»Atme ein, atme aus«



Von Daniel Bürgin
Shinkokyū no hitsuyō oder »Atme ein, atme aus« ist der Name eines japanischen Films, der 2004 von Shinohara Tetsuo gedreht wurde. Man kann von diesen ruhigen Filmen oft mehr über Japan und seine Psyche lernen, als von den vielen schlauen Büchern, die überall in den Buchläden zum Kauf angeboten werden. Die Bücher befriedigen zwar die Klischees, aber nicht das Bedürfnis, in die Seele Japans hineinzublicken. Viele dieser japanischen Filme sind unspektakulär, sind Charakter- und Milieustudien, und die Ruhe der Handlungen steht in starkem Kontrast zur modernen Hektik des Tokioter Alltags. Natürlich gibt es auch die anderen Filme: Action, Thriller, Horror, Komödien … Im Westen kennt man Japan leider kaum für seine vielen stillen Filme. »Atme ein, atme aus« gehört in dieses Genre der unspektakulären Charakterstudien. Der Film spielt auf Okinawa, Japans südlichster Inselgruppe, und die aufgezeigten zwischenmenschlichen Beziehungen findet man auch in Tokio. Die Geschichte lebt von wenigen Worten, und auch die Gefühle tasten sich nur scheu zur Oberfläche, um Beziehungen zu bilden, die sich nicht offensichtlich zeigen. Es liegt viel Intimität in dieser zarten Darstellung von Emotionen, so ganz anders als in unserer westlichen Kultur, wo Selbstdarstellung und Selbstverwirklichung an vorder­ster Stelle zu stehen scheinen.
Akzeptanz und Selbstfindung ist das Thema. Es ist ein Film über Aussenseiter, über Menschen ausserhalb von Japans Alltagsgesellschaft und sozialer Norm. Es ist ein Film über sechs, später sieben, junge Erwachsene, drei Frauen und drei Männer, die sich einen Sommer lang bei einem alten Bauern, seiner Frau und einem Vorabereiter auf Okinawa verdingen. Der Farmer baut Zuckerrohr an. Zur Erntezeit stellt er fremde Hilfen ein, die ihm für Unterkunft, Essen und einen kleinen Lohn innerhalb von fünfunddreissig Tagen ein riesiges Feld mit Zucker­rohr abzuernten haben. Die Gruppe von zusammengewürfelten jungen Frauen und Männern ist der Grossstadt Tokio für einige Wochen, aus ganz unterschiedlichen Gründen, entflohen. Der ganze Film spielt sich während der harten Erntearbeit auf dem offenen Zuckerrohrfeld und abends beim Essen ab. Die ungewohnte harte körperliche Arbeit wäscht mit jedem Tag mehr den Grossstadtalltag und alle sozialen Schichten von den jungen Städtern ab, bis nur noch Menschen übrig bleiben, die sich nicht mehr hinter ihren Masken von Schein und Sein verstecken können.
Der Film beginnt mit der Ankunft der Gruppe beim Bauern und hört dort auf, wo, nach dem Abschied der Protagonisten, ein Jahr später sechs andere junge Menschen für die nächste Zuckerrohrernte ankommen. Die neue Gruppe wird mit den genau gleichen Worten vom alten Farmerehepaar und dem Vorarbeiter begrüsst wie ein Jahr zuvor die sechs Menschen, die man als Zuschauer durch den Film begleitet hat. Die Schlussszene ist eine genaue Wiederholung der Anfangsszene. Nur die sechs Städter, die ankommen, sind andere Menschen. Doch das alte Ehepaar, der Vorarbeiter, die Insel und das Zuckerrohrfeld bleiben unverändert. Einmal mehr entdecken wir darin das asiatische Konzept des ewigen Kreislaufs, nicht nur in der freien Natur, sondern auch in der menschlichen Existenz, wo Zeit nicht linear fliesst, sondern zirkular, immer wiederkehrend.
Von den sechs jungen Menschen, die der Betrachter durch den Film begleitet hatte, ging jeder wieder seinen Weg zurück in die Gesellschaft. Gestärkter, geläutert, durch die Entbehrungen und die harte Arbeit. Eine zarte Liebesgeschichte hatte sich, kaum bemerkbar, zwischen zweien von ihnen angebahnt, doch auch sie kehrten letztlich zurück, ohne dem Zuschauer eine klare Botschaft zu hinterlassen, ob sie sich, zurück im Alltag, wieder sehen würden. Der Film gibt keine Antworten, besitzt keine spezifische Aussage, ausser der, dass wir eingeladen werden, das Lebensrad, das sich vor unseren Augen dreht, zu beobachten. Es ist ein ewig japanisches Thema und zugleich das allgemeingültige Lebensthema von Anfang, Ende und Neu­beginn.
Die sechs jungen Frauen und Männer des Films, welche nach Okinawa gekommen sind, bewegen sich dort weitab von grossen Städten und ausserhalb von Japans restriktiver Gesellschaftsnorm. Das ungewöhnliche Umfeld setzt sie emotional, aber auch physisch, unter Stress. Die harte körperliche Arbeit, die Natur, der Entzug von Ablenkung durch die Medien und die Abwesenheit von jeglichem Luxus entreisst ihnen ihre Gesellschaftsmasken. Sie können sich nicht mehr vor sich selbst verstecken und müssen sich mit sich auseinandersetzen. Obwohl sie vor der Gesellschaft flüchten, bauen sie sich, ohne es zu bemerken, eine eigene neue Gesellschaft auf. Diese befindet sich zwar ausserhalb der Gesamtnorm, doch die Sechs schaffen sich unwillkürlich neue Normen.
Die Protagonisten von »Atme ein, atme aus« sind drop outs, welche sich auf Okinawa neu erschaffen. Ironischerweise bauen sie wieder eine Minigesellschaft und Regeln auf, in die sie sich eingliedern müssen. Der Unterschied zum gewohnten Umfeld liegt darin, dass sie einander nicht kennen und dass sie sich gegenseitig aufgrund ihrer Persönlichkeiten und Arbeitshaltung, und nicht anhand ihres sozialen Umfelds, einstufen. Der alte Bauer und seine Frau stellen das Alter Ego der Jugendlichen dar. Sie verkörpern die Weisheit, welche die jungen Städter lehrt, sich zu beugen und Gesetzmässigkeiten der Natur zu akzeptieren, weil sie unabänderbar sind. Die zwei Alten besitzen einen Ur­instinkt, der sie die Unabänderlichkeit im Lauf der Zeit akzeptieren lässt, weil sie im Widerstand dagegen zerbrechen würden. Dass gerade zwei alte Menschen diese ultimative Weisheit vermitteln, ist kein Zufall. Es ist Japans konfuzionistisches Gedankengut. Der Respekt vor dem Alter wurzelt immer noch tief, oder zumindest tiefer als in der hochmodernen disintegrierenden westlichen Gesellschaft.
Der Film enthüllt, wenn auch idealisiert, Japans Werte. Die jungen Grossstädter sind von ihrem eigenen kulturellen Erbe eingekleidet, Schicht um Schicht, als trügen sie viele Lagen schwerer seidener Kimonos, so wie Japans Frauen der alten Heian-Zeit. Und wie damals die Frauen das enorme Gewicht der vielen Seidenschichten mit Nonchalance tragen mussten, so tragen die sechs Japaner im Film die Normen und Regeln ihrer Gesellschaft. Erst auf Okinawa, bei der Zuckerrohrernte, können sie sich, wenn auch unter emotionellen Schwierigkeiten, »entkleiden«.
Mit der Polarisierung der Welt seit 9/11 könnte man glauben, dass intra-kulturelle Toleranz im kleinsten Bereich des Alltagslebens, im Umgang mit Familie, Freunden und Arbeitskollegen, um so wichtiger sein sollte. Doch auch in »Atme ein, atme aus« wird ausgegrenzt. Es geschieht dadurch, dass einer der Männer sich der Arbeit und dem abendlichen Gespräch beim gemeinsamen Nachtessen verweigert. Er lehnt die kleine Zwangsgesellschaft ab. Der Mann grenzt sich selber aus, weil er bereits zu Hause ein Ausgestossener der Gesellschaft ist und sich hier auf Okinawa zu verstecken sucht. Auf der Flucht vor den Zwängen der Gesellschaft flieht er vor sich selbst, und erst über das Ernten des Zuckerrohrs kann er sich am Ende selbst finden.
Das weite, offene Zuckerrohrfeld bildet den Hintergrund, vor dem sich der Film abspielt. Das Zuckerrohrfeld ist die eigentliche Hauptdarstellerin. Es ist ein Spiegel der japanischen Gesellschaft. Das grosse Feld und die Gesellschaft weichen nicht. Man muss mit ihnen zu leben wissen, oder man scheitert. Das Feld ist auch das Sinnbild des Lebens. Vor ihm spielen sich die kleinen menschlichen Tragödien ab. An ihm reiben sich die Erntenden geradezu im wörtlichen Sinn zuerst auf, und dann schleifen sie daran ihre Gesellschaftsnormen ab. Zu Beginn sieht das Feld jeden Tag gleich aus. Dann wird langsam das Verrinnen der Zeit sichtbar: Das Feld zieht sich allmählich vor den Menschen zurück. Das Zuckerrohr wird abgeerntet, und von der nackten Erde wird immer mehr sichtbar, bis das Feld am Ende des Films brach liegt. Ein Jahr später wird der Zyklus des Erntens mit anderen jungen Menschen wieder neu vollzogen. Das Feld mit seinen Wachstumszyklen wird zum Mass der Zeit. Nur die erntenden Menschen sind immer wieder andere. Und die Menschen, die sich im Jahreszyklus zur Ernte ablösen, harmonieren mit dem ewigen Kreislauf des Zuckerrohrfelds. Anfang und Ende sind unzertrennbar in­einander verschlungen, und somit existieren beide nicht.
Der Film endet, indem er von vorne beginnt, Wort für Wort, mit der Begrüssung der nächsten Generation von Helfern durch den alten Bauern. Doch die Gesichter der Ankömmlinge sind fremd. Nur Taira, der alte Bauer, seine Frau und der Vorarbeiter bleiben eine Konstante. Sie sind wie das ­Zuckerrohr ein Teil der Landschaft. Wie am Anfang des Films, wie vor einem Jahr, steigen die Neuangekommenen scherzend und lachend aus dem Minibus. Es ist die gleiche Anzahl von Frauen und Männern. Der Ablauf des Aussteigens, des Begrüssens durch den alten Taira und seine Frau, des Aufteilens der Schlafzimmer nach Geschlecht – alles ist identisch mit der ersten Szene des Films. Der Regisseur, Shinohara Tetsuo, hat exakt die gleichen Kameraeinstellungen gewählt. Und in einem Anfall von sentimentaler Nostalgie (nach eineinhalb Stunden Film) taste ich die Gesichter auf der Leinwand ab, in der Hoffnung, dass vielleicht zumindest eine Person zurückgekommen ist. Aber dem ist nicht so. Es ist nur meine eigene Sehnsucht nach einer Konstante. Es ist meine persönliche Erwartung, dass zumindest ein Mensch der gleiche sein sollte, um dem Film eine tiefere Bedeutung zu geben. Aber ich erkenne niemanden. Gerade das ist, so denke ich, die tiefere Bedeutung. Aber ich habe Schwierigkeiten, sie zu akzeptieren. Das ist Teil meiner Vorgeschichte und meines kulturellen Erbes.
»Atme ein, atme aus« hat ein Ende, das keines ist, und gleicht darin einer Kawabata-Novelle. Der Zuschauer, obwohl er für eine bestimmte Zeit das Leben der Protagonisten im Film geteilt hat und ihre Stärken und Schwächen, das Schöne und das Hässliche ihres Charakters gesehen hat, wird ohne eine Erklärung, ohne Antwort, zurückgelassen. Da es keine Antwort gibt, kann man sich vor der Verantwortung, selbst entscheiden zu müssen, was mit den sechs Frauen und Männern nach ihrer Rückkehr geschehen ist, nicht drücken. Dem Zuschauer ist nur eine Beobachterrolle zugeteilt, während der er die Sechs über einen bestimmten Zeitabschnitt begleiten darf. Jetzt, wo sich die Wege getrennt haben, sind wir Zuschauer Verlassene. Jene, mit denen wir im Film zusammen waren, sind antwortlos weitergezogen. Einige Kinogänger mögen über das Ende frustriert sein. Es ist wie eine Antiklimax. Es gibt keine Hollywood-Furore, keinen grossen Schlussknall, kein Happy End, keine überraschende Wendung. Es gibt nichts, und das Leben geht still weiter, die Nächsten kommen, und jetzt müssen wir Abschied nehmen. Der Zyklus des Lebens wird uns vor Augen geführt.
Ist man sich dessen erst einmal bewusst geworden, so merkt man, wie unterschiedlich und linear unser abendländisches Denken ist. In Japan findet man den anfangs- und endlosen Kreislauf auch im Alltagsleben immer wieder. Selbst im Grossstadtmoloch Tokio.
»Atme ein, atme aus« ist ein Film über uns. Darüber, dass wir uns selbst treu bleiben müssen, individuell in unserem Menschsein und trotzdem Teil einer Gesellschaft.
»Atme ein, atme aus.« Es ist Atemtechnik unter Stress, um sich wieder zu entspannen, um das akzeptieren zu können, was wir nicht zu ändern vermögen. Nichts ist besser, nichts ist schlechter. Das mag frustrierend erscheinen, aber im Universum unserer Existenz liegt auch ein Trost darin. Atme ein, atme aus! Die menschlichen Schwächen sind endlos und finden uns ewiglich.