Das meisterhafte Kinder-Gedicht



Von Wolfgang Brenneisen
Dieses Gedicht samt Interpretation hätte es beinahe in die legendäre FRANKFURTER ANTHOLOGIE geschafft. Die Chancen standen gut. Doch in letzter Sekunde, so müssen wir annehmen, schreckten die Nachlassverwalter von Marcel Reich-Ranicki vor der Tat zurück.


Unbekannter Dichter des 20. Jahrhunderts

Daß Ferd

daß Ferd hat
vir Beine
felt einer
dann fallt

*****

Hand aufs Herz – wären Sie nicht auch pikiert, ja schockiert, ausgerechnet solch ein Gedicht unter die Kleinodien der "Frankfurter Anthologie" eingereiht zu sehen? Ist das nicht formal ein schwerer Fall von Legasthenie und inhaltlich eine banale Aussage auf der Kippe zur Idiotie?
Gemach, geneigter Leser! Lassen Sie sich nicht von Äußerlichkeiten in die Irre führen. Der Autor, schätzungsweise sieben Jahre alt, ist durchaus mit dem siebenjährigen Mozart zu vergleichen, der bei Gott kein Idiot war und die Rechtschreibung ebenfalls mit der Nonchalance des Genies handhabte.
Bleiben wir bei den Fakten. Der Autor konstatiert einen phänomenologischen Befund: Vier Beine gut – drei Beine schlecht. Das scheint eine Platitüde zu sein. Aber Vorsicht! Versuchsweise könnte man ja dichten: „Der Melkschemel hat / drei Beine. / Fehlt eines, / fällt er um.“ Doch jeder nicht mit Blindheit Geschlagene wird sofort den ungeheuren Abstand zwischen dem Wort des Dichters und dem unbeholfenen Gestammel des Nachahmers erkennen. Die Zahl „vier“ ist der geniale Wurf und verrät, dass der Autor in der Nachfolge des weisen Konfuzius steht. Es geht um nichts Geringeres als die große, großartige Ordnung des Kosmos. Wie das Haus auf vier Pfosten, so ruhen Himmel und Erde auf den vier Säulen des Ewigen Gesetzes.
Nun aber der Geniestreich des modernen Konfuzianers: Als Sinnbild der Großen Ordnung wählt er ausgerechnet das Pferd und seine vier Beine! Das ist kühn, das ist genial, ja fast schon revolutionär. Doch wir können sicher sein, dass der Altmeister diese „Erfindung“ mit einem Kopfnicken gebilligt hätte. Dass eine Ordnung, die auf vier Beinen gegründet ist, auf dreien nicht bestehen kann, wird allen einleuchten. Jedes weitere Wort wäre zu viel.
Inhaltlich ist das Gedicht also ein Juwel – doch lässt die Form nicht sehr zu wünschen übrig? Mitnichten. Man mag einwenden, dass sich der Autor nicht einmal auf das Reimen versteht, denn in den Versausgängen schafft er allenfalls Assonanzen. Doch wieder mag ein kleiner Gestaltungsversuch Klarheit schaffen: „daß Ferd halt / vir Beiner / felt einer / dann fallt“. Nun sind zwar die Reime perfekt, aber wie kläglich wirkt das Ganze! Und bringt nicht der Dichter durch die Vermeidung korrekter Reime, durch die vermeintliche Unvollkommenheit gerade die Bedrohung der kosmischen Ordnung trefflich zum Ausdruck?
Meisterhaft ist übrigens auch die Handhabung des Versmaßes. Nach dem Auftakt drei muntere Daktylen, als würde das Pferdchen fröhlich durch die Landschaft galoppieren – bis es, plötzlich dreibeinig – plumps- „fallt“, also mit einer dumpfen, echolosen Hebung unwiderruflich in den Abgrund stürzt.
Nun geht Ihnen wahrscheinlich ein Licht auf: Auch die vermeintliche „Legasthenie“ hat ihren guten Sinn. „daß“, gleich am Anfang, mit dem scheinbar falschen scharfen s lässt unwillkürlich an die Schärfe einer möglichen Amputation denken. „Ferd“ – da fehlt sozusagen der Kopf, es wird also sehr subtil angedeutet, dass die Bedrohung der Ordnung von überall her erfolgen kann. „vir“ hat nur drei Buchstaben – na, dämmert es Ihnen? In dem angeblich falschen „felt“ ahnen wir auch ein schicksalhaftes „fällt“. Vielleicht fällt einer, nämlich ein Bösewicht, das wackere Pferdchen. Mit dem oberflächlich betrachtet inkorrekten „einer“ verweist der Dichter in Wahrheit auf den „Fuß“, das heißt, wenn auch nur der unterste, scheinbar geringfügigste Teil des Beines fehlt, kracht das Ganze zusammen. Und schließlich: Drückt nicht das stutzen machende „fallt“ den fatalen, abgrundtiefen Fall des kosmischen Urpferdes unübertrefflich aus? Eine grammatikalisches Subjekt braucht es da nicht mehr, denn es ist sozusagen alles im Eimer.
Wir verneigen uns in Ehrfurcht vor dem Meisterwerk des unbekannten kleinen Dichters und hoffen, dass es sein einziges Werk geblieben ist.