„Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt.“

Autor:Sarah Kirsch / Christa Wolf
Erscheinungsjahr:2019
Genre:Prosaband
Verlag:Suhrkamp Verlag


Der Entwicklung zweier Schriftstellerinnen von internationalem Rang über einen Zeitraum von dreissig Jahren miterleben zu können, ist wahrlich ein Geschenk. Als Leserin lässt sich so nachvollziehen, wie sich ihr Verhältnis zur DDR in den Jahren wandelt, wie sie um ihre literarische Position kämpfen, wie ihr anfänglicher Glaube an die bessere Alternative, an eine solidarische Welt sich im Laufe der Zeit ändert, sie sich dabei im Gespräch austauschen und sich gegenseitig in ihrer Position bestärken. Neben dem Alltag, der bei Sarah Kirsch häufiger und oft in lockerem Alltagsdialekt daherkommt, wovon ihre 171 Briefe im Vergleich zu Wolfs 61 zeugen, bleibt Wolf näher am Politisch-Literarischen, wenngleich auch sie ihre Alltagserfahrungen mit Kindern, Garten oder Wohnungswechseln schildert. Vor allem beim Thema Männer ist Kirsch sehr direkt, schreibt offen über Fehlschläge, den Wahnsinn der Liebe („ ... es ist eine Schande, wie ich den K. liebe, da könnte ich Bomben werfen“); Wolfs Ton bleibt kontrolliert, dabei aber durchaus zuwendend, wenn Kirsch ihr erneut von Abschieden und neuen Lieben schreibt. Gemeinsam haben sie lange gegen den Vorwurf des Subjektivismus gekämpft und sich damit gegen die Doktrin des Sozialistischen Realismus gewehrt. Nach der Biermann-Ausweisung 1976 jedoch und dem vergeblichen Manifest dagegen, zu deren ErstunterzeichnerInnen beide gehörten, verliess Sarah Kirsch desillusioniert 1977 die DDR, während Christa Wolf blieb. Die Partei ordnete deren öffentliche Isolierung an und ließ sie von der Stasi überwachen. Wie die Briefe zeigen, wurde Wolf öfter wegen depressiver Zustände im Spital behandelt, gab aber im Gegensatz zu Kirsch die Hoffnung nie ganz auf. Diese Haltung schien sich im Herbst 1989 doch noch zu auszuzahlen, als sie an der Kundgebung am 4. November in Berlin das Wort ergriff. Vergeblich, wie man weiss. Kirsch, die die Entwicklung zunächst intensiv verfolgt und brieflich kommentiert („ ... stehe um 6 auf und hänge meine Löffel in die verschiedenen Sender ...“), schreibt nüchtern-schnoddrig dann im Frühjahr 1990: „Hätteste nicht ne gute Meinung von denen Menscher gehabt, dann wärste nun nicht enttäuscht.“
Bereits nach Kirschs Umzug in den 80er Jahren vom hektischen Westberlin in ein ländlich einsames Küstengebiet nähe Husum dünnt der Briefverkehr langsam aus, offenbar trennen die jeweilig anderen Erlebniswelten sie mehr als nur örtlich voneinander und lösen die einst enge Verbundenheit allmählich auf. Ihre unterschiedlichen Haltungen zu den Wende- Ereignissen kann die Freundschaft zwischen den Frauen nicht mehr überbrücken, als zusätzlich Gerüchte um Verrat schliesslich dazu führen, dass der Briefwechsel Anfang der 90er-Jahre abbricht. Zu der Zeit beginnt im deutschen Feuilleton das unsägliche Wolf-Bashing, vor dem sie in die USA ausweicht, um nicht daran zu zerbrechen.