Die einzige Konstante ist Wandel …

Wandel als Teil des japanischen Kulturguts



Von Daniel Bürgin
»Die einzige Konstante ist Wandel« lese ich auf dem Rücken des T-Shirts einer jungen Frau. Sie zeichnet gerade den linken Flügel des Ueno-Nationalmuseums ab. Es scheint ironisch, denn der Spruch auf ihrem T-Shirt ist dem, was sie zeichnet, entgegengesetzt: Die geometrische Genauigkeit des Gebäudes mit der Kuppel kontrastiert mit der Aussage auf dem T-Shirt. Die Architektur scheint unwandelbar konstant. Doch ich denke, dass sich eines Tages auch dieses Gebäude verändern wird. Irgendwann einmal. Wandel ist Eines und die Zeiteinheit, in welcher sich Wandel vollzieht, etwas Anderes.
Dennoch, Japan ist Wandel. Wandel ist Teil des japanischen Kulturguts. Wandel ist Tradition. Wandel spiegelt sich auch in dieser jungen Frau: Jeans, T-Shirt, leicht henna-gefärbte Haare. Sie sitzt geradezu buchstäblich im Vorgarten der japanischen Tradition, nämlich im Garten vor dem Tokioter Nationalmuseum, welches in Kunstform die hehre tausendjährige japanische Tradition hütet. Japan hat den Ruf, dass es sich nur langsam verändert und noch Traditionen pflegt, welche über Jahrhunderte hinweg gleich geblieben sind. Tausendjährige Kultur, scheinbar unwandelbar. Doch sieht man genau hin, findet man den Wandel überall. Wie gesagt, in Japan hat Wandel Tradition. Und die einzige Konstante im Leben ist ebenfalls Veränderung, wie sanft sie sich auch vollziehen mag. Wandel ist zudem auch oft Wiederholung in abgeänderter Form. Wiederholung ist Imitation. Auch das ist ein japanisches Kulturgut. Kopieren. In den siebziger Jahren war Japan dafür bekannt, dass es alles aus dem Westen kopierte. Im Stillen amüsierten wir Europäer uns darüber. Uns war, als fehlte die Kreativität; wir dachten, dass sie es nicht besser wüssten. Dann verbesserten die Japaner das Kopierte, brachten es zu neuen Höhen und liessen in vielen Bereichen die Originale hinter sich. Was wir nicht wussten, ist, dass das Kopieren eine alte japanische Tradition ist. Im japanischen Denken liegt nichts Anrüchi­ges darin. Traditionelle Muster und Techniken wurden über Jahrhunderte immer wieder kopiert und verbessert. Das ist vielleicht bei Porzellan am offensichtlichsten, wo man heute neu für die Kopie einer alten Schale den gleichen Preis wie für die Antiquität bezahlt, solange die handwerklich Qualität stimmt. Qualität, nicht Alter, bestimmt den Preis. Der Schüler lernt, indem er den Meister kopiert, bevor er seinen eigenen Stil entwickelt. Original und Kopie sind westliche Begriffe. Was zählt, sind Leistung und Qualität.
Das Mädchen misst mit einem langen Holzstab, den Arm ausgestreckt, die Höhe des Gebäudes und überträgt sie auf das Blatt. Der Kuppelbau wurde 1908 gegen Ende der Meiji-Zeit erbaut. Der eckige Hauptkomplex stammt aus der Showa-Zeit, 1937. Es war die Blütezeit des nationalistischen Gedankenguts. Dai-nippon, der in eine Katastrophe eskalierende Traum von »Grossjapan«. Das Hauptgebäude spiegelt den Zeitgeist wider. Gross, eckig und für die damalige Epoche modern japanisch. Das Dach blieb traditionell geschwungen, der Unterbau ist infiltriert von westlichem Einfluss. Es war wohl eine Selbstinszenierung. Ich vermute, damals sollte das Gebäude modern und Teil der elitären Welt sein, welche von den USA und den alten europäischen Kolonialmächten dominiert wurde. Zugleich war die Architektur selbstbewusst japanisch. Was befand sich hier, bevor das Museum gebaut wurde? Eine alte Samurai-Residenz? Tob­ten während der Wirren, dem Übergang von Edo- zur Meiji-Zeit, die Kämpfe von Ueno bis hierher? Ich weiss es nicht. Trotz der Menschenmengen und der Freizeitstimmung spüre ich unter meinen Füssen auch etwas Düsteres, Unbehagliches. Blut und Stimmen alter Schlachten des neunzehnten Jahrhunderts, als das fast dreihundertjährige Tokugawa-Regime gestürzt wurde und mit ihm die Edo-Zeit ihr Ende fand. Doch inzwischen steht dieses Gebäude aus dem letzten Jahrhundert hier. Gross, unabänderlich. Wandel. Wann wird es sich wandeln? Was wird ihm folgen? Wird es in fünfzig Jahren abgebrochen und macht einem grösseren und neueren Nationalmuseum Platz? Steht es morgen noch, oder bewegt der grosse Zitteraal namens Erdbeben gerade heute Nacht seinen Schwanz, erwacht aus seinen fast einhundert Jahren Schlaf und lässt verärgert die Erde lebendig werden, lässt sie ihren Mund aufreissen und dieses Gebäude verschlingen? Ich hoffe es nicht. Aber Wandel ist unser aller Schicksal.
Japan hat den Wandel verinnerlicht. Japan hat den Wandel japanisiert. Die heiligen Schreine von Ise sind vielleicht das beste Beispiel der Tradition des Wandels. Der Innere und der Äussere Schrein wurden in ihrer heutigen Form 690 erstellt. Die Entstehungslegenden gehen jedoch zwei­tausend Jahre zurück und datieren den Inneren Schrein auf das Jahr Vier vor unserer Zeitrechnung und den Äusseren auf das fünfte Jahrhundert. Der Innere Schrein wurde zu Ehren der Sonnengöttin Amaterasu, der Ahnherrin des heutigen Kaiserhauses, erstellt. Er soll eine der drei kaiserlichen Insignien beherbergen; den heiligen Spiegel der Sonnengöttin. Der Äussere Schrein ist der Reisgöttin toyouke gewidmet. Seit Anbeginn werden die zwei Schreine alle zwanzig Jahre abgerissen und identisch wieder aufgebaut. Das letzte Mal geschah es zum einundsechzigsten Mal am 2. Oktober 1993. Das nächste Jahr des Zyklus’ der Erneuerung wird 2013 sein. Kann es eine deutlichere Darstellung von der Tradition des Wandels geben?
Zwei Stunden später verlasse ich das Museum und spaziere hinter dem T-Shirt mit dem Aufdruck »Die einzige Konstante ist Wandel« vorbei. Ich werfe noch einmal einen Blick auf die Zeichnung. Sie hat sich verändert. Ich kann nun die ganze Struktur erkennen. Eine genaue Kopie des Gebäudes vor mir, reproduziert aus Bleistiftlinien. Ich gehe weiter, ohne stehen zu bleiben, und hoffe, dass das Endprodukt etwas von seiner strengen Starrheit verlieren und sich in ein farbiges, lebendiges Aquarell mit Menschen und Bäumen, welche sich vor dem Gebäude bewegen, verwandeln wird.