Carl Spitteler: Dichter, Denker, Redner.
Eine Begegnung mit seinem Werk
Autor: | Stefanie Leuenberger, Philipp Theisohn und Peter von Matt (Hrsg.) |
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Erscheinungsjahr: | 2019 |
Genre: | Anthologie |
Verlag: | Nagel & Kimche |
Besprochen von Dominik Riedo
"Eine leuchtende, überwältigende Bilderfülle schlägt uns entgegen. Alles ist sichtbar, nicht nur die ungezählten Dinge und Götterwesen, sondern auch jene Welt, die uns als innere, unsichtbare gilt; seelische Regungen, Leidenschaften, alles nimmt körperliche Gestalt an."Was der Germanistik-Professor Emil Staiger hier so preist, müsste nicht zwangsläufig gut sein. Denn Staiger mochte meist eine biedere, bürgerliche Art von Literatur, die in vielen Fällen eher reaktionär war. So kam es 1966 nicht zufällig zum Zweiten Zürcher Literaturstreit zwischen Staiger und Max Frisch. Doch Carl Spitteler, um den es im Zitat geht, wurde zu Lebzeiten (1845-1924) und noch einige Jahrzehnte danach eben nicht bloss von Liebhabern der «klassischen Literatur» geschätzt, sondern auch (und sogar eher noch früher) von progressiven Kollegen und Literaturkritikern wie Carl Albert Loosli und Jonas Fränkel. Das könnte schon ein Phänomen für sich sein. Aber es wird erst recht eines, wenn man dann lernt, dass Spitteler vor allem nach 1945 ziemlich schnell einmal als verstaubter Autor galt und immer weniger gelesen wurde – und zwar wieder sowohl von den fortschrittlichen Literaturkennern wie aber auch von denen, die sonst dem Kanon zugetan waren.
Dabei hatte Staiger schon recht. Was Spitteler zum Beispiel in seinem Roman «Imago» (1906) macht, wie er da das Innenleben des Protagonisten mit reichem Figurenleben nach aussen projiziert, das hatte schon die psychoanalytische Schule um Sigmund Freud als aussergewöhnlich begriffen und ihre Zeitschrift für die Anwendung der Psychoanalyse auf die Geisteswissenschaften nach dem Roman benannt. Aber auch Spittelers Epen, wie etwa der «Olympische Frühling» (1900-1905; neue Fassung 1909; Spitteler erhielt für dieses, sein Hauptwerk, vor 101 Jahren den Literatur-Nobelpreis verliehen, was 2019 allenthalben pompös gefeiert worden ist), zeigen ihn als grossen Imaginierer: Das Epos ist voller lebhafter Figuren, die dem Lesenden eine bunte Welt vorführen, die wir heute der Fantasy-Literatur zuordnen könnten.
Dies macht auf jeden Fall Peter von Matt, emeritierter Professor der Universität Zürich und weit über die Landesgrenzen hinaus bekannter Literaturkritiker und -deuter. Vielleicht gelingt es ihm mit seinem Namen, Carl Spittelers Werk, das laut von Matt «ein nicht gehobener Schatz» darstellt, «derb und sinnlich, subtil und erkenntnistief, mit nichts Bekanntem zu vergleichen» (Vorwort aus dem hier rezensierten Buch), wieder bekannter zu machen. Denn laut von Matt kommt noch dazu, dass Spitteler nicht etwa veraltet sei: «Herausragend etwa der Text ‹Vom Volk›. Er analysiert scharfäugig, wie in der Politik mit dem Wort ‹Volk› umgegangen wird, und man stellt verblüfft fest, dass alles, was er aufdeckt, auch heute noch geschieht.»
Dass dies nicht etwa der einzige öffentlichkeitswirksame Text Spittelers war, den man bis heute lesen kann, wissen Literaturbeschlagene auch selbst, die sich vermutlich vor allem an «Unser Schweizer Standpunkt» (1914) erinnern werden, die Rede, in der Spitteler zu Beginn des Ersten Weltkriegs zur absoluten Neutralität aufrief, oder die Rede zum Gottfried-Keller-Jubiläum 1919, die als eine der besten von damals gilt.
Die Anthologie des Nagel & Kimche-Verlags, 2019 herausgegeben von Stefanie Leuenberger, Philipp Theisohn und eben Peter von Matt, macht sich nun anheischig, den Lesenden «eine Begegnung» mit dem Werk Spittelers zu verschaffen. Und tatsächlich trifft das zu weiten Teilen zu. Spitteler wird mit klug ausgewählten Texten aus seinen Wirkbereichen als Dichter, Denker und Redner vorgestellt. Als Hilfe zur Interpretation, oder um überhaupt ins Werk hineinzukommen, sind dem Buch neben dem Vorwort von Matts vier Einleitungen Stefanie Leuenbergers mitgegeben sowie ein Nachwort von Philipp Theisohn. Für den Kenner von Spittelers Werk ist dieses Nachwort das, was den Band richtig wertvoll macht. Theisohn breitet darin – gestützt darauf, wer Spittelers geistige Anverwandten sind – in aller Kürze so etwas wie eine Erklärung für des Dichters Kreativität aus und was ihn von anderen Literaten unterscheidet. Selbst dafür, warum er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts derart bekannt war, hat er Ansatzerklärungen, und warum diese Gründe in der zweiten Hälfte wegfielen. Überraschend auch die Auslegungen, dass gerade der Rückgriff in die Epenwelt das ist, was Spitteler heute wieder lesbar macht und modern – oder besser gesagt: überzeitlich. Doch die Genialität, wie Theisohn all das darlegt, wie er bei einem Gedicht wie «Die Mittagsfrau» (in der Anthologie auf Seite 297f.) den Zauber erklärt, den es ausübt, und wie er zur knappsten Fassung von Spittelers Poetologie kommt («Die Kunst kann und soll nicht erlösen – sondern die Welt aushalten»), das lese man am besten selbst nach.
Das Lesebuch bietet neben den klugen Beiträgen der drei Herausgeber den ganzen Roman «Imago», einige Erzählungen, Ausschnitte aus den Epen, Gedichte, Essays, einen Ausschnitt aus dem Werk «Der Gotthard» (1896) und zwei Reden.
Die einzigen drei kleineren Schwachpunkte sind das Fehlen eines Ausschnitts aus den wunderbaren Kindheitserinnerungen «Meine frühesten Erlebnisse» (1914), die vielleicht falsche Auswahl aus dem «Olympischen Frühling», obwohl doch Peter von Matt in seinem Vorwort Seite 8 auf einen schöneren Teil verweist, sowie die Einteilung des Buches in vier Abschnitte: Erzähler, Dichter, Denker, Politiker – obwohl es doch der Untertitel des Buches – Dichter, Denker, Redner – besser macht, da Spitteler sich eher als Dichter denn als Erzähler sah, und vor allem nicht als Politiker. Am Ende seines Lebens war er stolz darauf, zu sagen, er habe einzig mit der Rede «Unser Schweizer Standpunkt» sich politisch betätigt, sonst nie, geschweige denn sei er Politiker gewesen.
Dies alles aber wiegt wenig im Vergleich zum Umstand, dass sich drei wichtige Literaturkenner einem Werk annehmen, das droht, vergessen zu gehen, und dem zu wünschen bleibt, dass es wenigstens wieder vermehrt gelesen würde. Denn der «Welt den ‹Prometheus› [1880/1881 bzw. Neufassung 1924] schenken, und die Welt geht ihren Gang weiter, als ob nichts geschehen wäre, das ist furchtbar», meinte bereits Rilke.
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