Antonia

Tagebuch 1965-1966

Autor:Gabriella Zalapi
Erscheinungsjahr:2020
Genre:Roman
Verlag:Rotpunkt Verlag


Gelesen von Klaus Isele
Wie außen, so innen… Der sehr stilvolle und stimmige Umschlag führt den Leser/die Leserin hinein ins verstaubt-verstockte Palermo der 1960er Jahre. Hinein in Antonias kosmopolitische Familie, deren Wurzeln ebenso in Wien wie in London liegen und die im 19. Jahrhundert als Winzer in Sizilien zu Reichtum kam. Es hätte eine glückliche Familiengeschichte werden können, wenn nicht die Nazis und Faschisten an die Macht gekommen und die Familie in alle Winde zerstreut hätte. Der kunstsammelnde Großvater wird nach Brasilien verschlagen, ihre Mutter auf die Bahamas, und die Liste von Antonias Schul- resp. Internatorten ist lang: Innsbruck, Kitzbühl, Florenz, Genf, Nassau.
Ihre Flucht in die Heirat mit Franco erweist sich nach der Geburt des Sohnes Arturo schon bald als Sackgasse. In folgenden Sätzen beschreibt Antonia ihren Ehemann, ihre Ehe: »Franco mit seinem Priesterrücken bringt mich zur Verzweiflung. Ich ertrage ihn nicht mehr.« / »Meine Ehe ist nicht das, was ich mir erhoffte. Seit Arturos Geburt vor acht Jahren hat sich Francos Zuwendung abgenutzt. Er betrachtet sich morgens im Spiegel, zieht seinen Scheitel und seine Krawatte gerade und verabschiedet sich bestenfalls jeden zweiten Tag von mir, wenn er in die Kanzlei geht. Ich war so lächerlich naiv, als ich ihn geheiratet habe. Ich soll einfach nur gehorchen, das Haus in Ordnung halten und die Erziehung unseres Sohnes überwachen. Weiter nichts. Ich bin ihm unterworfen, verpflichtet.« / »Franco findet, ich soll Kochkurse besuchen, um mich zu beschäftigen. ›Du bist zu viel allein. Das bringt dich auf andere Gedanken, und vielleicht wirst du dann doch noch eine anständige Köchin und ordentliche Ehefrau.‹« / »Es gibt keinen Sauerstoff mehr zwischen ihm und mir. Es gibt keinen Ort, an dem wir unsere Gedanken, unsere Ideen, unsere Wünsche zusammenbringen können. Auch unsere Körper erregen einander nicht mehr. Ich habe Franco geheiratet, weil ich blind vor Verlangen war, geliebt zu werden. Ich habe mich getäuscht.«
Obwohl Antonias Tagebuch nur zwei Jahre dokumentiert, enthält das Buch die Lebensgeschichten von drei oder gar vier Frauen. Schicksalsreiches Frauenleben im 19. und 20. Jahrhundert. Auch die Lebensgeschichte von Antonias Mutter ist von der Zeitgeschichte geprägt worden und äußerst problematisch verlaufen. Das Verhältnis zur Tochter ist dauerhaft gestört. Als sie nach fünf Jahren ohne Kontakt zu Antonia zu deren Hochzeit anreist, begrüßt sie sie mit den Sätzen: »Meine arme Antonia. Du bist wirklich kein Anblick. Gott sei Dank hast du einen Ehemann gefunden.«
Zuspruch findet Antonia in den nachgelassenen Briefen, Fotos und Dokumenten ihrer Großmutter, Nonna. Die geliebte Großmuttter, die Antonia von der überforderten Mutter „übernommen“ hat. Einer der wenigen Lichtblicke in der Familiengeschichte.
Sie sind wenig glücklich, die Lebenslinien der Frauen in Antonias Familie. Und doch ist die Lektüre dieses Buches ein Genuss.
Bei Antonia dominiert das Allzeitgefühl der Einsamkeit, das ihr das Mark in den Knochen erstarren lässt. So ist dieses beeindruckende Buch denn auch nichts weniger als die schonungslose Vivisektion einer Ehe aus der Perspektive der Frau. Einer Frau, die als Jugendliche von ihrem Stiefvater regelmäßig missbraucht und dafür von der Familie verstossen wurde.
Bei soviel Unglück atmet der Leser erleichtert auf, als Antonia den einige Jahre jüngeren Fulvio kennenlernt. Mit Bangen und Hoffnung liest man den letzten Satz des Buches: »Wie macht man das, seinen Sohn und seinen Gatten mit Anstand verlassen? Ob ich Arturo einen Brief schreiben soll?«