Das Jagdgewehr

Autor:Yasushi Inoue
Erscheinungsjahr:1984
Genre:Prosaband
Verlag:Suhrkamp Verlag


Rezensiert von Martha Götz
Da wird einer, der Autor ist, von einem ehemaligen Klassenkameraden gefragt, ob er für eine Jagdzeitschrift, das Organ des „Japanischen Jäger-Clubs“, ein kleines Gedicht beitragen könne. Der Autor tut ihm mit diesem Auftragsgedicht den Gefallen, auch wenn er mit Jagen überhaupt nichts im Sinn hat, ja dem sogar eher ablehnend gegenüber steht. Erst als das Gedicht mit dem Titel „Das Jagdgewehr“ in der geringauflagigen Zeitschrift irgendwo an unauffälliger Stelle abgedruckt worden ist, wird ihm, dem Ich-Erzähler von Inoues Buch, bewusst, dass das Gedicht tatsächlich „trotz seines scheinbar passenden Titels überhaupt nicht in diese Zeitschrift hineingehörte und nur zu offensichtlich mit den dort häufig wiederholten Schlagworten ›Die hohe Kunst des Jagens‹, ›Sportgeist‹, ›Gesunde Liebhaberei‹ in nicht übersehbarem Widerspruch stand.“ Deshalb rechnete er damit, dass „nun ein oder zwei Mitglieder des Jäger-Clubs empört bei mir protestieren würden“, doch es kam schließlich „nicht eine einzige solche Reaktion“, und er nahm an und hoffte indirekt, dass „auch nicht einer von ihnen mein Gedicht gelesen hat“.
Nach etwa zwei Monaten erhält er aber von einem Unbekannten einen Brief. Der Absender erklärt, das Gedicht habe ihn so tief bewegt „wie kaum irgend etwas je zuvor“. Er bewundere zum ersten Mal in seinem „Leben die ungewöhnlich tiefe Einsicht eines Dichters“. Er sei sich sicher, der im Gedicht beschriebene Jäger mit der Flinte auf dem Rücken und den beiden Hunden zu sein. Er fühle sich durch den Dichter vollkommen erkannt, wie er „ruhig und kalt“ am Fuß eines Berges im Frühwinter dahinging: „Das schimmernd geputzte Jagdgewehr / drückt seine ganze Last / tief in Seele und Leib des einsamen Mannes / von mittleren Jahren, / strahlt eine seltsame, blutbefleckte Schönheit aus, / die, wenn das Gewehr auf Lebendes zielt, niemals erscheint.“
(Später erfahren wir übrigens, dass er mit dem Gewehr tatsächlich nicht nur auf lebende Tiere gezielt hat, sondern auch von hinten auf seine Frau). Als er damals am Fuß des besagten Berges entlangging, habe er zuvor drei Briefe erhalten, die er vernichten wollte, nun aber für den Dichter beigelegt habe, die dieser nach dem Lesen verbrennen möge. Die Briefe zeugen von einer verbotenen Liebesgeschichte, bei der die Ehefrau des Mannes von dessen Geliebter, nämlich ihrer Cousine, fast 15 Jahre lang, ohne dass es Ehemann und Geliebte ahnten, gewusst hatte. Als es herauskam, nahm sich die Geliebte das Leben, und die Ehefrau verliess ihren Mann.
In diesem knapp 100seitigen Büchlein der Bibliothek Suhrkamp ergibt sich also die eigentliche ausführliche Geschichte, die sich aus drei Briefen ableitet, aus einem Gedicht, welches damit die Einleitung, nein den Aufhänger für die Geschichte darstellt. Die geniale Idee, ein Auftragsgedicht mit Anti-Haltung zum eigentlichen Thema (Jagen) an den Beginn eines relativ kurzen Prosatextes zu setzen, ist außergewöhnlich, und das Gedicht muss in der Originalsprache Japanisch wunderbar ausgefeilt klingen. Dass sich der Protagonist, der sich in dem Gedicht zufälligerweise wiedererkennt, bei dem Dichter meldet, ist ein weiterer poetischer Schachzug von Yasushi Inoue. Diese Einleitung hat auch die Funktion, die Geschichte und den Autor als authentisch und in der zurückhaltenden schnörkellosen Weise als ebenso wahrhaftig wie eindringlich zu etablieren.
Das Gedicht zeigt große Wirkung und wie groß die Wirkung eines kurzen Textes, eines Gedichts, sein kann. In seinem Buch „Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik“ hat Heinz Schlaffer u.a. aufgezeigt, welche Funktionen, Formen und Versionen Gedichte aufweisen als eine „apart geformte Ausnahme von der üblichen Art zu reden und zu schreiben“. Gleich in der Einleitung konstatiert er: „Gedichte sind leicht zu erkennen, aber schwer zu begreifen.“ „Wer ein Gedicht interpretiert, bezieht Laute, Verse, Wörter und mögliche Bedeutungen aufeinander, behandelt es also als eine einzige, geschlossen komponierte Metapher. Dieses sinnstiftende Verfahren wird selbst dann angewandt, wenn kein einziges Wort im Text zweifelsfrei als Metapher zu identifizieren ist.“ Weil das Gedicht „Das Jagdgewehr“ hier nicht in der Originalsprache vorliegt, entfällt bei der Interpretation eine Analyse der Laute, Reime und des Klangs. Wir können ganz beim Inhalt und den Wörtern selbst bleiben.
Im Gedicht sind wesentliche Schlüsselwörter enthalten, die sich auch in den drei Briefen wiederfinden, z.B. die Einsamkeit oder die Metapher „verödetes weißes Flußbett“. Interessant wäre es auch, die Funktion des Amagi-Berges zu untersuchen und natürlich nicht zuletzt, wie das Thema Lieben versus Geliebt-werden behandelt wird. Es kommt übrigens noch ein zweites Gedicht vor – in einem der Briefe der Ehefrau: „Wie geht es Dir? / Ob, wenn ich näherträte, / die hohe Stille um Dich / plötzlich zusammenbricht?“ Sie beschreibt darin ihren Mann als „Festung“.
Hochgradig poetisch, für heutige Lesende wahrscheinlich manchmal etwas pathetisch, liegt hier eine Prosakunst vor, die bis ins Kleinste geplant alle Elemente bewusst setzt. Dennoch wird uns vielleicht manches ein bisschen fremd bleiben, auch weil es aus einer anderen Kulturwelt stammt. –
Gedichte sagen mehr als viele Worte in wenigen Worten. In den Gedichtbänden von Gianni Kuhn sowie in den Interpretationen zur Lyrik dieses Schweizer Autors (erschienen in der Buchreihe „Porträt“) kann nachgelesen werden, wie nachdrückliche Lyrik entsteht – und es ist durchaus legitim, sie mit Weltliteratur zu vergleichen, denn hier wie dort zeigt sich der Dichter „reflektiert und besitzt eine fotografische Beobachtungsgabe (…) mit der Fähigkeit, Momente in ihrer Ursprünglichkeit zu erfassen (…) zu fokussieren, sachlich und dennoch lyrisch wiederzugeben“, eben dank der „ungewöhnlich tiefen Einsicht eines Dichters“.