Der Dichter zur See Joseph Conrad



Von Otto A. Böhmer
Wer an die Macht des Schicksals glaubt, muß kein Irrationalist sein und auch kein Verächter der menschlichen Freiheit, auf die wir Wert legen. Das Schicksal nämlich, in seinem feineren Deutungsmuster, ist kein grobes Geschehen, das über des Menschen Kopf hinwegrollt und beträchtlichen Schaden anrichtet, sondern eine sinnvoll geknüpfte Handlungsabfolge, die, wenn man so will, bestimmte, an der jeweiligen Person orientierte Interessen zu erkennen gibt. In ihrem Licht erweist sich als sinnvoll, was für sinnvoll gelten kann; es mußte so kommen, sagt man dann, und glaubt eine Weisheit zu erkennen, die höher ist als alle Vernunft. Der Schriftsteller Joseph Conrad, der britischer Staatsbürger war, aber eigentlich aus Polen stammte und Józef Teodor Konrad Korzeniowski hieß, verordnete sich eine solche Schicksalsgläubigkeit, und er verstand sich darauf, ihr gerade jene Ordnungsprinzipien zuzusprechen, die wie für ihn gemacht erschienen. Conrads eigentliche Liebe, die früh geweckt wurde, galt dem Meer. Ihr tragendes Motiv war eine Sehnsucht, die sich nicht am Wirklichen messen ließ, sondern nur bereit sein mußte für die Stunde der Wahrheit. In Joseph Conrads Lebensrückblick Bericht über mich selbst, der 1912 erschien, heißt es:
»In einer Welt …, in der keine Erklärung unwandelbar gültig ist, sollte man, ehe das Urteil über Handlungen eines Menschen gefällt wird, das Unerklärliche einbeziehen … Unser Leben ist vergänglich, und allzuoft täuscht der Schein und täuschen all die Dinge, die unter das Urteil unserer unvollkommenen Sinne fallen. Unser Innerstes kann in seinen verborgenen Ratschlüssen treu und wahr bleiben. Selbst in einem losgelösten Dasein vermag die Treue zu einer bestimmten Tradition zu dauern und unanfechtbar den Weg zu verfolgen, den eine innewohnende Macht vorgegeben hat.«
Joseph Conrad wird am 3. Dezember 1857 in Terechowaja in der heutigen Ukraine geboren. Der Vater Apollo Korzeniowski ist ein polnischer Patriot und betätigt sich als Schriftsteller; er übersetzt Shakespeare, Dickens und Victor Hugo ins Polnische, wo­-bei ihm sein Sohn, der früh lesen lernt, assistiert, indem er ganze Textpassagen so vorliest, wie er sie versteht, was den Vater, der mit geschlossenen Augen auf Klang und Nachklang achtet, zu einer Korrektur des Hörens bringt, an der sich gelegentlich auch Józefs Mutter Ewa Korzeniowska beteiligt, die ihm als schöne junge Frau mit leisem Lachen in Erinnerung bleibt. Das Familienleben, das liebevoll gewesen ist, verlangte Solidarität: Apollo Korzeniowski nämlich, dessen wirtschaftliche Unternehmungen Verluste einbringen, wird 1861 wegen konspirativer Aktivitäten verhaftet und ins weißrussische Wologda verbannt, das in einem gefürchteten Sumpfgebiet liegt. Dort erkrankt seine Frau schwer. Obwohl man sie zur Genesung in die Ukraine zurückschickt, erholt sie sich nicht mehr und stirbt, gerade mal 32 Jahre alt, im April 1865. Vier Jahre später folgt ihr Apollo nach; seine Beerdigung in Krakau ist ein nationales Ereignis: »Was ich gesehen habe, war das öffent­liche Leichenbegängnis, waren die geräumigen Straßen, war die zum Verstummen gebrachte Menge; ich verstand sehr wohl, daß es sich um eine Kundgebung des Geistes der Nation handelte, der diese würdige Gelegenheit ergriffen hatte. Die Masse barhäuptiger Arbeiter, die jungen Leute von der Universität, die Frauen an den Fenstern, die Schulknaben auf der Straße, sie alle können nichts Näheres über [meinen Vater] gewußt haben; sie kannten nur den Ruhm seiner Treue zu dem Gefühl, das in ihrer aller Herzen herrschte.«
Nach dem Tod seines Vaters kommt Joseph Conrad zu seinem Onkel Tadeusz, den er liebt und bewundert. Tadeusz Bobrowski ist Patriot wie sein Bruder, allerdings gemäßigter in seinen politischen Ansichten; er hält wenig von revolutionären Umtrieben und glaubt eher an ethische Prinzipien und an die Selbstreinigungskräfte der Gesellschaft, die aus ihren wohlverstandenen Traditionen erwachsen. Joseph ist wie ein eigener Sohn für ihn, für den man, versteht sich, nur das Beste will. Das Beste aber, das die Erwachsenen für ihre Kinder wollen, sieht oft anders aus als deren eigene Wunschträume; daraus entstehen Konflikte, die entweder in angestrengtem Einvernehmen gelöst werden können, was nicht einfach ist, oder aber weiter schwelen. Als Joseph Conrad mit 15 Jahren erstmals den Wunsch äußert, zur See zu fahren, ist Onkel Tadeusz entsetzt; er versucht es mit Gegenargumenten, verweist auf die Gefahren, das Unstete und Unsolide der christlichen Seefahrt und erinnert daran, daß es allenfalls Piraten, aber keinem ehrbaren Menschen je gelungen sei, durch das Befahren der Weltmeere zu Ansehen und Wohlstand zu gelangen. Ein Seemann, meint er, ist keine gute Partie; weder für sich selbst noch für eine liebende Frau, die an Land zurückbleiben muß und dort, notwendigerweise, auf dumme Gedanken kommt. Joseph Conrad zeigt sich von diesen Überlegungen nur wenig beeindruckt; an seiner Liebe zum Meer, das ihm zuletzt noch durch Victor Hugos Roman Les Travailleurs de la mer, den sein Vater ins Polnische übertragen hatte, nahegebracht worden war, läßt er nicht rütteln. Da greift Onkel Tadeusz, in bester Absicht noch immer, zu einer List; er schickt Joseph mit seinem Hauslehrer Adam Pulman auf eine ausgedehnte Europareise, die über Wien, München, den Bodensee und die Schweiz bis nach Venedig und Triest führen soll. Der Lehrer hat den Auftrag, auf seinen Schüler einzuwirken und ihn von den »romantischen Hirngespinsten«, wie der Onkel den Seefahrertraum seines Neffen nennt, abzubringen. Tatsächlich wird durch die Reise eine Entscheidung bewirkt, die jedoch anders
und vor allem verzwickter ausfällt, als es die Beteiligten vermuten. »Man schrieb das wundervolle Jahr 1873, wundervoll, weil es das letzte Jahr war, in welchem ich wundervolle Ferien erlebte … In diesen Ferien hatten wir … den Vierwaldstätter-See-Dampfer in Flüelen verlassen und befanden uns am Abend des zweiten Tages, als die Dämmerung unsere verhaltenen Schritte einzuholen begann … In der Schattigkeit des tiefen Tals und weit von den menschlichen Wohnungen entfernt, beschäftigten sich unsere Gedanken nicht mit der Ethik der Lebensführung, sondern dem weitaus simpleren menschlichen Problem eines Nachtlagers und eines Abendessens. Wir überlegten schon, ob wir, da sich nichts zu finden schien, umkehren sollten, als wir hinter einer Wegbiegung ein Gebäude erblickten, das im Zwielicht einen recht gespenstischen Eindruck machte.«
Das zwielichtige Gebäude ist, wie sich herausstellt, ein ehemaliges Hotel, in dem vorwiegend Ingenieure verkehren, die am Bau des Gotthardtunnels mitwirken, der damals gerade als ehrgeiziges Großprojekt begonnen worden war. Sie führen, ihrem unterirdischen Gewerbe gemäß, eine schattenhafte Existenz; man sieht sie nicht, hört jedoch ihre konspirativen Stimmen. Erst am nächsten Morgen lassen sie sich blicken. Joseph Conrad ist fasziniert: »An einem der Fenster, die sämtlich ohne Gardinen waren, stand ein langer, hagerer Mann mit langem schwarzem Bart und einer Glatze, die von einem Büschel grauer Haare über jedem Ohr flankiert wurde. Er unterbrach seine Zeitungslektüre, und sein Blick verriet, wie sehr ihn unsere Erscheinung verblüffte … In diesem Moment betraten mehrere Männer den Raum, keiner sah aus wie ein Tourist, ich sah keine Frau. Die Männer erweckten den Anschein, als seien sie gut bekannt miteinander, doch kann ich nicht behaupten, daß sie sehr gesprächig waren … Der Herr mit Glatze ließ sich gewichtig am oberen Ende des Tisches nieder. Alle benahmen sich wie im Familienkreis … So kam ich in den Genuß, einer in englischer Sprache geführten Unterhaltung zu lauschen, wenn man es bei Menschen, die nicht viele Worte für die Belange des Lebens erübrigen, überhaupt Unterhaltung nennen konnte. Es war meine erste Berührung mit der britischen Welt …«
Als Hauslehrer Pulman mit seinem Schüler weiter wandert, redet er wieder auf ihn ein und versucht ihn davon zu überzeugen, daß es keinen Sinn hat, Seemann zu werden. Conrad hört zu, aber mit seinen Gedanken ist er woanders. Auf dem Furkapaß, am Rande der Straße, machen sie Rast. Pulman legt nach, er kreist sein Thema in immer neuen Variationen ein, redet sich in Begeisterung, so als wäre er selbst schon zur See gefahren und hätte dort das große Scheitern erfahren. Dann muß er jedoch seine Ausführungen unterbrechen; eine Wandergruppe nähert sich, und vorneweg marschiert, in bemerkenswerter Aufmachung, wiederum ein Engländer, der nicht der schwarzbärtige Mann aus dem Hotel ist, aber dessen Anverwandter, besser noch: dessen legitimer Nach­folger sein könnte, dem es obliegt, ein besonderes Bild abzugeben, das Eindruck macht und wohl bedacht sein will: »Mit langen Schritten bewegte er sich in östliche Richtung (neben ihm ging mürrisch ein Schweizer Führer) und hatte die Miene eines begeisterten und unerschrockenen Wanderers. Er trug Kniehosen und in den Schnürstiefeln nicht die üblichen langen, sondern nur kurze Socken – die Gründe dafür werden hygienischer oder sittlicher, auf jeden Fall aber nur eingeredeter Natur gewesen sein – , so daß sich die Waden allen Blicken und auch der rauhen Luft dieser Höhen darboten und dem Betrachter durch ihre marmorne Glätte und den milchigen Farbton weichen Elfenbeins blendeten. Er führte eine kleine Karawane an. Aus seinem strahlenden glattrasierten und glühenden Gesicht mit dem kurzen weißen Backenbart und seinen kindlich begierigen und triumphierenden Augen sprach eine leidenschaftliche Begeisterung für die Menschheit und die Bergwelt. Dem Mann und dem Knaben, die, den ärmlichen Rucksack zu ihren Füßen, wie staubige Landstreicher am Wegrand saßen, warf er im Vorübergehen einen wohlwollenden, beinah mitleidigen Blick zu und entblößte einen freundschaftlichen Spalt breit seine großen gesunden, schimmernden Zähne. Seine weißen Waden glänzten unbekümmert.«
Der Engländer stapft vorüber, aber sein Bild bleibt in Erinnerung und nimmt dort bestimmende Konturen an. Ein fünfzehnjähriger Junge sieht sich, auf Umwegen allerdings, die er erst später durchschaut, zu einer Entscheidung fürs Leben veranlaßt. Sie fällt, als er jenem Mann nachschaut, der ihn so seltsam berührt hat und der nun, bergwütig und sonnenfroh, hinter der Paßhöhe verschwindet, während Pulman, pflichtbewußt bis zuletzt, seine pädagogischen Ausführungen wieder aufnimmt und davon spricht, daß eine Berufswahl gerade deswegen kein Kinderspiel sei, weil sie nur ein begrenztes Fehler- und Irrtumsrecht kennt. In seinem Lebensrückblick schreibt Conrad: »Einem Engländer wie diesem begegnet man nicht zweimal im Leben. Konnte es sein, daß er in der mystischen Ordnung irdischer Dinge wie ein Abgesandter meiner Zukunft ausgeschickt war, um vor den Gipfeln des Berner Oberlands, die stumme und feierliche Zeugen abgaben, in einem kritischen Augenblick hoch oben auf dem Alpenpaß auf eine Entscheidung Einfluß zu nehmen? Sein Blick und sein Lächeln, der unverdrossene und komische Eifer in seiner vorwärtsstrebenden Erschei­nung ermöglichten es mir, mich zusammenzuraffen …«
Eine geheime Magie scheint von diesem Augenblick ausgegangen zu sein, der sich auch der Hauslehrer nicht verschließen kann. Ihm wird klar, daß er getan hat, was er tun konnte; an guten Argumenten fehlte es nicht, aber der Weg, den sein Schüler gehen muß, ist nicht mit guten Argumenten gepflastert; er führt in unwegsames Gelände, in dem man sich jeden Tag neu entdecken und beweisen muß. Die eigentliche Entscheidung ist eine Wiederholungstat; aus den Wechselfällen des Lebens gebiert sie sich, ein ums andere Mal, neu, geht in wechselnde Ansprüche und Antworten ein und erweist sich, da es keine endgültigen Beglaubigungen gibt, als unverzichtbar für jede Welt- und Selbsterfahrung: »Der enthusiastische betagte Engländer war vorübergezogen … Wäre von einem solchen Dasein am Ende meines Lebens Befriedigung für mein Streben, meine Ehre und mein Gewissen zu erwarten? Die Frage mußte ohne Antwort bleiben. Aber ich hatte nicht mehr das Gefühl, erdrückt zu werden. Wir sahen einander in die Augen, und seine wie auch meine verrieten aufrichtige Bewegung. Damit hatten unsere Diskussionen ein Ende … Unbeschwert plaudernd begannen wir den Abstieg vom Furkapaß. Auf den Tag genau elf Jahre später schritt ich die Stufen von St. Katherine-Dockhaus in Tower Hill hinab, das Kapitänspatent der Britischen Handelsmarine in der Tasche.«
Als alles entschieden ist, geht es seinen Gang. Der siebzehnjährige Joseph Conrad wird Seemann. Er beginnt als Schiffsjunge, wird dann Steward, arbeitet sich zum Steuermann und Offizier empor; eine Karriere, die keineswegs reibungslos verläuft und herbe Rückschläge bringt. Reichtümer sind an Bord nicht zu verdienen, und der Umgang mit Geld ist ohnehin nicht seine Stärke. Onkel Tadeusz hilft mit finanziellen Zuwendungen; er drängt darauf, daß sein Neffe das Kapitänspatent anstrebt und sich um die britische Staatsbürgerschaft bemühen soll. England ist ein solides Land, meint Tadeusz Bobrowski; es hat Tradition, bietet Rechtssicherheit, und seine Sprache ist die Sprache der Welt. Dazu paßt ein weiterer unspektakulärer Wink des Schicksals; im Mittelmeer wird Joseph Conrad eines Schiffes ansichtig, das ihm, vor weit gespanntem Himmel, ein Zeichen setzt: »Ich sah sie plötzlich hoch am Mast im Fahrtwind wehen. Die Red Ensign, die englische Flagge! Der breite rote Streifen leuchtete in der durchsichtigen fahlen Luft, die die braune und graue Masse dieses südlichen Landes, die schimmernden Inseln, das mattblaue, gläserne Wasser unter dem matten gläsernen Himmel überzog, wurde kleiner und war bald so winzig wie der rote Funke, den die Widerspiegelung eines mächtigen Feuers im klaren Herzen einer Kristallkugel entzündet. Die englische rote Flagge – ein Stück Kattun, symbolisch, schützend und warm, das über allen Meeren weht und so viele Jahre lang das einzige Dach über meinem Kopf sein sollte.«
Am 19. August wird Józef Teodor Konrad Korzeniowski bri­tischer Staatsbürger; drei Monate ist er britischer Kapitän. Ins­gesamt fährt er zwanzig Jahre zur See, die sich, im Blick zurück,
als Lehr- und Herrenjahre einer Schriftstellerexistenz lesen lassen, für die schließlich der Name Joseph Conrad steht. Auch die Berufung zum Schriftsteller vollzieht sich auf untergründigem Gelände; lange ist der angehende Autor, der seine Ideen schon im Kopf hat, literarisch untätig, was auch an der beruflichen Belastung liegen mag, die ihm an Bord zugemutet wird. An seinem ersten Roman Almayers Wahn, der 1894 erscheint, schreibt er fünf Jahre; das Manuskript, in dem jede Zeile hart erkämpft werden will, begleitet ihn auf seinen Reisen. Eines Tages jedoch, der wiederum ein magischer Tag ist und in London spielt, gewinnt das Schreiben des Joseph Conrad Kraft und Gehalt; es macht sich frei, wird selbständig, sein Weg ist das Ziel: »Es war ein Herbsttag und die Luft wie ein Opal, ein verschleierter, leicht dunstiger Tag und doch leuchtend mit feurigen Flecken, die das Sonnenlicht auf
Dächer und Fenster jenseits des Platzes legte, dessen Bäume, der Blätter schon beraubt, aussahen, als seien sie mit einer Feder auf Seidenpapier gemalt. Es war einer jener Tage in London, die einen geheimnisvollen Charme und eine betörende Weichheit ausstrahlen. In Bessborough Gardens, so nah der Themse, war diese opal­artige Atmosphäre durchaus keine Seltenheit. Es gibt eigentlich keinen Grund, warum sie mir ausgerechnet von diesem Tag besonders deutlich in Erinnerung geblieben ist …«
Der Grund wird indes einsehbar, wenn die Zeit der Einsicht kommt; dann meint man das übergeordnete Ganze zu erkennen, das planvolle Spiel, das keiner Regeln bedarf, wohl aber der nachweislichen Resultate: »Nachträglich … scheint es mir einleuchtend wie das Mittagslicht, daß die Würfel in dem Augenblick gefallen waren, als ich in der Unschuld meines Herzens und in unglaub­licher Naivität die erste Manuskriptseite von Almayers Wahn beschrieben hatte. Es waren so etwa zweihundert Worte, und zweihundert Worte auf jeder Seite ist während der fünfzehn Jahre mei­nes Schriftstellerlebens immer mein Maß geblieben.«
In diesem seinem zweiten, dem Schriftsteller-Leben, hat der ehemalige Seefahrer Joseph Conrad noch viel zustande gebracht; seine englische Werkausgabe beläuft sich auf 22 Bände. Übermütig oder gar großspurig ist er deswegen nicht geworden, im Gegenteil; das Meer, auf dem er lange genug unterwegs war, lehrte ihn, die Schönheit zu sehen, die Angst und die Verlorenheit, und es brachte ihm eine Bescheidenheit bei, aus der sich manches Gute ableiten ließ, ein solides Selbstbewußtsein beispielsweise, Werktreue, Redlichkeit und die Anerkenntnis einer einzigartigen, alles übersteigenden Schöpfung: »Mir will es scheinen, als habe sie [die Schöpfung] einfach den Sinn, ein Schauspiel zu bieten, ein Schauspiel, dem man mit Ehrfurcht, Liebe, Anbetung oder Haß beiwohnen, das man aber ohne Verzweiflung über sich ergehen lassen sollte. Das Geschaute mag köstlich oder schmerzlich sein, den sittlichen Wert trägt es in sich selbst. Alles weitere ist unsere Sache – das Lachen, die Tränen, das Mitleid, die Entrüstung, die Gelassenheit eines gefestigten Herzens, die hemmungslose Wißbegierde eines scharfen Verstandes … Auf jede Regung des mit Leben erfüllten Weltalls, das sich in unserem Bewußtsein widerspiegelt, zu achten mag unsere Bestimmung auf Erden sein. Eine Bestimmung, bei der das Schicksal einzig unser Gewissen auf den Plan ruft, dieses Gewissen, dem eine Stimme gegeben ist, damit
es wahres Zeugnis ablege von dem sichtbaren Wunder, den quälenden Ängsten, der grenzenlosen Leidenschaft, der unendlichen Klarheit, dem erhabenen Gesetz und dem ewigen Geheimnis des großen Schauspiels.«
Die grandioseste aller Landschaften blieb für Joseph Conrad das Meer; wer es einmal gesehen und als Sinnbild der eigenen Existenz in sich aufgenommen hat, sieht das Meer auch dort, wo es von dunklen Landmassen abgeriegelt wird: »Unter uns breitete sich das Land aus, die großen Wälder, düster im Sonnenschein, wogend wie das Meer, mit den Glanzlichtern gewundener Ströme, den grauen Flecken der Dörfer, und hier und dort eine Lichtung wie ein Eiland des Lichts in den dunklen Wogen unabsehbarer Baumwipfel. Eine drückende Schwermut lag über dieser riesigen und eintönigen Landschaft; das Licht fiel darauf wie in einen
Abgrund. Das Land verschlang den Sonnenschein; nur in weiter Ferne, entlang der Küste, schien sich der leere Ozean, glatt und schimmernd in dem zarten Dunst, gleich einer Wand aus Stahl zum Himmel zu heben.« Aus dem Meer kam einst das Leben, und es lässt den Menschen demütig werden: »Das Boot flog dahin …, bis es plötzlich bei einer Biegung des Stroms war, als hätte eine große Hand einen schweren Vorhang fortgezogen, ein riesiges Portal aufgestoßen. Das Licht selber schien sich zu regen, der Himmel über uns weitete sich, ein fernes Raunen drang an unser Ohr, eine Frische umhüllte uns, beflügelte unsere Gedanken, unseren Puls, unsere Trauer – und vor uns sanken die Wälder zu dem dunkelblauen Kamm des Meeres nieder.« Die Sprache des Meeres bedarf keiner Übersetzung und keiner anmaßenden Deutung, was im übrigen auch für das Leben selbst gilt: Als Joseph Conrad, der mit Auskünften in eigener Sache eher sparsam umging, auf sein Werk zurückblickte, notierte er: »Wer mich gelesen hat, kennt meine Überzeugung, dass die Welt, die vergängliche Welt, auf einigen wenigen, sehr einfachen Gedanken ruht, Gedanken von einer solchen Einfachheit, dass sie so alt sein müssen wie die Berge. Sie ruht unter anderem sehr merklich auf dem Gedanken der Treue.« Auch seinem Werk hielt Conrad die Treue. Aus ihm bezog er schöpferische Zuversicht und das stille Glück einer Erschöpfung, das sich dann einstellt, wenn man glaubt, sein Bestes gegeben zu haben. An diesem Glück können wir noch immer teilhaben, denn Conrad möchte seinen Lesern ein Erlebnis bescheren, das so tragend und nachhaltig ist wie die Absichten seines Schreibens: »Einen Atemzug lang die mit irdischem Tun beschäftigten Hände innehalten zu lassen und die vom Fernliegenden gefesselten Menschen zu nötigen, für einen Moment die Augen auf Form und Farbe, Sonnenschein und Schatten der Umwelt zu richten, sie verweilen zu machen für einen Blick, einen Seufzer, für ein Lächeln – das ist das Ziel, schwierig, immer wieder schwindend und nur wenigen zu erreichen vergönnt. Doch zuweilen wird, dank Verdienst und Glück, selbst diese Aufgabe erfüllt. Und wenn sie erfüllt ist – siehe da, dann offenbart sich die ganze Wahrheit des Lebens: ein Augenblick der Vision, ein Seufzer, ein Lächeln – und die Rückkehr zu ewiger Ruhe.«