Mädchenleben oder Die Heiligsprechung

Legende

Autor:Martin Walser
Erscheinungsjahr:2019
Genre:Prosaband
Verlag:Rowohlt Verlag


Gelesen von Klaus Isele
"Kunst ist dazu da, alles schöner zu machen, als es ist", heißt es an einer Stelle dieses bezaubernden Buches. Kunst ist aber auch dazu da, etwas sichtbar zu machen, was im normalen Alltag keine besondere Aufmerksamkeit erregt und unbeachtet bleibt. Sirte Zürn ist so eine, ein Mädchen, das seine eigenen Wege geht und deshalb vom Vater nicht so gesehen wird, wie sie wirklich ist. Erst, als Sirte einen Absprung macht und verschwindet, beginnt sich ihr Vater Ludwig Zürn, unter anderem auch Immobilienhändler, Gedanken über sie zu machen. "Mädchenleben" ist ein poetischer Versuch, das Wesen des Mädchens Sirte nachzuzeichnen. Ein großer Verstehensversuch. Doch Verstehen ist schwierig... deshalb kommt Vater Zürn auf den Gedanken, seine Tochter heiligsprechen zu lassen. In dieses verzweifelt-mutige Unterfangen, zwischen Tochter und Vater einen Verbindungsfaden zu knüpfen, wird auch Zürns Untermieter, der Lehrer Anton Schweiger, einbezogen. Er wird ungewollt zum Protokollanten des Unternehmens Heiligsprechung. Eine Aufgabe, die ihn jedoch mehr und mehr in den Bann zieht. So notiert er etwa: "Ihr Dasein ist wie ein Blatt, das an einem windstillen Tag vom Baum zum Boden schwebt. Ungeschützter als sie kann man nicht sein." Oder: "Heruntergerufen, kam sie mit so glänzenden Augen, dass man sich gar nicht hinzuschauen traute."
Ja, wieder und immer wieder finden sich diese typisch-genialen Walser-Sätze, nach denen wir Leser so süchtig sind. Sätze, wie man selbst gerne mal einen zustande gebracht hätte, aber genau weiß, daß das nie gelingen wird, daß man nie über ein epigonenhaftes Nachahmen hinauskäme, daß solche Sätze nur dem großen Meister aus der Feder fließen. Und das ist auch gut so.
Einmal mehr ist Martin Walser ein großartiges Buch gelungen. Ein Buch über ein Mädchen, einen Vater, den Glauben, Gott, die Sprache. Ziemlich am Schluß des Buches faßt der Autor das Verhältnis von Gott und der Sprache wie folgt zusammen: "Die Sprache führt ganz von selbst zur Erschaffung von so etwas wie Gott. Gott ist wahrscheinlich das reinste Wort, das es gibt. Die pure Wortwörtlichkeit, das Sprachliche schlechthin. In Gott kommt die Sprache zu sich selbst. Das höchste Wesen, das wir haben, ist also aus Sprache."
Martin Walser hat ein vielschichtiges, tiefsinniges, mitunter grelles Töchter-Porträt geschaffen. Geschrieben für alle Töchter, alle Väter auf dieser Welt.
Man möchte einfach nicht aufhören, diese M-W-Sätze zu lesen. Ad plurimos libros, Martin!