Goldene Jahre

Autor:Arno Camenisch
Erscheinungsjahr:2020
Genre:Prosaband
Verlag:Engeler-Verlag


Besprochen von Klaus Isele
Statt "Goldene Jahre" könnte das neue Buch von Arno Camenisch auch "Legendäre Kiosk-Jahre" heißen. Denn ein Kiosk inclusive Zapfsäule und auf dem Dach mit einer der ersten und schönsten Leuchtreklamen des Kantons steht im Zentrum dieser Erinnerungssuada. Seit 1969 signalisiert die Leuchtreklame dem Graubündner Dorf, irgendwo in der Ecke Chur–Ilanz gelegen, ja dem ganzen Tal, daß Margrit und Rosa-Maria geöffnet haben, daß sie da sind für Verkäufe und Gespräche aller Art. Wie heißt es doch auf der zweiten Buchseite: "Solange die Reklame leuchtet, wird es auch uns geben, mhm. Pünktlich zur Mondlandung ist auch unsere Rakete gestartet, der schöne Kiosk, und seitdem hocken wir hier drin wie zwei Astronautinnen. Und Spass haben wir denn viel gehabt in unserer schönen Lunar Module …"
Die beiden inzwischen etwa 70-jährigen Damen erzählen in dem Buch über den Kaugummiumsatz im Wandel der Zeiten, über Kundenverluste infolge der Umfahrung, die üblichen Alltagsprobleme, Dreierkisten – auf der Straße und im Bett – , über das Gspüri für die falschen Momente im Leben, Elektrovelos, eiskalte Nächte wie in Sibirien, Moonboots, einen von Liebe besoffenen Pöstler, die mit unzähligen Flicken übersäte Dorfstraße, schwankende Benzinpreise. Sie schwärmen von dem Jahr, in dem die Tour de Suisse durchs Dorf kam, und erinnern sich: "Ja, gut, einen Franzosen hat es dann auf den Latz gehauen gleich hier vorne an der Strasse, der hat dann Tee mit Zitronenschnitzen probiert, während ihm das Rad gewechselt wurde, und sich auch noch schön bedankt für den feinen Tee. Also das war noch ein Netter, sagt die Rosa-Maria und nickt. Ja, diese Franzosen sind liebe Leute, sagt die Margrit, aber vielleicht war es auch ein Holländer, so genau wissen wir das nicht mehr, das müsste man nachschauen, der hiess jedenfalls etwas mit M, Merz oder Merks oder Merx oder so ähnlich, etwas in der Art, zum Vornamen jedenfalls Eddie, das weiss ich noch genau. Den hat man dann später noch öppa Mal im Fernsehen gesehen, wie er hier einen Pokal stemmte und dort auch wieder einen, also der muss eine ganze Sammlung an Pokalen zu Hause stehen haben, und immer dieses gelbe Libli dazu, das hat noch schick ausgesehen, ein feiner Bursche war das."
Daß die beiden Kiosk-Damen auf der Höhe der Zeit sind, beweisen sie im Lauf des Buches immer wieder. In ihrer Jugend haben sie ABBA-Songs, aber auch Pink Floyd gehört. Sie erzählen den Lesern von prominenten Besuchern des Kiosks (etwa einem Bundesrat), und in seltenen Momenten lassen sie durchblicken, dass sie in ihrem Leben auch die eine oder andere amouröse Affäre hatten. Zur Heirat hat es allerdings nicht gereicht. Arno Camenischs Buch mit dem maienhellgrünen Umschlag ist also eine Chronik von 50 Jahren Kioskgeschichte, Graubündner Geschichte, Schweizer Geschichte, ja sogar Menschheitsgeschichte. Es ist gespickt mit lebensphilosophischen Brocken, Regenbogenpresse-Informationen, Insiderwissen über das Dorfleben und Ausflügen in die Sport- und Zeitgeschichte. Manchmal hätte ich mir die Sätze etwas kürzer gewünscht, öfter mal einen Punkt statt eines Kommas, das zum nächsten, übernächsten und überübernächsten Satz weiterleitet.
Gerne hätte ich mich mal für eine Stunde an diesen legendären Graubündner Kiosk gestellt und mit den beiden charmanten Damen geplaudert. Während der Tank meines Porsches aufgefüllt würde (auf Porsche stehen die beiden nämlich), hätten sie mir einen Gratiskaffee serviert und mir vielleicht noch mal erzählt, wie im Winter die Autos von ortsunkundigen Fahrern aus der 90-Grad-Kurve rutschen und gegen die Mauer rauschen (sehr zur Freude des Dorfmechanikers). Oder von dem Tag, an dem der Kiosk bis zum Dach zugeschneit war und sie den Giacasepp mit seiner schönen Schneefräse aus dem Bett klingeln mußten. Ja, wer so lange einen Kiosk betreibt wie Margrit und Rosa-Maria, der hat eine Menge zu erzählen. Wohl dem, der sein Leben in einem nun in die Literaturgeschichte eingegangenen Kiosk verbracht hat – mit einer Leuchtreklame auf dem Dach, die wie das ewige Liechtli in der Kirche in die Welt hinaus scheint. Was früher die Kirchen waren, sind heute vielleicht die Kioske...