebe. / Daß es Euch gab!«