Wahlverwandtschaft: Ferdinand Hodlers »Niesen gesehen vom Heustrich« und der Berg Fuji



Von Daniel Bürgin
Die kantigen Felsgrate streben beinahe gleichmässig himmelwärts und treffen in einer messerscharfen Bergspitze aufeinander. Der Betrachter steht in weiter Distanz und blickt auf den dunklen Berg. Braune und dunkelgrüne Falten graben sich in seine Hänge. Dazwischen liegen nackte felsige Schratten. Noch eindrücklicher ist der Himmel, welcher den Berg mit einem ätherischen Blau und einem weissen Wolkenkranz einrahmt.
Der Berg nimmt nur etwa ein Drittel der Bildfläche ein. Darüber spannt sich grosszügig der blaue Himmel. Die weissen Schäfchenwolken bewegen sich am äusseren Rand des Bildes um den triangularen Gipfel. Selbst am unteren Bildrand steigen Wolken, vielleicht Nebel, hoch. Sie werden zum kreisrunden Prisma, welches einen respektvollen Blick auf den alleinstehenden Schweizer Berg Niesen erlaubt. Das Bild ist zentriert, voll Symmetrie. Der Gipfel des Niesens liegt im Bildmittelpunkt. Die Dominanz der freien Himmelsfläche erhöht den darunterliegenden Berg und reduziert gleichzeitig den Betrachter zum kleinen Lebewesen. Es ist eine stolze, ja göttlich anmutende Inszenierung.
Das Bild hängt zur Zeit in Tokios Bunkamura-Kunstmuseum. Noch für drei Wochen. Es handelt sich um Ferdinand Hodlers »Niesen, gesehen vom Heustrich«, gemalt 1910. Das Gemälde ist Teil einer temporären Ausstellung mit Bildern aus der Schweiz unter dem Motto »Alpine Luft: Schweizer Künstler inspiriert durch Berge«.*
Mehr als siebzig Prozent der Bodenfläche in der Schweiz und in Japan sind von Bergen bedeckt. Diese geografische Verwandtschaft war der Auslöser zur Ausstellung. Die Berge als gemeinsames Thema. Die Ausstellung in der Bunkamura reicht von Caspar Wolf, Hodler, Segantini und Gia­cometti bis hin zu Klee.
In Ferdinand Hodlers Bild verstecken sich noch mehr Parallelen zu Japan. Ich bin erstaunt, dass mich der schweizerische Niesen an Holzschnitte des Fuji, Japans heiligen Vulkan, erinnert. Es liegt an der zentralen Art der Darstellung, aber auch in der Farbgebung und am Malstil. Die Japaner stellen ihren verehrten Fuji oft erhaben und im Mittelpunkt dar. Ein Symbol des Nationalstolzes. Es gibt unzählige Holzschnitte und Bilder mit dem Fuji. Hodlers Niesen erinnert stark an die Holzschnitte der Edo-Periode und an Katsushikas Hokusai (1760-1849) berühmte »sechsunddreissig Ansichten vom Fuji«.
Die ätherische Farbgebung des blauen Himmels von Hodlers Gemälde könnte aus einem Bild Hokusais stammen. Hodlers Himmel um die Bergspitze leuchtet in einem helleren Blau als die übrige Fläche. Aus der Distanz gesehen erinnert mich die Farbgebung der blassen Himmelsflecke an jene auf Holzschnitten, wo sich die Struktur des Holzes oft auf dem Papier abzeichnet. Hodlers Wolken sind abstrakt, kringeln sich in einem Kranz, wie ein Heiligenschein, um den Berg. Es ist das gemeinsame Bestreben von Hodler und Hokusai, ihre Berge erhaben wirken zu lassen. Der Niesen wächst stolz gegen den Himmel. Er ist in der Ferne und doch im ständigen Bewusstsein des Betrachters. Die Berge haben die Schweiz und uns Schweizer seit Urzeiten geprägt, genau wie der Fuji, zwar singular, seit Urzeiten Japan und die Japaner geprägt hat. Hokusai hat dies noch extremer ausgedrückt, indem er sechsunddreissig verschiedene Ansichten des heiligen Berges gewählt hat. Ob aus der Distanz, eingebettet in eine Alltagsszene oder als Porträt, so wie Hodler den Niesen gemalt hat: Auf allen sechsunddreissig Bildern, ob nah oder fern, bleibt der Fuji immer erhaben und emotional distanziert.
Es fällt noch eine weitere Ähnlichkeit zwischen dem Niesen und dem Fuji auf. Es ist die Symmetrie der Hänge, welche gleichmässig zur Spitze aufsteigen. Sicher, die Spitze des Niesen ist messerscharf, und jene des Fuji ist ein flacher Vulkankegel, doch die Ähnlichkeit zwischen den langen aufsteigenden Berglinien bleibt frappant.
War Hodler, bewusst oder unbewusst, vom japanischen Holzschnitt beeinflusst? Ich kann es nicht beweisen. Aber es ist eine vergnügliche und mögliche Theorie. Der Gedanke ist gar nicht abwegig. Hodler ist vor allem für seine Landschaften und Gestalten aus dem Schweizer Alltags­leben bekannt. Er hatte sich jedoch gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts mit farbigen und geometrischen Figuren dem expressionistischen Aspekt seiner Arbeit ge­nähert. Der Expressionismus trat dem Impressionismus gegenüber, und damit war auch Van Gogh ein Vorläufer des Expressionismus. Bei meiner kleinen privaten Hypothese ist es nun nur noch ein kleiner Schritt zurück nach Japan, wo derzeit Hodlers Niesen ausgestellt ist. Die Maler des Impressionismus, vor allem Van Gogh und Monet, waren stark von den ukiyo-e, Japans Holzschnitten, beeinflusst. Beide Maler kannten und besassen japanische Holzdrucke, welche ab 1850 in Europa aufzutauchen begannen. Sie waren der europäischen Maltradition entgegengesetzt. Viele Impressionisten konnten sich mit den Farben und Formen der Holzschnitte identifizieren, und die japanische Wahl des Bildausschnitts und der Perspektive war für die damalige europäische Malerei eine Neuheit. Die ukiyo-e waren für das eigene Schaffen anregend. Henri de Toulouse-Lautrec ist ein weiterer Maler, dessen plakative Bilder stark von Japans Holzschnitten beeinflusst sind. Und 1887 kopierte Van Gogh in Öl zwei Holzschnitte Hiroshiges, eines anderen berühmten Meisters des Holzschnitts: die »Brücke im Regen« und der »blühende Pflaumenbaum«. Es sind freie Übersetzungen Van Goghs, in seinen eigenen Komplementärfarben. Die Ränder sind mit japanischen Schriftzeichen verziert, die auf Hiroshiges Holzdruck nicht existieren und die Van Gogh von irgendeiner Vorlage kopiert hatte. Einige Zeichen sind bedeutungslose Imitationen von Schriftzeichen, doch der linke Rand des »blühenden Pflaumenbaums« wurde von Van Gogh mit einer Adresse verziert, und der rechte Rand trägt unter anderem die Schriftzeichen für yoshiwara, das »lizenzierte Quartier«, dem Rotlichtdistrikt des alten Tokios.
Monets Bilder der japanischen Brücke, die in seinem Garten in Giverny steht und sich über den Seerosenteich spannt, sind weltberühmt. Es ist deshalb überhaupt nicht verwunderlich, dass japanische Firmen während der wirtschaftlichen Hausse der 1980er Jahre Höchstpreise für die Bilder Monets und Van Goghs zahlten. Die Impressionisten sind in Japan, auch beim breiten Publikum, äusserst beliebt und werden es immer bleiben. Es besteht eine Wahlverwandtschaft. In diesen Bildern offenbaren sich für die Japaner Resonanzen und Reflexionen zur eigenen Kultur. Affinität. Ferdinand Hodler musste davon gewusst haben. Ich kenne seine Biographie und künstlerischen Einflüsse zu wenig. Doch sein »Niesen gesehen vom Heustrich« fühlt sich in Tokio, trotz seines schweizerischen Namens und obwohl seinem Umfeld entrissen, sicher wohl und wird vom japanischen Publikum verstanden. In Hodlers Gemälde schlummert, bewusst oder unbewusst, eine Seelenverwandtschaft zu Japan.
Wunderbarerweise stehe ich, ein Schweizer in Japan, hier und betrachte das Bild eines Schweizers mit neuen Augen. Letztlich braucht es die Distanz zur eigenen Kultur, damit man sich selbst erkennen kann.

* »Alpine Luft: Schweizer Künstler, inspiriert durch Berge«: Die 2006 durchgeführte Ausstellung beinhaltete Leihgaben des Aargauer Kunsthaus, unter Leitung von Direktor Beat Wismer, und wurde zusammen­gestellt, um Schweizer Kunst in Japan bekannt zu machen.